Wenn eine Brille zum "Navigationsgerät" für Blinde und Sehbehinderte wird
Im Finale eines internationalen Wettbewerbs der Toyota Mobility Foundation stehen die Hightech-Geräte des Tessiner Startups Lighthouse Tech. In den Brillenbügeln eingebaute Sensoren signalisieren das Vorhandensein von Hindernissenvon Monica Piccini
«Wir möchten eine Brille, die schön ist, auch wenn wir sie nie sehen können». Das war die Antwort, die Franco Burlando, Gründer (gemeinsam mit dem Designer Riccardo Baldini) und CEO des in Morbio Inferiore ansässigen Start-up-Unternehmens Lighthouse Tech erhielt, als er nach 37 Jahren im Bereich der High-Fashion-Brillen seine Erfahrung in den Dienst von blinden und sehbehinderten Menschen stellen wollte, aber auch von Menschen, die sich nach einem Schlaganfall (der das Gesichtsfeld beeinträchtigen kann) in der Rehabilitationsphase befinden, und zwar unter Einbeziehung von Verbänden, Betreuern und Familienangehörigen. «Nach der Antwort auf unsere Frage “Was können wir für Sie tun?”», so Burlando, «haben wir beschlossen, eine Hightech-Brille zu entwickeln, die ästhetisch ansprechend und vor allem einfach zu handhaben ist». Das im Jahr 2020 gegründete Unternehmen Lighthouse, das dem in unserem Kanton aufstrebenden Sektor der Medizintechnik (MedTech) zuzuordnen ist, hat seinen Sitz im USI Startup Centre (eine Einrichtung der Università della Svizzera italiana zur Unterstützung innovativer Projekte) auf dem Campus Ost in Lugano.
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Kurz vor Sommerbeginn wurde Lighthouse als eines von 12 Unternehmen für die Endrunde desinternationalen Ideenwettbewerbs “Mobility For All” ausgewählt, der von der Toyota Mobility Foundation zugunsten von Menschen mit Behinderungen organisiert wird. Die Gewinner erhalten umgerechnet rund 120’000 Franken und haben die Möglichkeit, mit grossen Unternehmen der Branche zusammenzuarbeiten. Die Tests, die es der Jury ermöglichen, den Gewinner zu bestimmen, fanden am 2. und 3. September in Tokio statt, und Burlando reiste ebenfalls nach Japan. Die Ergebnisse werden Ende September bekannt gegeben.
Burlando arbeitet mit Nathan Deutsch, dem Chief Operations Officer und Innovationsleiter des Unternehmens, zusammen. Wir bitten ihn, uns zu erzählen, wie diese Brille Menschen mit einer Sehbehinderung helfen kann, sich unabhängiger zu bewegen. «Unsere Ausgangsidee», erklärt Deutsch, «war es, eine Brille mit modernster Wearable Technology zu integrieren, denn die immer leichtere und miniaturisierte Elektronik kann im Brillengestell untergebracht werden, ohne das ästhetische Erscheinungsbild zu beeinträchtigen». Im Vergleich zu elektronischen Geräten, die von anderen Unternehmen dieses Sektors hergestellt werden, in der Fachsprache Obstacle detection warning, liegt der Unterschied der von Lighthouse entwickelten Brille gerade darin, dass sie von normalen Brillen nicht zu unterscheiden ist. «Unsere Brille, die demnächst in sechs verschiedenen Modellen und Farben erhältlich sein wird», fügt Deutsch hinzu, «wurde auch entwickelt, um die Diskriminierung abzubauen, die Menschen mit Sehbehinderungen manchmal immer noch begleitet. Sie ist komfortabel und modisch».
Wie funktioniert sie konkret?
