FORTSCHRITTLICHE TECHNIKEN

So kann „verborgene“ Musik
aus kaputten Schallplatten
extrahiert werden

Mittwoch, 16. Februar 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

„Visual Audio“, das von der Schweizerischen Nationalphonothek in Lugano entwickelte bahnbrechende System wird ständig perfektioniert. Ein optischer Scanner kann die Breite und Tiefe der Rillen lesen.
von Paola Scaccabarozzi

Das Wiederhörbarmachen der Musik alter oder sehr alter kaputter Schallplatten (in mehrere Teile zerbrochen oder sogar ohne einige Teile) erscheint unmöglich, aber ein technologisch sehr fortschrittliches System, das von der Schweizerischen Nationalphonothek in Lugano entwickelt wurde, ermöglicht dies. Dieses System nennt sich Visual Audio und hat weltweit nur einen einzigen, wahren „Konkurrenten“ (genauer gesagt in den Vereinigten Staaten), der jedoch andere Verfahren verwendet. Ohne Visual Audio (oder ohne die amerikanische Vorrichtung) ist es unmöglich, die Töne zu rekonstruieren, die auf stark beschädigten Tonträgern aus Acetat oder Vinyl enthalten sind: In Wahrheit nicht nur Musik, sondern beispielsweise auch Aufnahmen politischer Reden.

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Die Idee für Visual Audio entstand im Tessin von Stefano Cavaglieri, dem heutigen stellvertretenden Leiter der Nationalphonothek, und wurde mithilfe der Hochschule für Technik und Architektur in Fribourg entwickelt. Mit der Zeit hat sich die Technik allmählich verbessert, und jetzt sind die Ergebnisse von hoher Qualität und in mancher Hinsicht erstaunlich. Aber wie ist es möglich, die Töne aus einer Schallplatte zu „extrahieren“, die in vier oder fünf oder sogar mehr Teile zerbrochen ist, die natürlich nicht von einer normalen Nadel gelesen werden können? Die Tessiner Techniker haben ein System ausgearbeitet, das die wieder zusammengesetzte Schallplatte mit einem hochauflöslichen Apparat auf einen „analogen“ (also nicht digitalen) Film zu fotografieren. Ein Super-Scanner (so könnte man ihn definieren...) liest danach die einzelnen Teile dieses Fotos und eine spezielle Software fügt die verschiedenen Werte zusammen und rekonstruiert, soweit möglich, auch die fehlenden Fragmente. Genauer gesagt, misst der Scanner die Breite und die Tiefe der Rille: Genau die Parameter, die bei einem normalen Plattenspieler für unterschiedliche Beschleunigungen der Nadel sorgen; es sind diese unterschiedlichen Beschleunigungen, die in elektromagnetische Signale umgewandelt und zu Musik werden. Der Super-Scanner liest diese Informationen (wie gesagt, Breite und Tiefe der Rille) und ersetzt in gewisser Hinsicht die Nadel.
Das System wird natürlich verwendet, um nur „einzigartige“ Schallplatten zu lesen (die, die in einer einzigen überlebenden Kopie vorhanden sind).

EIN 35-JÄHRIGER WEG - 1987 gegründet, ist die Schweizerische Nationalphonothek eine relativ junge Institution. «In Wahrheit sprach man auf nationaler Ebene bereits einige Jahre zuvor über ihre Realisierung - erklärt der Direktor, Günther Giovannoni - und die Wahl, sie im Kanton Tessin zu gründen entstand dagegen sowohl aus der Entscheidung, die Präsenz der wichtigsten kulturellen Institutionen (die Nationalbibliothek hat ihren Sitz in Bern) auf das Schweizer Staatsgebiet aufzuteilen, als auch aufgrund der logistischen Verfügbarkeit und der grossen Unterstützung durch Lugano».
Der Auftrag der Phonothek ist der, das Schweizer Tonerbe zu sammeln und aufzubewahren, zu dokumentieren und aufzuwerten. «Es handelt sich - so Giovannoni - um eine Sammlung, die zahlreiche Werke musikalischer Natur und von historischer Bedeutung verschiedener Entitäten zusammenbringt. Weniger bedeutend ist dagegen leider der Teil der wissenschaftlichen Tonaufnahmen, da dem Schutz eines Erbes, dessen Erhaltung sehr wichtig gewesen wäre, im Laufe der Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Einige Ausnahmen gibt es im sprachlichen und ethnomusikologischen Bereich».  

