UNIVERSITÄT

Lernen, viel Praxis im Krankenhaus, aber auch Sport (und See): Das Leben der Medizinstudenten

Samstag, 19. Juni 2021 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana

Positive Bilanz für das erste Jahr des neuen USI-Masterstudiengangs, trotz der Covid-Probleme. Die 48 Schüler konnten ihre Praxiserfahrungen im Krankenhaus fortsetzen. Personalisierter Unterricht wird angeboten
von Paolo Rossi Castelli

Montags Gruppenunterricht im Plenum (der einzige mit allen 48 Studenten des neuen Master-Studiengangs in Medizin der Università della Svizzera italiana). Dienstags und mittwochs Praxis im Krankenhaus. Donnerstags und freitags: Unterricht in Kleingruppen (15 Studenten) zu den «tragenden» Themen (Gynäkologie, Pädiatrie, Hämatologie) oder Kleinstgruppen (4 oder 5 Studenten) zu einzelnen klinischen Fällen. Darüber hinaus zahlreiche freiwillige Kurse, die jeder Student frei wählen kann. Das akademische Jahr, das in diesen Wochen zu Ende geht – das erste der «neuen Ära» der USI (auch mit den Kursen der Fakultät für biomedizinische Wissenschaften) – lief seit September 2020 trotz der Coronakrise superorganisiert bis zum 4. Juni. Das Programm war im Vergleich zu den anderen Schweizer Fakultäten etwas anders: Viel mehr Praxis und viel individueller wegen eines Verhältnisses zwischen Dozenten und Studenten, die keine andere eidgenössische (oder gar europäische) Universität zu bieten hat, und zwar 90 Dozenten für 48 Studenten. Alles ist neu (auch das Hörsaalgebäude), alles muss erprobt werden.

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«Ich bin froh, mich für einen vollkommen neuen Studiengang eingeschrieben zu haben – sagt Alessandra Pfister, die für die sozialen Medien des Verbands der Medizinstudenten der USI zuständig ist. –

Auch deshalb habe ich mich entschlossen, nach Lugano zu gehen: Wie vielen meiner Freunde und Kollegen gefiel mir die Idee, der Wegbereiter zu sein. Es war schön, sich in kleinen Gruppen mit interaktivem Unterricht zusammenzufinden». Sicher, für die Dozenten der USI, welche mit jeder Gruppe denselben Unterricht wiederholen müssen, ist das viel komplizierter.

An der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, wo Alessandra den Bachelor (also die ersten drei Jahre des Studiengangs) absolvierte, gab es 400 Biomedizinstudenten (und in Mailand, um einen Vergleich zu haben, an allen Universitäten insgesamt 3.000). «In Lugano gefällt es mir besser – so Alessandra weiter. – Hier kennt man sich gut. An der Technischen Hochschule war alles logischerweise anonymer». Wie wurden die Gruppen je 15 Studenten gebildet (die das ganze akademische Jahr über unverändert geblieben sind)? «Jeder hat seine Präferenzen angegeben, und die Entscheidung lag dann bei der Fakultät – so Alessandra weiter. – Ich dachte, es gäbe von uns aus einen Trend, die Gruppen nach der Herkunft zu bilden (zum Beispiel, alle, die den Bachelor in Basel absolviert hatten oder aus Zürich kamen), aber das war nicht der Fall. Es wurden Mischgruppen gebildet, die sich bewährt haben».

War der Umzug nach Lugano ein Schock, wenn man von jenseits der Alpen hierher kommt? «Finde ich nicht – meint Alessandra. – Schliesslich sind wir immer noch in der Schweiz! Auch wenn Italien wirklich sehr nah ist. Für die meisten war das schnelle Erlernen einer Fremdsprache das Schwierigste... Für mich eigentlich nicht, denn meine Oma ist Tessinerin, und seit ich klein bin, habe ich Italienisch gehört, auch wenn ich in Uetliburg, im Kanton Sankt Gallen, aufgewachsen bin. Auf alle Fälle waren die beiden wöchentlichen Praxistage im Krankenhaus, die (auch während der Pandemie) ununterbrochen stattgefunden haben, hilfreich, um schnellstmöglich Italienisch zu lernen: Wenn du mit den Patienten zu tun hast, musst du mit ihnen interagieren (und auch die Patienten selbst haben uns geholfen, uns besser auszudrücken). Und ausserdem hat uns die USI auch eine Reihe Sprachkurse angeboten. Der Unterricht hingegen fand sowieso auf Englisch statt, also kein Problem.

