Fehler, die es zu vermeiden gilt

Mangelhafte Kommunikation zwischen Arzt und Patient? Manchmal richtet sie mehr Schaden an als die Krankheit selbst

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Foto: Shutterstock
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Es handelt sich um ein wichtiges Thema, worüber jedoch nicht genug gesprochen wird. Auch unter Mitarbeitenden des Gesundheitswesens werden Informationen oft nur unvollständig ausgetauscht. Die Meinung von Annegret Hannawa, Professorin an der USI
von Valeria Camia

 

 

Seit einigen Jahren werden die Formulare für ärztliche Rezepte fast immer per Computer ausgefüllt und sind daher unmissverständlich – im Gegensatz zu früher, als handschriftlich ausgestellte Rezepte oft so gut wie unleserlich waren. Es ist allein der Kompetenz und der Geduld der Apothekerinnen und Apotheker zu verdanken, die die schwer entzifferbaren Handschriften buchstäblich übersetzen mussten, dass das Schlimmste verhindert werden konnte... Dies mag den einen oder anderen zum Schmunzeln bringen, doch in Wirklichkeit ist „unsichere“ medizinische Kommunikation ein äusserst umfangreiches Thema von grosser Tragweite. Es ist deshalb so umfangreich, weil es zahlreiche medizinische Praktiken betrifft: von der fehlerhaften Verabreichung von Therapien über unzureichende Gespräche im Operationssaal bis hin zu medizinischen Behandlungsfehlern, Verzögerungen, falschen Dosierungen oder Versäumnissen. Es handelt sich um ein sehr ernstes Problem, das nicht ignoriert werden darf, da zu viele Patientinnen und Patienten davon betroffen sind (mit zum Teil schwerwiegenden Folgen). Ausserdem ist das Thema von grosser wirtschaftlicher Bedeutung, da Fehler in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sowie zwischen Mitarbeitenden des Gesundheitswesens auch wirtschaftliche Konsequenzen haben können (z. B. die Notwendigkeit neuer Therapien oder Operationen, verlängerte Krankenhausaufenthalte usw.). Über all dies wird jedoch kaum gesprochen.

Eigentlich ist die Tatsache, dass die zwischenmenschliche medizinische Kommunikation eine grosse Herausforderung für die Sicherheit der Gesundheitsversorgung darstellt, zwar seit langem bekannt und war bereits in den 1980er und 1990er Jahren in der akademischen Literatur zu finden, wurde aber nie wirklich in den Vordergrund gestellt. Die Schweiz gehört jedenfalls zu jenen Ländern, die sich sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene am stärksten für die Patientensicherheit im medizinischen Bereich einsetzen (so fand beispielsweise am 23. und 24. Februar in Montreux der 5. Ministergipfel zur Patientensicherheit – Global Ministerial Summit on Patient Safety – statt). Darüber hinaus wurden verschiedene Kommunikationsmodelle vorgeschlagen, die dazu dienen sollen, den im Rahmen von Interaktionen im Gesundheitswesen vermittelten Informationsgehalt zu standardisieren, um einerseits Schäden vorzubeugen und andererseits die Kommunikation bei Schadensfällen zu optimieren.
Über dieses Thema (die Kommunikation bei Schadensfällen in Praxen oder Spitälern) wurde vor einigen Jahren unter anderem von der Università della Svizzera italiana (USI) dank der finanziellen Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds
eine Forschungsarbeit durchgeführt, in die eine grosse Gruppe an Patientinnen und Patienten eingeschlossen wurde und die zur Erarbeitung von Leitlinien für die Kommunikation medizinischer Fehler führte (Medical Error Disclosure Competence). Es hat sich insbesondere gezeigt, dass Patientinnen und Patienten nach einem Schadensfall unter anderem neben einer Haftungserklärung und einer Entschuldigung vonseiten des medizinischen Personals auch eine klare und ehrliche Schilderung der Ereignisse sowie eine Diskussion über die Entschädigungsmöglichkeiten erwarten. All dies erfordert ausserdem ein hohes Mass an Gefasstheit, Koordination, Effektivität und Empathie.

Ein weiteres Beispiel für die Kommunikation bei Schadensfällen umfasst das im Jahr 2017 ins Leben gerufene nationale Programm Speak-up, in dessen Rahmen nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch behandelnde Ärzte und Pflegekräfte aufgefordert werden, Situationen zu melden, die aufgrund mangelnder Kommunikation als nicht patientensicher empfunden werden. Über den Nutzen dieses Ansatzes gibt es jedoch, was die Behandlungssicherheit anbelangt, gegensätzliche empirische Belege. Eine kanadische Studie über die Wirksamkeit der „kollektiven Wachsamkeit“ (bzw. jenes Prozesses, bei dem Mitarbeitende des Gesundheitswesens potenzielle Fehler ihrer Kollegen erkennen und melden) weist beispielsweise auf das Risiko hin, dass die berufliche Verantwortung des Einzelnen geschmälert werden könnte, wenn man sich bei der Erkennung und Korrektur von Fehlern auf andere verlässt.

