PSYCHOLOGIE

So real und doch so illusorisch... Wie man sich von den „Tricks“ der digitalen Welt nicht täuschen lässt

Freitag, 30. September 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
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Treffen mit Experten der sozialen Neurowissenschaften und mit dem Mentalisten Federico Soldati im LAC. Im Blickpunkt stehen die Jugendlichen: Nicht zuletzt aufgrund der alterstypischen biologischen Mechanismen, sind sie am stärksten der Gefahr einer Abhängigkeit von den sozialen Netzwerken ausgesetzt
von Paolo Rossi Castelli

Nur wenige von uns wissen es, aber wenn wir unser Smartphone in die Hand nehmen und soziale Netzwerke aufrufen oder eine Google-Suche durchführen, befinden wir uns in einer Situation, die der einer Person sehr ähnlich ist, die einen Mentalisten vor sich hat: d.h. einer Person, die versucht, jeden, auch nur geringsten ihr gegebenen Hinweis einzufangen, um unsere Gedanken zu lesen und uns mit ihren magischen Künsten zum Erstaunen zu bringen. Aber während wir vor einem Mentalisten wachsam bleiben, staunen und nach dem Trick suchen, machen wir dies nicht gegenüber den Algorithmen der Systeme künstlicher Intelligenz, die Facebook, Instagram oder Google steuern (und auch nicht vor bestimmten Personen, die die sozialen Netzwerke bevölkern). In diesen Fällen geben wir oft eine grosse Menge sensibler Informationen über uns preis, ohne es zu wissen. Aber unsere Unaufmerksamkeit, das Senken der Wachsamkeit, können oft sogar sehr ernste Probleme verursachen, wie wir wissen. Gerade, um uns darüber nachdenken zu lassen, ohne uns Angst zu machen (sondern im Gegenteil zu versuchen, die positiven Aspekte der „digitalen Revolution“ zu finden), haben das Lugano Living Lab und die IBSA Foundation for scientific researchbeschlossen, im LAC (Lugano Arte e Cultura) am 17. September ein Treffen (mit dem Titel Digital zwischen Illusion und Realität) mit einer Forscherin für positive Psychologie und digitale Medien, Laura Marciano, einer Forscherin für soziale Neurowissenschaften, Rosalba Morese, dem Psychologen Dario Gennari, dem Wissenschaftsjournalisten Gianluca Dotti und natürlich einem Mentalisten, Federico Soldati, zu organisieren. Es handelt sich um ein speziell für Kinder und ihre Familien konzipiertes Treffen am Ende einer Woche, in der zu diesen Themen auch zahlreiche Klassen von Tessiner Mittelschulen in Villa Saroli im Rahmen des von der IBSA Foundation ins Leben gerufenen Projekts „Let’s Science!“ in Zusammenarbeit mit dem Departement für Bildung, Kultur und Sport (DECS) beteiligt waren.

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Hüten Sie sich also vor Algorithmen (und in vielen Fällen sogar vor Menschen aus Fleisch und Blut), die in sozialen Netzwerken und im Internet etwas über uns in Erfahrung bringen wollen. Dieser Aufruf gilt vor allem für die am stärksten gefährdeten Kategorien: im Besonderen für Jugendliche. Aber warum sind sie so gefährdet? Laura Marciano, Co-Autorin des gerade im Verlag Carocci herausgegebenen zehnten Bandes der „Let’s Science!“-Reihe mit dem Titel Lo smartphone: alleato o nemico? (Das Smartphone: Freund oder Feind?), liefert eine ausführliche wissenschaftliche Erklärung. «Die Adoleszenz – so sagt sie – definiert als Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, ist eine Entwicklungsphase, in der die Bereiche des Gehirns signifikanten Veränderungen unterliegen, die von biologischen und umweltbedingten Faktoren beeinflusst werden». Insbesondere kognitive Fähigkeiten werden dank der Reifung einiger Bereiche des präfrontalen Cortex entwickelt, dem „neuesten“ Teil des Gehirns, der den Menschen im Laufe der Evolution gegenüber früheren Arten einen deutlichen Schritt nach vorne ermöglicht hat. Gerade dank des präfrontalen Kortex war der Homo sapiens sapiens (also wir) in der Lage, Sprache und eine Reihe komplexer geistiger Fähigkeiten zu entwickeln, die uns kennzeichnen. «Alles dies hat jedoch seinen Preis – fährt Laura Marciano fort. – Das heisst, das Gehirn braucht lange, um sich zu entwickeln und im Erwachsenenalter seine volle Funktionsfähigkeit zu erreichen». Während dieser kognitiven und emotionalen Reise gelingt es den Kontrollsystemen des Gehirns oft nicht, die der Belohnung angemessen zu verwalten. «Wir können uns vorstellen – erklärt Marciano – dass die Gehirne der Jugendlichen in diesem Sinne wie ein Auto mit Turbomotor sind, dessen Bremsen aber nicht richtig funktionieren». Aus diesem Grund sind Jugendliche auch anfälliger für alle jene Verhaltensweisen, die möglicherweise zu „Ausser Kontrolle“ oder Abhängigkeiten von Substanzen, aber auch von bestimmten Verhaltensweisen, einschliesslich der digitalen, führen können.

