SUPSI

Wenn sich hochtechnologische Materialien selbst «reparieren» können

Dienstag, 13. Oktober 2020 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Fortschrittliche Forschung im Labor für computergestützte Materialwissenschaften unter der Leitung von Giovanni Pavan. Es wird erforscht, wie die Eigenschaften biologischer Gewebe auf Tech-Produkte «übertragen» werden können
von Michela Perrone

Wenn wir uns schneiden, ist es für uns ganz normal, dass die Haut nach kurzer Zeit von selbst nachwächst. Geht hingegen eine Vase zu Bruch, dann erwartet niemand, dass sich die Scherben selbst wieder zusammenfügen. Es gibt auf der Welt Forschungsgruppen, die untersuchen, wie sich die Eigenschaften der biologischen Gewebe auf Materialien der neuesten Generation anwenden lassen, indem sie unsere gewohnte Vorstellungsweise einer Oberfläche kippen und eine Art Selbstreparaturmechanismus dieser Materialien auslösen.

Eines dieser Teams befindet sich in der Schweiz und wird geleitet von Giovanni M. Pavan, Professor am Institut für innovative Technologien der SUPSI (Scuola Universitaria Professionale della Svizzera italiana) in Lugano, wo er der Leiter des Labors für computergestützte Materialwissenschaften am Institut für Bauingenieurwesen und Materialtechnologie ist. Seit etwas mehr als einem Jahr ist Pavan auch Professor an der Technischen Hochschule Turin. Mit seiner Gruppe im Tessin und in Italien wurde Pavan zu einem internationalen Massstab für die Konstruktion von Modellen, die in der Lage sind, die Funktionsweise solcher sogenannter self-assembled, also von selbst zusammengebauter Materialien zu erklären. Der letzte Meilenstein ist der Beitrag zu einer Studie, die im Magazin Nature erschienen ist.

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Giovanni Pavan, Leiter des Labors für computergestützte Materialwissenschaften am Institut für Bauingenieurwesen und Materialtechnologie der SUPSI in Lugano Das Foto vergrössern

Zwischen Nobelpreis und molekularen Maschinen

Im Zentrum dieser internationalen Zusammenarbeit, die die Veröffentlichung dieser Studie ermöglicht hat, ist das Verständnis der Funktionsweise dieser Art Materialien, die gegen jede Intuition biologische Eigenschaften haben, obwohl es sich um Hi-Tech-Materialien handelt.

Zu den Eigenschaften dieser sogenannten supramolekularen Materialien gehören beispielsweise das «Form-Gedächtnis» und die Fähigkeit der Selbstheilung. Hört sich an wie Sciencefiction, in Wirklichkeit aber ist es Chemie: «Die Materialien, die wir kennen – so Pavan – setzen sich aus repetitiven Einheiten zusammen, die von chemischen Primärverbindungen zusammengehalten werden; Brechen diese, geht das Material kaputt oder zerfällt». Genau das, was mit der Vase passiert, die uns am Anfang dieses Artikels zu Bruch gegangen ist. «Bei den supramolekularen Materialien – so Pavan weiter – vereinen sich die wesentlichen Einheiten, tun dies aber durch schwache Interaktionen, die somit reversibel sind». Das bedeutet praktisch, dass wir Strukturen haben, die auf spezifische Reize sehr elastisch antworten können und die sich mit Veränderung der Aussenbedingungen ändern. Über solche Eigenschaften verfügt unser Körper, beispielsweise beim Bilden einer Narbe nach einer kleinen Verletzung der Haut.

«Einer Forschungsgruppe der japanischen Chiba University unter der Leitung von Shiki Yagai – so Pavan weiter – war es gelungen, supramolekulare Catenane (wie man sie in der Fachsprache nennt) zu schaffen, also Strukturen, die sich aus Molekülen zusammensetzen, die sich übereinanderstapeln und zu Ringen schliessen.». Eigentlich eine Art Kette, die den Materialien «biologische Eigenschaften» verleiht. «Sie wandten sich an uns, – erklärt Pavan – damit wir ein theoretisches Modell erarbeiteten, das in der Lage war, den Mechanismus zu untersuchen, mit dem die Verkettung der Ringe in „Polymerketten“ erfolgte». Eine hohe wissenschaftliche Herausforderung, und an der SUPSI machte man sich sofort erfolgreich an die Arbeit.

