wissenschaftliche veröffentlichung

Wiedereröffnung des Ideatorio mit neuen Antworten auf die «Stolpersteine» des Geistes

Montag, 8. Juni 2020 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Das Ideatorio in Cadro
Das Ideatorio in Cadro

Nach dem Lockdown die Ausstellung «Imperfetto» am Sitz in Cadro. «Wir möchten die Neugier und das Staunen, die den Menschen angesichts der Natur erfassen, lebendig halten», erklärt der Koordinator Giovanni Pellegri
von Agnese Codignola

Es gibt eine Mission, an welcher der Università della Svizzera italiana (USI) ganz besonders gelegen ist: Die Förderung des Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Nicht nur, weil die Bürger häufig dazu aufgerufen sind, sich zu Themen mit wissenschaftlichen Aspekten zu äussern, sondern weil die Wissenschaft in einer weiteren Sicht auch Kultur, Zusammentreffen, Dialog und Fortschritt bedeutet. Deshalb ist es unerlässlich, dass alle lernen, das wissenschaftliche Denken zu verstehen und sich zu eigen zu machen.

Bis vor wenigen Jahren hätte man dieses Mandat schematisch umgesetzt, mit wissenschaftlichen Informationen, die auch für Leute «verdaulich» waren, die keine spezifische Bildung hatten. Das heisst vereinfachte Informationen, denn das war die richtige und wohl auch einzige Weise – so dachte man –, um jedermann an die grossen Fragen der Wissenschaft und der Technologie anzunähern. Dann aber ist etwas geschehen, was in der ganzen wissenschaftlichen Gemeinschaft und darüber hinaus zum Nachdenken angeregt hat: Das Nein zum Referendum über Eingriffe am Genom aller Art, die von der Schweizer Bevölkerung als etwas Negatives wahrgenommen wurden, ungeachtet der Art des Vorgangs und des Zwecks, mit schwerwiegenden Folgen für die gesamte Wissenschaft. Damals – Anfang der 2000er Jahre – wurde deutlich, dass es andere Tools brauchte und man sich auf teilweise unbekanntes, aber freies und vor allem gemeinschaftliches Terrain begeben musste. Der Ansatz brauchte also eine radikale Änderung.

Zu den Förderern der Innovationen, die aus dieser Krise entstanden, gehörte Giovanni Pellegri, Absolvent in Biologie der Wissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne, Doktorat in Neurobiologie an derselben Universität (Fakultät für Medizin) und eine lange Karriere an der USI, im Forschungsservice, mit einer wichtigen Errungenschaft nach der anderen: 2005 die Gründung des Ideatorio als natürliche Entwicklung seines Auftrags von 2004 als regionaler Koordinator, ebenfalls an der USI, von Science et Cité, dem Zentrum der Akademien der Wissenschaften Schweiz, das sich mit dem Dialog zwischen der Wissenschaft und den Bürgern befasst.

Schau in die Galerie Schau in die Galerie Giovanni Pellegri, Leiter des Ideatorio Schau in die Galerie (8 foto)

Pellegri erklärt: «Wissenschaftliche Themen zu verstehen bedeutet heute nicht, die Details eines gewissen Themas zu kennen, denn diesbezüglich kann man sich auf die beinahe unendliche Menge an Informationen verlassen, die man im Netz findet. Was uns bei Science et Cité und am Ideatorio hingegen stets inspiriert hat, ist eine ganz andere Idee: Die Neugier und das Staunen, die den Menschen angesichts der Natur erfassen, und dieses wunderbare Gefühl, wenn man ihre Funktionsweise und ihre Erscheinungen versteht, aufrecht zu erhalten. Anstatt auf den rationalen Teil des Gehirns zu setzen, der die Informationen speichert, rücken wir den emotionalen Aspekt in den Vordergrund, der Fragen, Reflexionen, Zweifel, Gefühle hervorruft. Eigentlich – so Pellegri weiter – wird ein Bürger ohne wissenschaftliche Bildung nie eine wahre technische Kompetenz erlangen, aber das ist sein gutes Recht: Es ist ja schliesslich nicht seine Aufgabe. Hingegen hat er ein Anrecht auf eine reife Reflexion, geboren aus dem Wunsch, die Welt der Wissenschaft zu verstehen und mit ihr in Dialog zu treten. Das kann man sehr gut an Kindern beobachten: Wenn wir versuchen, ihnen die Begriffe sozusagen zu verabreichen, dann erhalten wir recht schwache Ergebnisse. Wenn wir aber an Neugier und Staunen ansetzen, dann haben wir ihre absolute Aufmerksamkeit und aus ihren Gedanken kommt etwas stets Neues und Einmaliges hervor, ein wahrer Schatz, auch für uns Erwachsene».