«Die Brille (abgekürzt LTH01)», so Deutsch weiter, «gibt blinden und sehbehinderten Menschen sensorische Hinweise auf Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen. Insbesondere sind sie in der Lage, all jene Objekte zu erkennen, die sich von der Taillenhöhe aufwärts bis zur Kopfhöhe befinden, wie z.B. die Äste eines Baumes, aber auch die Tür eines Schranks, die von einem abgelenkten Familienmitglied in der Küche offengelassen wurde. Diese Art von Hindernissen kann nicht mit dem Blindenstock oder dem Blindenhund erkannt werden, die stattdessen sehr nützlich sind, um vor Hindernissen auf Bodenhöhe und etwas darüber zu “warnen”. Ein hochentwickeltes Sensorsystem an der Vorderseite des Brillengestells erkennt daher Hindernisse in einer Entfernung von bis zu 3 Metern in Echtzeit. Die Rückmeldung über die Anwesenheit eines Objekts erfolgt dann (ähnlich wie das Signal, mit dem Autos den Fahrer beim Einparken unterstützen) über spezielle, in die Brillenbügel integrierte Empfänger, die den Träger der Brille mit einer Art Vibration ähnlich der von Smartphones warnen (und nicht mit einem akustischen Signal, das störend sein könnte). Wir haben diese Vorrichtungen so konzipiert, dass sie nur die notwendigen Informationen liefern, ohne dabei zu übertreiben. Denn zu viele Reize könnten die Person, die sie empfängt, so sehr verwirren, dass sie abblockt».
Wie ist das Feedback derjenigen, die Ihren Prototyp bereits getestet haben?
«Was am meisten gefällt, ist die intuitive Bedienung des Geräts. Grundsätzlich gilt: Befindet sich ein Hindernis direkt vor dem Nutzer, erhält dieser sowohl auf dem rechten als auch auf dem linken Brillenbügel eine Rückmeldung (die Vibration wird stärker, je näher das Objekt kommt). Durch Änderung der Laufrichtung erhöht oder verringert sich die Vibration der Bügel, so dass die sehbehinderte Person die richtige Richtung wählen kann. Wenn die Bügel aufhören zu vibrieren, ist dies ein Signal, dass die Bewegungsrichtung korrekt ist».
An welchem Punkt der Entwicklung befinden Sie sich?
«Nach einer finanziellen Unterstützung durch die Innosuisse (Innovationsagentur des Bundes) und der Unterstützung durch die SUPSI (Fachhochschule Südschweiz) für die eher technischen Aspekte des Projekts haben wir die ersten Prototypen mit unseren eigenen privaten Mitteln hergestellt. Bis heute haben mehr als 400 Personen unsere Brille ausprobiert. Zusammen mit dem technischen Team und Blindenverbänden wie der Unitas der italienischen Schweiz, einer Tochtergesellschaft der nationalen Szblind, haben wir eine Reihe von Tests in einer kontrollierten Umgebung durchgeführt. Konkret ging es darum, Labyrinthe mit einer Reihe von Hindernissen aus Pappschablonen zu schaffen, um zum Beispiel Verkehrsschilder oder hervorstehende Gebäudeteile zu simulieren, die die Sicherheit von Blinden und Sehbehinderten gefährden».
Der nächste Schritt?
«In der zweiten Runde soll ein Vorserien-Prototyp in einer begrenzten Anzahl von “Rohbrillen” hergestellt werden, mit dem Langzeittests durchgeführt werden können. Im Frühjahr 2024 werden wir dann mit der eigentlichen Produktion beginnen».
Wie viel wird das Endprodukt kosten?
«Dies wird derzeit noch geprüft. Der Preis wird wahrscheinlich zwischen 1’200 und 1’500 CHF liegen (in vielen Ländern gibt es jedoch eine Rückerstattung für den Benutzer). Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Herstellung eines Geräts mit diesen technischen Merkmalen hohe Investitionen erfordert. In naher Zukunft möchten wir Unternehmen einbeziehen, die auf die Herstellung und den Handel mit Brillen spezialisiert sind und den Marken die Technologie der Sensoren, der Software und der Algorithmen zur Verfügung stellen, so dass diese in alle auf dem Markt befindlichen Brillen eingebaut werden können».
Warum tun Sie das alles?
«Neben dem Solidaritätsaspekt gibt es natürlich auch einen wirtschaftlichen Grund: Der Markt für assistive Technologien ist nicht so begrenzt, wie man meinen könnte. In der Schweiz beispielsweise gibt es bei insgesamt 8,5 Millionen Einwohnern 100’000 sehbehinderte und 50’000 blinde Menschen (in Europa sind es 3,5 Millionen, weltweit 40 Millionen). Ausserdem liegt die durchschnittliche Lebenserwartung inzwischen bei über 80 Jahren, und die Alterung geht auch mit möglichen Augenkrankheiten, wie der altersbedingten Makuladegeneration, einher. Wir haben eine klare Geschäftsvision, aber wir sind auch motiviert, das Leben vieler Menschen zu verbessern».