Stark vereinfacht ausgedrückt, können wir uns die traditionellen Materialien wie Konstruktionen aus Lego-Bausteinen vorstellen, die fest aufeinandersitzen. Die supramolekularen Materialien hingegen sind eher wie Geomag, ein anderes Spiel, das nicht auf dem Zusammenstecken der wesentlichen Bausteine beruht, sondern auf den magnetischen Eigenschaften des Magneten, wodurch schwächere und leicht reversible Verbindungen entstehen. Es handelt sich um eine Grenzforschung, aber mit enorm hohem Potential: 2016 ging der Nobelpreis für Chemie an Fraser Stoddart, Bernard Feringa und Jean-Pierre Sauvage für ihre Studien an Molekularmaschinen und, im Falle von Sauvage, insbesondere wegen seines Beitrags zur Synthese der ersten Catenane, winzig kleiner «miteinander verbundener» Molekularstrukturen, die kontrollierbar und beispielsweise in der Lage sind, die von aussen absorbierte chemische Energie in mechanische Kraft umzuwandeln, Arbeit zu erzeugen und somit in Bewegung zu sein. Diese Strukturen sind mit den grossen, self-assembling Polycatenanen «verwandt», die in der gemeinsam mit Shiki Yagai durchgeführten Arbeit in Nature vorkommen.

Fortschrittliche Studien

«Das Tolle an der Arbeit mit Grenzforschungsprojekten ist, dass man nicht weiss, wohin sie dich führen – lächelt Pavan. – In der Regel beginnt man, etwas aus einem persönlichen Interesse zu untersuchen, oder weil man eine mögliche Anwendung vermutet. Schreitet man dann voran, erkennt man, dass es Szenarien gibt, an die man gar nicht gedacht hatte und die noch viel faszinierender sind».

Es ist noch früh, um über mögliche Anwendungen der Catenane zu sprechen. «Denkbar wären beispielsweise Materialien, die Wärme mit grosser Effizienz zerstreuen können oder welche die von aussen absorbierte Energie in Bewegung oder Arbeit umwandeln. Zum aktuellen Stand können wir noch nicht viel mehr sagen. Catenane lassen sich sehr schwer herstellen und dadurch war bisher die Untersuchung ihrer Eigenschaften beschränkt. Allerdings ist es mit dieser Art der Grenzforschung möglich, dass unsere Entdeckungen zu technologischen Anwendungen führen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Als beispielsweise die Eigenschaften der ersten Halbleiter entdeckt wurden, konnte sich niemand vorstellen, dass die Transistoren heute für die Kommunikation mit elektronischen Geräten oder zum Einschalten unserer Fahrzeuge benötigt werden».

In den letzten Jahren sammelte Pavan eine ganze Reihe beruflicher Erfolge: 2015 hat der Schweizerische Nationalfonds eines seiner Projekte über die Self-Assembling-Prozesse der Materialien finanziert, und Ende 2018 erhielt er einen ERC Consolidator Grant, den begehrten europäischen Preis für die Grenzwissenschaft. Bis 2024 stehen ihm zwei Millionen Euro für die Computerforschung an neuen Materialien zur Verfügung. Und letztes Jahr wurde Pavan, wie bereits erwähnt, schliesslich ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Turin, mit gerade mal 38 Jahren. «Die letzte Zeit war beruflich wirklich sehr intensiv – wie er selbst kommentiert – und darauf bin ich selbstverständlich stolz. An der SUPSI hatte ich das grosse Glück, unabhängig an dem arbeiten zu können, was mich wirklich interessiert, und nach und nach konnte ich mir eine fachübergreifende Forschungsgruppe aufbauen».

Mit Ankunft der ersten Ergebnisse stellten sich auch Arbeitsangebote ein: «Ich beschloss, dort zu bleiben, wo ich war, und habe es nicht bereut. Ich hatte keinen akademischen Standard-Werdegang und manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn ich andere Wege eingeschlagen hätte. Wenn ich zurückblicke, bin ich allerdings zufrieden mit dem, was ich geschaffen habe».

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