Zum ersten Mal rein virtuell der internationale Kongress von Lugano über maligne Lymphome
Angesichts der Anti-Covid-Massnahmen sahen sich die Veranstalter der International Conference on Malignant Lymphoma gezwungen, auf eine rein digitale Veranstaltung auszuweichen. Normalerweise waren ca. 4.000 Personen anwesend. Die Meinung von Franco Cavallivon Paolo Rossi Castelli
Zum ersten Mal seit 40 Jahren wird der internationale Kongress über maligne Lymphome (ICML), die wichtigste wissenschaftliche Veranstaltung des Tessins, die in Lugano vom 18. bis 22. Juni stattfinden wird, ausschliesslich virtuell ausgetragen. Die Auswirkungen der Pandemie haben die Arbeit der Veranstalter von Ereignissen, die wie dieses mit grossem Vorlauf geplant werden müssen, erheblich erschwert. Im Fall der ICML, die im Zweijahresrhythmus stattfindet, beginnen die Vorbereitungen für die neue Ausgabe bereits unmittelbar im Anschluss an die letzte... Und die letzten, sehr anstrengenden und von den Anti-Covid-Massnahmen «blockierten» Monate haben es verhindert, dass die Organisatoren, allen voran Franco Cavalli, seit jeher die Seele des Kongresses, nach ihrem üblichen Muster vorgehen konnten: Das heisst das Sammeln der Anmeldungen von Ärzten, Biologen und Forschern aus aller Welt (vor zwei Jahren waren knapp 4.000 Leute angereist), die persönlich nach Lugano kommen möchten, um der ICML beizuwohnen, gilt sie doch also eine der wichtigsten Veranstaltungen auf internationaler Ebene über maligne Lymphome (Tumoren, die ihren Ursprung im Lymphsystem haben). Da niemand wusste, wie sich die Pandemie entwickeln würde und welche behördlichen Vorschriften gelten würden, hat sich das Organisationskomitee schweren Herzens für einen reinen Online-Kongress entschieden, was auch mit erheblichen wirtschaftlichen Einbussen einhergeht (schliesslich sind die Teilnahmegebühren trotz hoher Kosten viel niedriger als bei der traditionellen Form, wo sie auch Mittagessen, Aufenthalt in der Kongresshalle und Teilnahme an anderen Aktivitäten beinhalten). Auch die Beherbergungs- und Tourismusbetriebe in Lugano verlieren eine wichtige Einnahmequelle, zumal mindestens die Hälfte der Teilnehmer der vergangenen Ausgaben einen Angehörigen oder Begleiter mitbrachte, sodass man auf 5.500-6.000 Personen kam. Nicht schlecht für eine Stadt mit 70.000 Einwohnern, 3.200 Hotelzimmern und 6.000 Hotelbetten.
Also ein notwendigerweise virtueller Kongress...
«Ja, die ICML (wir sind bereits bei der sechzehnten Ausgabe) wird online über vier digitale Kanäle ablaufen, die zeitgleich aktiv sind und live über ebensoviele Regieräume „gesteuert“ werden, die sich physisch in der Kongresshalle in Lugano befinden – antwortet Cavalli. – Jede Sitzung hat live einen „Chairman“ (der aus ganz verschiedenen, auch weit voneinander entfernt liegenden Städten, z.B. New York oder Peking zugeschaltet ist), und die virtuellen Teilnehmer der Vorträge werden Fragen senden können. Viele Autoren werden online sein, um zu antworten, aber ein Grossteil der Vorträge wird nicht in Echtzeit stattfinden (es werden Aufzeichnungen ausgestrahlt, um eine Überlagerung kompliziert zu steuernder Live-Schaltungen zu vermeiden)».
Und wie schaffen Sie es, die verschiedenen Zeitzonen unter einen Hut zu bekommen?
«Das ist tatsächlich ein sehr schwieriges Problem (eines von vielen…). Bei den vergangenen Ausgaben begann die Kongressarbeit täglich um 8 Uhr und endete gegen 20 Uhr. Auf diese Weise hatten wir Raum für eine Vielzahl an Veranstaltungen, Vorträgen, Treffen. Um 8 Uhr morgens aber haben wir in Kalifornien 23 Uhr und in New York 2 Uhr nachts. Also haben wir beschlossen, um 13 Uhr zu beginnen, also zu einer Uhrzeit, die zumindest für einen Teil der USA und auch für Fernost, wo es bereits Abend, Nacht ist, in Ordnung geht. Im Gegenzug reduzieren sich die Betriebszeiten des Kongresses auf 6-7 Stunden pro Tag. Da kann man sich vorstellen, wie schwierig es wird, das ganze Material unterzubringen...»
Trotz der Schwierigkeiten haben Sie dennoch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten erhalten, die während des Kongresses vorgestellt werden
«Dieses Jahr sind knapp 600 Arbeiten eingegangen: Etwas weniger als normalerweise, aber seit Corona war das auch bei den anderen Kongressen der Fall. Vor allem, weil die Anzahl der klinischen, also der direkt am Patienten durchgeführten Studien zurückgegangen ist. Das ist, wie wir wissen, auf die einschneidenden Änderungen in den Krankenhausabläufen, die sich in den letzten Monaten in erster Linie auf die Behandlung von Covid konzentrierten, zurückzuführen. Auf jeden Fall ist das Niveau der Studien (insbesondere der Laborstudien) immer noch sehr hoch».
