Schnittpunkte

Wenn Fotografie, wissenschaftlicheForschung und Architektureinander jagen und „kontaminieren“

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana
Im Teatro dell’Architettura Mendrisio die Ausstellung „What mad pursuit“ unter der Leitung von Francesco Zanot. Eine Reise voller „Provokationen“ (und Debatten) durch die Bilder von Aglaia Konrad, Bas Princen und Armin Linke
Im Teatro dell’Architettura Mendrisio die Ausstellung „What mad pursuit“ unter der Leitung von Francesco Zanot. Eine Reise voller „Provokationen“ (und Debatten) durch die Bilder von Aglaia Konrad, Bas Princen und Armin Linke

Im Teatro dell’Architettura Mendrisio die Ausstellung „What mad pursuit“ unter der Leitung von Francesco Zanot. Eine Reise voller „Provokationen“ (und Debatten) durch die Bilder von Aglaia Konrad, Bas Princen und Armin Linke
von Paolo Rossi Castelli

Wie sehr beeinflussen sich Fotografie und wissenschaftliche Forschung gegenseitig? Wie sehr kontaminieren sie sich? Seit ihrer Einführung im frühen 19. Jahrhundert waren Fotoapparate (und ihre Vorläufer) absolut abhängig von den technologischen Fortschritten, die schnell wachsende Sektoren wie Chemie und Physik zur Verfügung stellten. Aber die Fotografie „revanchierte“ sich danach, indem sie sich in einigen Fällen mit der wissenschaftlichen Forschung verflechtet, bis sie sie beeinflusst. Davon erzählen, zumindest teilweise, die Protagonisten der Ausstellung „What mad pursuit“ (was für eine verrückte Verfolgungsjagd, auf Deutsch), die im Teatro dell’Architettura Mendrisio veranstaltet wurde: Die international renommierten Fotografen Aglaia Konrad, Bas Princen und Armin Linke. Gefördert von der Akademie für Architektur der Università della Svizzera italiana, bleibt die Ausstellung bis zum 22. Oktober geöffnet.

«Dieses Projekt ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit den Fotografen, aber auch eine Überlegung über Ausarbeitung, Überlagerung, Dialog erklärt der Kurator Francesco Zanot. Wir haben der Kontamination Vorrang vor der Reinheit gegeben». Der Titel gleicht dem eines Buches des britischen Neurowissenschaftlers Francis Crick (Nobelpreis für Medizin 1953 und zusammen mit James Watson Entdecker der Struktur der DNA), das von den Folgen der Entschlüsselung unseres genetischen Codes erzählt und eine Hymne an die „Schnittpunkte“ ist. In der Tat schreibt Crick: „Hybride Arten sind in der Natur normalerweise unfruchtbar, in der Wissenschaft ist jedoch häufig das Gegenteil der Fall. Hybride Fächer sind sehr oft ausserordentlich fruchtbar, während eine wissenschaftliche Disziplin, die zu rein bleibt, dem Untergang geweiht ist“.

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Alle drei Protagonisten der Ausstellung arbeiten seit Jahren an den Schnittpunkten zwischen Fotografie und Architektur, und zwischen dem dargestellten Raum und dem Raum, in dem die Bilder selbst ausgestellt sind. Insbesondere Aglaia Konrad, Österreicherin, kombiniert in ihren Bildern die Gebäude grosser Architekten mit anderen anonymen, sowohl antiken als auch zeitgenössischen. Bas Princen, Holländer, untersucht stattdessen die Fähigkeit des Fotoapparats, ein Detail zu reproduzieren, und arbeitet viel mit Fotopapier. Schliesslich untersucht Linke, Deutscher (jedoch in Mailand geboren) die Veränderungen, die die Anwesenheit der Menschen auf dem Planeten Erde verursacht und eine wahrhaft neue Ära, das Anthropozän, ausgelöst hat. Die Arbeit von Linke beweist vor allem, dass Fotografien mitunter zunächst dokumentieren, danach jedoch die wissenschaftliche Forschung sogar „aktivieren“ können. «Linke bewegt sich innerhalb von Gruppen, die aus Gelehrten und Wissenschaftlern bestehen bestätigt Zanot. Die fotografische Arbeit wird somit Teil einer umfassenderen Forschung. Armin ist sicherlich derjenige, der dieses Thema am weitesten vorangebracht hat: Wissenschaft ist nicht nur Gegenstand seiner Arbeit, sondern Teil des Prozesses».

Vor einigen Jahren gründete Linke zusammen mit Architekten und anderen Spezialisten das Anthropocene Observatory, besuchte und dokumentierte die Aktivitäten der Institutionen verschiedener Länder, die sich mit dem Klimawandel befassen (in der Schweiz die World Meteorological Organization) und erstellte Videos, Interviews und andere Materialien. Dies alles wurde vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin finanziert, einem wichtigen Zentrum für Debatte und Gedankenaustausch. Gemeinsam mit der Fotografin Giulia Bruno verfolgte Linke über viele Jahre die Arbeit von Anthropocene Working Group, eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, die 2009 unter anderem auch vom Nobelpreisträger Paul Crutzen (dem Entdecker des Ozonlochs) ins Leben gerufen wurde.

«Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte hat die Fotografie alle Gesellschaftsbereiche erreicht und ist in Wissenschaft, Kunst, Politik, Zeitgeschehen und soziale Medien sowie jede Art von Handel und Industrie eingedrungen sagt Linke, der seit 2018 auch den Workshop „Fotografie als Verhandlungsraum“ an der Akademie für Architektur der USI leitet. Die Fotografie ist zu einem zentralen Element unserer visuellen Beziehung zur Welt geworden und wird zunehmend von wissenschaftlichen Forschungszentren genutzt. Die Archive des CERN in Genf haben von den 60er Jahren bis heute Millionen davon angehäuft».

Aber zurück zur Ausstellung in Mendrisio. «Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Universität mit dem primären Ziel, Bildungsaktivitäten und Forschung zu entwickeln, eine Fotokunstausstellung organisiert kommentiert Linke. Ich danke den Gestaltern und denen, die diesen institutionellen Willen hatten. „What mad pursuit“ ist ein Ausstellungs-Workshop. Die Fotografien stellen Fragen zu einem grundlegenden Thema: Wie wollen wir über unsere Zukunft nachdenken?».

Francesco Zanot fügt hinzu: «Die Rolle der Fotografie, die früher in getrennten Abteilungen (Wissenschaftsfotografie, Künstlerfotografie, Familienfotografie, Justiz- und Polizeifotografie und mehr) ablief, ist heute extrem fliessend geworden. Und so geschieht es ab und zu, dass nicht nur die Künstler von der Arbeit der Wissenschaftler profitieren, sondern auch umgekehrt».