Der dreijährige Master-Studiengang in Medizin an der USI ist aus dem Schweizer Bedarf entstanden, die Kluft zwischen den rund zweitausend Ärzten, die jährlich in Pension gehen, und den rund tausend fertig ausgebildeten Nachwuchsärzten zu schmälern. Er leistet einen wichtigen Beitrag zum Erreichen der Ziele des Schweizer Bildungsstandards PROFILES, ein Akronym für Principal Relevant Objectives and Framework for Integrative Learning and Education in Switzerland. Mit anderen Worten, die medizinische Fakultät der USI unterliegt hinsichtlich der Ziele und Regeln den staatlichen Vorgaben. In der Praxis bedeutet das, dass die für den Master-Studiengang eingeschriebenen Studenten, die von den Partner-Universitäten ETH Zürich und Universität Basel kommen, zwei Arten Abschlusssexamen ablegen müssen: Zum einen die fakultätsinternen Examina, zum anderen die Staatsexamina (zu denen man nur zugelassen wird, nachdem man Erstere bestanden hat und welche die Voraussetzung für die Facharztausbildung und die Berufsausübung als Arzt darstellen). «Die Medizinstudenten der Università della Svizzera italiana – erklärt Fabrizio Barazzoni, der für die praktischen Staatsexamen für den Kanton Tessin zuständig ist – legen die Examina genau am gleichen Tag und zur gleichen Zeit wie ihre Kollegen an den anderen Fakultäten in der Schweiz ab».

Und wie wurden die Studenten, die (erstmalig) im Gefolge der Ärzte auf den Stationen zugegen waren, von den Patienten der Tessiner Krankenhäuser aufgenommen? «Vor dem Betreten der Zimmer haben die Ärzte stets um Erlaubnis gefragt und freundlich erklärt, dass es seit diesem Jahr das Medizinstudium an der USI gibt – erzählt Rahel Schmidt, Studentin des Masters – und wir haben nie ein „Nein“ bekommen. Ich glaube, für einige Kranke (vor allem für die Älteren) war unsere Präsenz sogar willkommen, denn mit uns konnten sie sich lange unterhalten und von ihren Problemen und Ereignissen in der Familie erzählen: Gespräche, die mit den Ärzten aus Zeitmangel meist nicht möglich sind. Ich hatte – so Rahel weiter – auch mit Patienten mit sehr schweren Problemen, zum Beispiel Leukämie, zu tun. Ich habe sie (selbstverständlich stets in Begleitung des behandelnden Arztes) untersucht, habe Lunge und Herz abgehört, mit ihnen die Ergebnisse der diagnostischen Untersuchungen angesehen. Dann habe ich darüber, auch über den Therapieverlauf, mit Krankenhauspersonal gesprochen. Eine für mich sehr wichtige Erfahrung! Ich war auch in der Gynäkologie und in anderen Abteilungen und sogar im OP, um den Chirurgen bei der Arbeit zuzusehen... Nach und nach werden sie mich dann immer mehr selbst machen lassen».

Nach dem organisatorischen Plan der USI ist der theoretische Teil des Medizinstudiums dem Bachelor-Studiengang vorbehalten, also den ersten drei Jahren, die wir alle 48 Studenten wie bereits erwähnt an anderen Schweizer Universitäten absolviert haben. Die letzten drei Jahre des Master-Studiengangs im Tessin (nur sie werden bisher an der USI angeboten) konzentrieren sich hingegen nur auf einige wichtige Bereiche der Theorie. Der Rest ist Praxis... «Dieses System gefällt mir – sagt Rahel. – Was man im Krankenhaus sieht und erlebt, prägt man sich viel besser ein». Bestätigt eine weitere Studentin, Alessia D’Alto: «Durch die Arbeit in Kleingruppen, sowohl in der Klinik als auch im Unterricht, ist der Lerneffekt viel grösser».

