Szenarien

Die Zukunft? Ein nationales Zentrum im Tessin, das die Verflechtungenzwischen Alterung und Krebs untersucht

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Andrea Alimonti (Foto von Alfio Tommasini)
Andrea Alimonti (Foto von Alfio Tommasini)

Interview mit Andrea Alimonti, Dozent an der USI und an der ETH, ab 1. Januar 2024 zum Leiter des Onkologischen Forschungsinstituts (IOR) ernannt. Das Hemmen der Zellseneszenz wird auch dazu beitragen, Tumore besser zu bekämpfen
von Paolo Rossi Castelli

Die Alterung des Organismus hemmen, bevor sie Tumoren, einer „Störung“ des Immunsystems und einem Übermass an chronischen Entzündungen und unwirksamen Reaktionen auf Infektionen Tür und Tor öffnet (alle Probleme, die eng mit dem Fortschreiten des Alters zusammenhängen). In den Vereinigten Staaten wird dieses Thema, vielmehr dieser ideologisch-wissenschaftliche Ansatz als sehr wichtig empfunden, und es gibt zahlreiche Forschungsgruppen, die sich auf hohem Niveau und mit enormen finanziellen Mitteln damit befassen (z. B. durch die Entwicklung „senolytischer“ Medikamente, die zur Beseitigung gealterter Zellen führen). In Europa hingegen neigen wir immer noch dazu, die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Krankheiten zu richten, ohne auf den grossen Behälter (Alterung, eben) einzugehen, in dem sie sich befinden. Wir müssen einen Sprung nach vorne machen, und das Tessin könnte dafür der richtige Ort sein.
So denkt Andrea Alimonti, ein international anerkannter Wissenschaftler und Pionier der Studien zur Zellseneszenz (insbesondere im Zusammenhang mit Prostatakrebs), sowie ab dem 1. Januar 2024 der neue Leiter des Onkologischen Forschungsinstituts (IOR
Istituto Oncologico di Ricerca) in Bellinzona. 

Also ist das Altern auch in unserem Kanton mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln zu untersuchen und vorzubeugen, mehr als dies bereits jetzt der Fall ist...

«Ja, biologische Prozesse müssen gehemmt werden, bevor sie zu Krebs und vielen Immunkrankheiten führen antwortet Alimonti. Mit anderen Worten, müssen wir von der Behandlung der negativen Symptome, die durch das Altern und die damit verbundenen Krankheiten verursacht werden, zu den biologischen Mechanismen übergehen, die ihnen zugrunde liegen. Nur so können wir die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhen und gleichzeitig auch die Lebensqualität verbessern, und das Paradox überwinden, das immer offensichtlicher wird: Der Medizin ist es in den reichsten Ländern der Welt gelungen, die durchschnittliche Lebenserwartung auf über 80 Jahre zu verlängern (und nicht nur auf 50, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fall war), in vielen Fällen wurde dieses Ergebnis jedoch durch die Chronifizierung von Krankheiten erreicht, so dass nicht nur das Leben, sondern auch das Leiden und die damit verbundenen Probleme verlängert wurden. Wir müssen Besseres erzielen!».

Warum hängen Altern und Krebs oder sogar Autoimmunerkrankungen so eng zusammen?

«Weil insbesondere im Falle von Tumoren, Altern und Krebs zwei Seiten desselben Phänomens sind. Ich versuche es schnell zu erklären: In unserer DNA kommt es täglich zu Mutationen/Fehlern, die grösstenteils repariert werden, sich aber in sehr geringem Umfang im Laufe der Jahre ansammeln (Mutationen, ausgelöst durch Substanzen, die wir essen und einatmen, oder durch giftige Substanzen, Rauch, Alkohol, elektromagnetische Wellen, Strahlungen und vieles mehr). Wenn sich diese Schäden in den Teilen unseres genetischen Codes ansammeln, die die Vervielfältigung oder den programmierten Zelltod (in der Fachsprache Apoptose) steuern, kann eine tumorbedingte Veränderung ausgelöst werden. Wenn sich die Schäden hingegen in anderen Bereichen der DNA konzentrieren, kommt es global zu dem, was wir Alterung nennen».

Die Zellseneszenz ist also zu hemmen, solang dies noch möglich ist. Angesichts der grossen Anzahl unterschiedlicher Elemente (genetischen und umweltbedingten Ursprungs), die an diesem unaufhaltsamen „Weg“ beteiligt sind, scheint dies jedoch kein leichtes Unterfangen zu sein...