Als Beispiel beruft sich Pellegri auf eine der zahlreichen wahren Geschichten mit den Kindern, die das Ideatorio besuchen. Als sie vor dem blauen Himmelsgewölbe des Planetariums standen, sollten die Kinder einer Schulklasse auf die Sterne zeigen, die sie kannten. Ein Mädchen antwortete, dass unter ihnen ihre Mama sei, die tatsächlich verstorben war. Die Antwort machte uns alle sprachlos. Es war das eingetreten, was Pellegri unter Berufung auf den italienischen Psychoanalytiker Massimo Recalcati und auf das Thema der derzeitigen Ausstellung «Imperfetto» am Ideatorio den Stolperstein nennt. Eine Definition, die wiederum auf die Stolpersteine des deutschen Künstlers Gunter Demnig verweist, die mittlerweile auf den Gehwegen zahlreicher Städte in aller Welt zu finden sind, um auf jeden einzelnen Deportierten in die Vernichtungslager der Nazis hinzuweisen: «Der Stolperstein kann eine Schwäche unseres Körpers oder Charakters sein, oder eine unerwartete Frage eines Kindes wie auch der Moment, an dem wir erkennen, dass unser Gegenüber andere, nicht die klassischen Kommunikationskanäle benötigt, vielleicht weil es Autist ist. In einem solchen Moment erweist sich mein Wissen, so wie ich es erlernt und stets gekonnt und kompetent weitergegeben habe, als ungeeignet und ich muss entscheiden, wie ich reagiere.» Der eine macht einfach weiter als wäre nichts geschehen, betont Pellegri, der andere möchte sich nicht in Frage stellen und einfach bestätigen, dass ein gewisses Tool nicht geeignet ist. An anderer wiederum nutzt diesen Stolperstein. «Die Lebenserfahren zeigen, dass es ein Konzept der Kultur gibt, das in allen präsent ist – erklärt er. – Diese Vision erfordert, dass wir über das rein begriffliche Wissen hinaus diesen ursprünglichen Kern wiederfinden, der den Wunsch, mehr über unser Leben zu entdecken, ausgelöst hat. Ein Kern, der unaufhörlich diese wesentlichen Fragen wiederholt, die wir uns alle stellen: Wer sind wir? Was ist meine Rolle? Was ist das Leben? Welchen Sinn hat es?»

Es sind eben diese grossen Fragen, die aufkommen, sobald man die Begrifflichkeit beiseite legt und die Person, den Menschen direkt anspricht. Pellegri fährt fort: «Auf die Frage „woher kommst du?“, antworten die Kinder: „Aus dem Bauch meiner Mama“, „vom Affen“, „von Gott“, „von Allah“, und andere beschränken sich auf pragmatischere Weise auf Aussagen wie „von der Bushaltestelle“ oder „aus Bellinzona“. Lauter richtige, aber auch lauter falsche Antworten. Und es ist auch ganz egal, weil niemand weiss, woher wir kommen. Dabei interessiert uns genau dieser Mensch, diese Mischung aus Träumen, Hoffnungen und Proteinen. Denn, wie uns der Philosoph Edgar Morin in Erinnerung ruft, das menschliche Wesen ist physikalisch, biologisch, psychisch, kulturell, sozial, historisch zugleich.» Mit dieser Prämisse entstehen also die Projekte des Ideatorio, das nach einer coronabedingten Schliessung den Betrieb, wenn auch mit einigen Einschränkungen (und allen erforderlichen Vorsichtsmassnahmen), am herrlichen Sitz in Cadro mit der Ausstellung «Imperfetto. Tra inciampi e abilità del nostro cervello» (dt. Nicht perfekt: Zwischen Stolpersteinen und Fähigkeiten unseres Geistes) sowie mit Aktivitäten für Schulen und Bürger im Rahmen des Möglichen wieder aufnimmt.

Denn alles, so Pellegri abschliessend, «erinnert uns daran, wie es Gregory Bateson formulierte, dass Galaxien, Amöben, wir und die Primeln affine Elemente, geboren aus einer gemeinsamen Geschichte, sind, die alle in dieselbe Schublade gesteckt werden. Es erinnert uns auch, dass die Fragilität in der Geschichte jedes Einzelnen innewohnt. Das tun wir, indem wir die wissenschaftliche Forschung wertschätzen, uns aber bewusst sind, dass die Wissenschaft alleine das Problem der Bedeutungen nicht beantworten kann. Wirklichkeit gibt es nur eine: Für den Astronomen, den Bäcker und den Theologen. Wenn die Wissenschaft versucht, diese mit Demut und Respekt zu lesen, dann wird aus dieser Wirklichkeit Kultur.

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