Wie aber ist das soziale Leben dieser Studenten nach dem Unterricht am Campus est in Viganello und den Übungen im Krankenhaus (in Lugano, aber auch in Bellinzona, Locarno und Mendrisio)? Manche von ihnen teilen sich eine Wohnung (zu sicherlich erschwinglicheren Preisen als in Genf, Lausanne oder Zürich). Durch die Coronavorschriften waren sie aber alle monatelang zu einem Leben in starker Isolation gezwungen, zumal ja auch unter anderem auch Bars und Restaurants geschlossen waren. Viele Studenten zogen es vor, ein paar Tage pro Woche in ihre Heimatstädte zurückzukehren, um dem Unterricht, der bis Ende April (?) online stattfand, von dort aus beizuwohnen. Dienstags und mittwochs mussten allerdings alle im Tessin bei den Übungen im Krankenhaus sein. Ein fester «Präsenztermin», der mit allen medizinischen Vorsichtsmassnahmen versehen war, um die Patienten nicht zu gefährden. «Der Distanzunterricht hatte auch seine Vorteile, – kommentiert Alessia D’Alto – da wir uns die Stunden beliebig oft anhören konnten. Was nicht heisst, dass wir nicht unter der Isolation und ihren negativen Auswirkungen auf die Psyche zu leiden hatten. Zum Glück konnten wir den praktischen Unterricht im Unterschied zu den anderen Universitäten fortsetzen und, da wir nur kleine Gruppen sind, auch schon bald zum Präsenzunterricht wechseln, sobald es die Gesetzesvorschriften zuliessen».

Allerdings bieten Lugano und Umgebung viele Orte im Freien und mitten in der Natur, die man auch in den schwierigsten Momenten der vergangenen Monate nutzen konnte. «Das Grün und Blau der Berge, der Seen und Flüsse im Kanton, die warme Sonne der Schweizer Sonnenstube sind sicherlich ein weiterer guter Grund, um das Medizinstudium an der USI abzuschliessen», kommentiert Rahel Schmidt, die gerne Sport treibt. Schade nur, meint Rudolf Kaelin, auch er ein Master-Student, dass es an der Seepromenade des Parco Ciani keine Grillplätze gibt: «Das ist komisch, – sagt er – wenn man an Grillabende überall am Wasser gewohnt ist...». Auch Rudolf treibt gerne Sport und findet Lugano in dieser Hinsicht attraktiv. «Der Sportservice der USI ist engagiert, organisiert Kurse und verfügt über gute Strukturen, – erklärt er – auch wenn die Coronakrise monatelang fast alles blockiert hat».

Der einzige wirkliche Schwachpunkt für viele Studenten aus der deutschen Schweiz ist die übermässige Automobildichte, zum Nachteil des Fahrrads, und ein öffentlicher

Nahverkehr, der unter dem Mangel an eigenen Fahrstreifen und selbstverständlich unter dem Mangel der Trambahn, die in Städten wie Zürich und Basel so wichtig und effizient ist, zu leiden hat. «Zwei Mal habe ich den Zug verpasst, – erklärt Alessandra Pfister – weil die Busse im Verkehr steckten und ich zu spät zum Bahnhof kam. In Zürich kommt so etwas gar nicht vor, da die Trambahnen ihre eigenen Fahrstreifen haben». Rahel Schmidt ergänzt: «Es gibt zu viel Verkehr mit erheblichen Risiken für Fahrradfahrer und wenige Fussgängerstrassen. Ich finde, das muss sich ändern. Davon abgesehen ist Lugano sehr schön, wie übrigens der ganze Tessin. Und die Leute sind viel offener».

 Von dem übermässigen Autoverkehr abgesehen (der sicherlich nicht von der Universität abhängt), ist die Gesamtbilanz des ersten Master-Jahres positiv. Ein Jahr, das im vergangenen September vor der Aufnahme des Unterrichtsbetriebs mit einer dreitägigen Willkommensfeier der USI im Nationalen Jugendsportzentrum Tenero, am Lago Maggiore, eingeläutet wurde. «Ein toller Augenblick – erinnert sich Rahel. – Die Universität war um gegenseitiges Kennenlernen bemüht, hat den Kursbetrieb detailliert erklärt und die Professoren haben sogar ein Barbecue vorbereitet ... Abendliches Beisammensein, und tagsüber Baden im See. Super!». Im kommenden September wird auch der Verband der Medizinstudenten (kurz SMUSI) eine Willkommensveranstaltung für die Neuankömmlinge im Tessin organisieren...

(In Kooperation mit Valeria Camia)