«Natürlich ist es das nicht, aber einige interessante Wege wurden bereits erschlossen, und die grossen Fortschritte in der Molekularbiologie, der Gentechnik, den Systemen der künstlichen Intelligenz in den Biowissenschaften und anderen neuen Forschungsbereichen werden uns dabei helfen können. Was man jedoch braucht, ist der Wille, dieses Paradigma anzuwenden, und dann braucht man natürlich auch die Finanzmittel und... auch den Raum für die Labore. Am IOR wird sich die Situation stark ändern, und wir werden erst in etwa 6 Jahren für das neue Paradigma bereit sein, wenn wir den neuen Sitz neben dem aktuellen Gebäude von Bios+ (der Vereinigung zwischen IOR und IRB) in der Via Francesco Chiesa 5 in Bellinzona haben werden».

Wenn Sie neue Medikamente oder andere Therapien finden, die das Altern stark hemmen können, wie können Sie die Wirkung dann auf greifbare, wissenschaftliche und standardisierbare Weise messen? Es wird Jahrzehnte dauern...

«Das stimmt, dies ist eines der Probleme, die die Studien zur Seneszenz und zu den Möglichkeiten, sie zu hemmen, begleiten. Die Menschen müssen über lange Zeiträume beobachtet werden, aber wir können auch andere, schnellere Parameter verwenden: Beispielsweise Entzündungsmarker (die mit einfachen Blutuntersuchungen gemessen werden können), oder DNA-Methylierung: Eine komplexe Reihe chemischer Reaktionen, die es ermöglichen, in gewisser Hinsicht, das tatsächliche biologische Alter (nicht das chronologische bzw. kalendarische Alter) jedes Menschen zu beurteilen. Und dazu gibt es auch andere „Marker“ (zum Beispiel die Untersuchung bestimmter Besonderheiten der Muskulatur), um zu verstehen, wie der Alterungsprozess voranschreitet».

Aber wie Sie sagten, können diese grossen Herausforderungen für das IOR erst in den nächsten Jahren beginnen...

«Ja, wenn der neue Sitz fertiggestellt ist, können wir grosse internationale Namen rekrutieren, die diese Art von Forschung durchführen, und sie davon überzeugen, zu uns zu kommen. Im neuen Gebäude wird es Platz für 5 neue Gruppen geben, die sich zu den derzeit 8 (bald 9) gesellen und insgesamt 150-200 Mitarbeiter umfassen werden. Die Idee ist die, im Tessin ein Kompetenzzentrum zu diesen Themen zu schaffen, gemeinsam mit dem IRB und anderen Tessiner und Schweizer Instituten, die uns auf unserem Weg begleiten möchten, indem wir uns für die vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) bewerben: Es handelt sich um wissenschaftliche „Konsortien“, wenn wir diesen Begriff verwenden wollen, die in sehr innovativen Sektoren gegründet wurden. Es gibt bereits einige in verschiedenen Bereichen der Medizin, die sogar mit enormen Summen, rund 20 Millionen Franken, finanziert werden. Wir können uns bewerben, um ein Zentrum von nationaler Bedeutung für die „Verflechtungen“ zwischen Alterung, Krebs und Immunologie, einschliesslich der damit verbundenen Therapien, zu werden. Das wird die Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sein und unsere Art „einzigartig“ zu sein».

Sie möchten also nach neuen Handlungsspielräumen suchen, die über die herkömmliche onkologische Forschung hinausgehen, wo das IOR bereits auf einem hervorragenden Niveau ist (wo jedoch auch eine starke Konkurrenz mit anderen Schweizer Zentren, etwa denen in Lausanne und Genf, besteht...)

«Genau. Gemeinsam mit dem IRB wurde bereits die Entscheidung getroffen, uns in Zukunft verstärkt auf dem Gebiet des Alterns zu profilieren, wobei der Schwerpunkt beim IOR auf der Onkologie und beim IRB auf der Immunologie liegt. Es ist aber auch wahr, dass Onkologie und Immunologie zunehmend miteinander verflochten zu sein scheinen, auch im Hinblick auf Therapien. Man denke nur an die sogenannten CAR-T-Zellen gegen bestimmte Tumorarten (es handelt sich um T-Lymphozyten des Patienten, die durch gentechnische Verfahren so verändert werden, dass sie wirksamer gegen Krebs wirken) oder an monoklonale Antikörper. In Erwartung eines Anrufs der Eidgenossenschaft für die NFS-Finanzmittel, der in den nächsten Jahren eintreffen wird, beginnen wir bereits mit der Umsetzung».

Wäre es nicht besser früher oder später zu einer Fusion zwischen IOR und IRB zu kommen?

«Nein, die beiden Institute verfügen über unterschiedliche Finanzierungsquellen und arbeiten über die Vereinigung Bios+ bereits sehr gut zusammen. Es ist richtig, dass sich jedes Institut nach dem Vorbild der französischen und deutschen Schweiz immer mehr auf seinen Sektor spezialisiert und stärkt, jedoch auf gemeinsame Ziele hinarbeitet».