Aus welchen Ländern kam die stärkste Beteiligung?
«Auch bei dieser Ausgabe stammt der grösste Anteil aus den USA: 25 Prozent der Abstracts (also der Zusammenfassung der wissenschaftlichen Arbeiten) trägt die „Marke“ USA. An zweiter Stelle stehen die Chinesen. Das ist eine Neuheit der letzten 15 Jahren (und kam früher nicht vor). Und die Qualität der Abstracts steigt immer weiter».
Und wie erfolgt die Auswahl?
«Wir nehmen keine Studien an, die bereits in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Wer sich zu unserem Kongress zuschaltet, soll wirkliche Neuigkeiten vorfinden. Wir haben das eingesandte Material einer sehr strengen Auswahl unterzogen. Nur ca. 18% wurden für mündliche Präsentationen angenommen. 30% werden über Poster verbreitet, weitere 40% werden nur in den Kongressunterlagen erscheinen. Der Rest wurde abgelehnt».
Wer trifft die Entscheidungen?
«Es gibt ein „Advisory Board“ (ein Beratungsgremium), das aus rund dreissig Personen verschiedener Nationalitäten besteht. Mit ihm haben wir die Haupt-Lektüren ausgewählt (die man „key lectures“ nennt) sowie den Forscher, dem wir die Kaplan lecture zuteilen in Verbindung mit dem ICML Prize, einer Anerkennung für besonders bedeutende Ergebnisse, die in der Erforschung und Behandlung der Lymphome erreicht wurden. Das Advisory Board hat auch die Leitthemen des Kongresses festgelegt. Dann hat ein lokales Organisationskomitee, dem auch ich angehörte, alle Abstracts gelesen (jedes Abstract wurde mindestens an 4 externe Revisoren geschickt), woraus sich eine Art Endvotum ergab. Basierend auf dieser Bewertung wurden die Abstracts ausgewählt, die in den verschiedenen Formaten auf den Kongress gebracht werden».
Wird von dieser digitalen «Revolution» etwas bei den nächsten Ausgaben des Kongresses erhalten bleiben?
«Vielleicht behalten wir den Online-Modus neben der Präsenzveranstaltung auch in zwei Jahren bei, indem wir den ganzen Kongress auszeichnen und ihn jenen, die nicht nach Lugano kommen können, zur Verfügung stellen. In diesem Fall würden wir – für die digitale Version – eine deutlich niedrigere Anmeldegebühr verlangen. Bereits in diesem Jahr haben wir von den Personen, die aus Ländern mit niedrigem Einkommen kommen, nur ein Drittel der Gebühr verlangt».
Aus wissenschaftlicher Sicht, welche sind die heissesten Themen?
«Die spontane Antwort lautet: Die CAR-T Cells (Zellen des Immunsystems, die Patienten entnommen und im Labor gentechnisch verstärkt werden, Anm. d. Red.). Wir sind mittlerweile in der zweiten, dritten Generation, und die Daten bestätigen die Wirksamkeit dieses Therapietyps.
Ausserdem gibt es eine wichtige Studie der Columbia University über einige Entdeckungen von Riccardo Dalla Favera bezüglich der „Mutterzelle“, welche die Basis mancher Lymphomtypen bildet.
Und schliesslich die Rolle der PET, der Positronen-Emissions-Tomographie: Bereits vor zwei Jahren hatte man gesehen, dass die besonders fortschrittliche Nutzung dieses Diagnosegeräts zu besonders präzisen und aussagekräftigen Ergebnissen führen konnte. Nun wurde bestätigt, dass mit der PET auch die Therapien für bestimmte Lymphomtypen personalisiert werden können, und zwar für die besonders aggressiven „Non-Hodgkin“-Typen (was früher nicht gelang)».
Eine Bilanz für die Heilung der malignen Lymphome?
«Der Fortschritt geht weiter, mit immer besseren Ergebnissen. Neben den bereits erwähnten CAR-T Cells kommt grosse Hoffnung auch seitens der sogenannten bispezifischen Antikörper: die mit besonders fortgeschrittenen Techniken hergestellten monoklonalen Antikörper sind in der Lage, sowohl die T- als auch die B-Lymphozyten, die krebserregend wurden, „zu fangen“. Im Zuge dieser forcierten „Umarmung“ werden die B-Lymphozyten von den T-Lymphozyten vernichtet. Eigentlich werden die bispezifischen Antikörper bereits seit 6 oder 7 Jahren verwendet, aber die ersten wiesen eine hohe Toxizität auf. Heute kann man besser mit ihnen umgehen (es laufen verschiedene Untersuchungen). Wenn ich auf eine Therapie für die Zukunft wetten müsste, dann würde ich auf sie setzen...»
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Foto von Franco Cavalli von Marian Duven