Die Erhaltung ist jedoch das Hauptziel dieser Institution, gerade weil die Tonträger äusserst zerbrechlich sind und präzise Konservierungs- und Behandlungstechniken erfordern. «Man denke nur daran - erklärt der Direktor der Phonothek - dass eine private, nicht kommerzielle CD durchschnittlich fünf Jahre hält. Ganz zu schweigen von einigen alten Tonträgern, wie Azetat-Platten, die extrem verderblich sind».  

Die Sammlung der Phonothek enthält beispielsweise sehr alte Tonträger, wie Wachszylinder, die aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen und Opern und kurze Musikstücke enthalten. Dazu kommen Schallplatten aus Vinyl und Schellack, Musikkassetten und Tonbänder unterschiedlicher Formate, Azetate oder Magnetfäden: Insgesamt etwa eine halbe Million Tonträger für sechs Millionen Titel. 

Die Phonothek enthält auch Aufnahmen von Reden, Interviews, Hörbücher, Theaterstücke und Volksmusik. Sowie alle, teils sehr alte Geräte, die die Aufnahmen auf diesen verschiedenen Tonträgern lesen und hören können. 

KOMPLIZIERTE ERHALTUNG DER „WIEDERGABEGERÄTE“ - «Die Instandhaltung dieser Geräte - erklärt Giovannoni - stellt ein weiteres wichtiges Element dar, um den Inhalt dieser Objekte nutzen zu können, die in einigen Fällen aus längst vergangenen Zeiten stammen. Zu diesem Zweck gibt es in der Phonothek eine Wartungswerkstatt, deren Aufgabe es ist, die Funktionsfähigkeit dieser Wiedergabegeräte zu gewährleisten. Zudem gibt es Maschinen zum Reinigen der Vinylschallplatten und auch die Aufbewahrungsumgebung der Tonträger selbst ist von grundlegender Bedeutung. Es handelt sich um klimatisiertes Archiv, das die Kontrolle der Luftzirkulation, der Temperatur und eine konstante Luftfeuchtigkeit gewährleisten muss». 

Ein weiterer grundlegender Aspekt und eine zentrale Rolle der Phonothek ist die Digitalisierung. «Das Vorhandensein eines digitalen Archivs - erklärt der Direktor - ermöglicht in der Tat die Erhaltung aller in der Phonothek enthaltenen Werke durch zwei Backups, sowie einem Bandlaufwerk. So werden für jedes Dokument zwei Versionen erstellt: Eine mit hoher Auflösung und eine MP3-komprimierte. Das gesamte Material ist über ungefähr fünfzig audiovisuelle Arbeitsplätze zugänglich, die über das ganze Schweizer Staatsgebiet in Bibliotheken, Universitäten oder Konservatorien verteilt sind. Das digitalisierte Material kann daher abgehört, aber nicht kopiert oder aufgenommen werden, da es urheberrechtlich geschützt ist. 

VIEL PLATZ FÜR FORSCHUNG - Auch der Bereich Forschung und Entwicklung ist sehr interessant. Die Phonothek hat, wie gesagt, Visual Audio entwickelt, aber die Forschungstätigkeit hört hier nicht auf. Eine neue Perspektive betrifft in der Tat auch den Einsatz künstlicher Intelligenz zur Indexierung des gesprochenen Materials, um die Stücke für Spiel- und Lernzwecke einfacher und unmittelbarer ermitteln zu können.
«Mit der nahe gelegenen SUPSI, der Fachhochschule der italienischen Schweiz, entwickeln wir zudem - so Giovannoni weiter - einen Liegestuhl, der Töne in Schwingungen übersetzt, die auch von schwerhörigen oder völlig gehörlosen Menschen wahrgenommen werden können. Ein weiterer Bereich, an dem wir ständig arbeiten, ist der mehrsprachige Katalog: Alle Informationen zu unserem Erbe werden in fünf Sprachen bereitgestellt. Die Hörerziehung bleibt weiterhin eine unserer Missionen. Die physische Nähe zum Conservatorio della Svizzera italiana, mit dem wir ausgezeichnete Beziehungen unterhalten, wird der Ansporn für weitere Kooperationen und wichtige Synergien sein, insbesondere in naher Zukunft, in der neuen Casa della Musica, das in Lugano im Gebäude geplant ist, in dem sich derzeit das Rundfunktstudio der RSI (Radiotelevisione svizzera di lingua italiana) befindet».