In der Tat gehen die meisten Studien und Programme, die darauf abzielen, Schadensfälle so weit wie möglich zu vermeiden, in eine andere Richtung. Eines der bekanntesten Projekte nennt sich TeamSTEPPS und wurde in den Vereinigten Staaten von der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) entwickelt. Dieses Projekt konzentriert sich im Hinblick auf die Optimierung der Leistung des medizinischen Teams auf vier Hauptaspekte: Leadership, Situationsüberwachung, gegenseitige Unterstützung und eine Kommunikation, die ein besonderes Augenmerk auf den Informationsaustausch bei der Patientenübergabe („Handoff“) legt. Die Kommunikation soll insbesondere in Fällen, in denen kritische Informationen mitgeteilt werden und die eine sofortige Reaktion erfordern, effektiv sein und alle Beteiligten – sowohl das medizinische Personal als auch den Patienten – einbeziehen. Bislang gibt es jedoch nur wenige Untersuchungen, die die Auswirkungen der im Rahmen des Projekts TeamSTEPPS vorgeschlagenen Kommunikation in der Praxis überprüft haben. Die erfolgreichste Studie, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, ergab jedenfalls einen Rückgang der Rate vermeidbarer unerwünschter Ereignisse um 30 Prozent.

Im Tessin befassen sich mehrere Forscherinnen und Forscher mit diesen Themen. Annegret Hannawaist eine der engagiertesten von ihnen und lehrt als ausserordentliche Professorin (so der Titel) für Gesundheitskommunikation an der Fakultät für Kommunikation, Kultur und Gesellschaft der USI und ist zudem Präsidentin des ISCOME (Global Institute for the Advancement of Communication Science in Healthcare). Ihre Studien beschäftigen sich insbesondere mit der „sicheren Kommunikation“, die auf fünf Kernkompetenzen basiert, welche unter dem Akronym SACCIA (Sufficiency, Accuracy, Clarity, Contextualization und Interpersonal Adaptation – auf Deutsch: Suffizienz, Richtigkeit, Klarheit, Kontextualisierung und zwischenmenschliche Anpassung) zusammengefasst werden. «Diese Kompetenzen – erklärt Hannawa gegenüber Ticino Scienza – umfassen alle verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen, die in entsprechender Quantität und Qualität die Wahrscheinlichkeit erhöhen, optimale und effektive Behandlungsergebnisse zu erzielen». Kurz gesagt, sie können dazu beitragen, kommunikationsbedingte medizinische Fehler zu vermeiden. Eine von Hannawa durchgeführte Studie aus dem Jahr 2022 hat gezeigt, dass nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch Mitarbeitende des Tessiner Gesundheitswesens eine sichere zwischenmenschliche Kommunikation als zentrales Element der „Versorgungsqualität“ betrachten. An dieser Studie nahmen neben einer Gruppe von Ärzten und Pflegekräften, Patientinnen und Patienten teil, die aus den Patientenregistern der ambulanten Versorgung aus dem Jahr 2018 der acht Regionalspitäler der italienischen Schweiz ausgewählt wurden.

Die Prävention von Patientenschäden sowie die weitere Förderung der medizinischen Sicherheit bleiben jedoch eine noch zu bewältigende Herausforderung. Eine Kommunikation, die darauf abzielt, medizinische Fehler zu vermeiden, erfordert für Hannawa mehr als nur die Fähigkeit, Nachrichten sicher und sprachlich korrekt zu übermitteln (in einer Umgebung, die nicht nur häufig durch ablenkende Geräusche, eine eingeschränkte Privatsphäre und Zeitdruck, sondern auch durch die psychische Belastung gekennzeichnet ist, buchstäblich auf das Leben und den Tod anderer zu wirken). Sie muss auch über den einfachen Informationsaustausch hinausgehen und zu einer umfassenden Kommunikation werden, nämlich zu einer Kommunikation, die zwischen Menschen stattfindet und die individuelle Komplexität und Geschichte berücksichtigt. Die Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren und sich in sie einzufühlen, muss jedoch trainiert werden. «Wir werden zwar geboren, um zu kommunizieren – so Hannawa –, haben aber nicht die angeborene Fähigkeit, gut zu kommunizieren».

Im medizinischen Bereich ist gute Kommunikation the elephant in the room, also der Elefant im Raum bzw. ein Thema, das, so offensichtlich und auffällig es auch sein mag, immer noch weitgehend ignoriert oder heruntergespielt wird. 

Hannawa ist trotzdem optimistisch und betont, dass eine sichere Kommunikation positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann, die so bedeutend sind wie fast alle Mittel der modernen Medizin zur Verlängerung der Lebensdauer. Die Forscherin ist aber auch Realistin: «Es braucht mehr als die von der wissenschaftlichen Forschung vorgeschlagenen theoretischen Modelle, um zu erreichen, dass die „sichere Kommunikation“ als grundlegendes Kriterium für eine „sichere Praxis“ mit dem Ziel der Schadensprävention angesehen wird», erklärt sie. «Es bedarf weiterer Anstrengungen, um zu gewährleisten, dass Wissenschaft und Regierungspolitik zusammenarbeiten».
Ein wichtiger Beitrag könnte darin bestehen, auf der Grundlage der neuesten Studien in diesem Bereich klare Leitlinien für das Gesundheitspersonal bereitzustellen.

 

 

 

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