Was kann getan werden, um die Exzesse und die damit verbundenen Risiken zu begrenzen? Wir müssen den Jugendlichen helfen, ein Gleichgewicht, einen ausgewogenen und gesunden Umgang mit dem Smartphone zu finden (keine leichte Aufgabe, aber in schwersten Fällen der Abhängigkeit auch mit Hilfe eines Psychologen möglich). «Ein moderates Engagement (zum Beispiel eine Stunde pro Tag) für digitale Aktivitäten – sagt Marciano – wäre an sich nicht schädlich für das Wohlbefinden. Im Gegenteil, es würde es wahrscheinlich erhöhen, weil es ermöglichen würde, soziale und Unterhaltungsbedürfnisse zu erfüllen».Aber welche ist die richtige Dosis? «Wir könnten wie folgt zusammenfassen – schliesst Marciano ab: –der Unterschied zwischen exzessivem, aber gesundem Enthusiasmus und Abhängigkeit darin besteht, dass gesunder Enthusiasmus zum Leben beiträgt, während Abhängigkeit davon wegführt».  

Wir müssen den Jugendlichen helfen, ein Gleichgewicht bei der Nutzung von Smartphones zu finden, aber auch ihre Augen zu öffnen: «Wir müssen ihnen helfen zu verstehen – bekräftigt Silvia Misti, die Leiterin der IBSA Foundation – dass einige ihrer Entscheidungen, wenn sie ihre Mobiltelefone in der Hand halten, nicht wirklich ihnen gehören, weil sie eigentlich durch Marketingtechniken, aber auch, so können wir sagen, durch echten Mentalismus hervorgerufen werden...». Manchmal ist es jedoch selbst für einen Erwachsenen schwierig, den versteckten Anfragen aus dem Netz zu entkommen oder sie auch nur zu erkennen. Es passiert zum Beispiel, wenn wir viele Apps herunterladen, auch unverdächtige, wie die klassische Taschenlampe: In vielen Fällen enthält das angefragte Ok zum Download beispielsweise die Möglichkeit für den Entwickler, auf unsere Fotos zuzugreifen. Aber was haben diese mit der Taschenlampe zu tun?».

Im Gegenteil, und das ist ein Paradox, wenn psychologische und soziale Neurowissenschaftler um Erlaubnis bitten, auf sensible Daten zugreifen zu dürfen, um ihre Studien durchzuführen, sagen die meisten Jugendlichen nein. Doch dieselben Jugendlichen haben vielleicht kurz zuvor anderes und viel mehr an soziale Netzwerke und Raptor-Websites geliefert – ohne es jedoch zu merken. 

Vielleicht auch aus diesem Grund gibt es leider noch wenige wissenschaftliche Studien, die sich den Auswirkungen eines „Missbrauchs“ der digitalen Welt auf das Gehirn von Jugendlichen widmen. Laura Marciano hat im vergangenen Jahr zusammen mit der Sozialneurowissenschaftlerin Rosalba Morese von der Università della Svizzera italiana eine Übersicht (review) der Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Es wurde schnell deutlich, dass die Literatur noch in den Kinderschuhen steckt. Stattdessen wäre es so wichtig, dieses Bevölkerungssegment besser zu untersuchen, das wie kein anderes die „Gruppe“ braucht, sie aber in vielen Fällen auf einem realitätsfernen Boden wie dem der sozialen Netzwerke sucht, die nicht die Peinlichkeit von Körperkontakt und sofortigen Reaktionen erzeugen und in einer Dimension unbegrenzter Zeit leben, mit einer extremen Verstärkung von Wertschätzung und schönen Dingen, aber auch von Kritik und psychischer Gewalt.

«In der digitalen Welt – erklärt Morese – fehlen viele Bezugspunkte, die wir in der realen Welt nutzen, um die Verhaltensweisen und Wünsche anderer zu verstehen. In Ermangelung dieser Informationen versucht das Gehirn, die Lücken zu füllen, indem es eine Intentionalität verleiht, die nicht vorhanden ist, und Bedeutungen schafft, die keine wirkliche Entsprechung haben (wir neigen dazu, „unsere“ Bedeutungen zu geben). Kurz gesagt, die digitale Welt gibt uns nur die Elemente, die andere uns zeigen wollen»

Ausserdem, wenn aus der digitalen Welt (zumindest scheinbar) beruhigende Informationen kommen, verblassen die mit Angst und Misstrauen verbundenen Hirnschaltkreise beim Betrachter. Mit anderen Worten, wir neigen eher zu vertrauensvollem Verhalten, was zum Beispiel durch das Senden von Geld oder intimen Bildern zum Ausdruck kommen kann. «Die Betrüger haben eine grosse Fähigkeit, die Bedürfnisse und emotionalen Zustände anderer zu erkennen – fährt Morese fort. – Wie man in Fachbegriffen sagt, haben sie ein sehr fortgeschrittenes soziales Gehirn. Dies ermöglicht es ihnen, „in Präsenz“, aber noch mehr in der digitalen Welt (wo tatsächlich viele Teile der realen Welt fehlen), emotionale Täuschungen gegenüber denen vorzunehmen, die sich beispielsweise allein fühlen. Auf individueller Ebene muss man grosse Vorsicht walten lassen, aber es ist auch eine grössere soziale Verantwortung (eine Verantwortung aller) in diesen Fragen erforderlich, und niemand darf allein gelassen werden: umso mehr die Jugendlichen. Ein wenig wie es passiert, wenn wir in der realen Welt jemanden auf der Strasse hinfallen sehen: Natürlich versuchen wir sofort, ihm aufzuhelfen. Dasselbe muss in digitalen Netzen gelten. Wenn wir zum Beispiel von einer Mobbing-Episode erfahren, müssen wir eingreifen und das durchbrechen, was im Fachjargon „Zeugeneffekt“ genannt wird: Die Situation also, wo alle zuschauen, sich aber nicht verantwortlich fühlen und deshalb nichts unternehmen, um demjenigen zu helfen, der in Schwierigkeiten geraten ist».