MEDICAL HUMANITIES

Sexualität in Pflegeeinrichtungen: Ein selbst für Forschende nurschwer zu überwindendes Tabu

Montag, 26. Dezember 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
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Dieses Thema wird erst seit kurzem in politischen und wissenschaftlichen Debatten erörtert. Die achte Jahreskonferenz der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro hat den Schleier eines Themas mit starker Auswirkung auf die Gesundheit gehoben.
von Michele Corengia

Nach dem Mythos in Platons Symposium, wurde Eros aus der Begegnung zwischen Poros (Findigkeit) und Penia (Armut) geboren. Seine Existenz entwickelt sich also entlang einer Schwelle, zerrissen durch die Spannung zwischen zwei Polen: Reichtum und Schönheit auf der einen, Elend und Mangel auf der anderen Seite. «Eros lässt uns an die Medizin denken (und die Pflege im weitesten Sinn), da auch sie sowohl Macht als auch Armut ist» so Graziano Martignoni, Vizepräsident der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro, der vor kurzem ihre achte Jahreskonferenz über das Thema „Sexualität in Pflegeeinrichtungen“, im Saal des Gemeinderats des Städtischen Rathauses in Bellinzona organisierte.

Über Sexualität in den verschiedenen Pflegeeinrichtungen für Menschen in unterschiedlichen Situationen nachzudenken und zu sprechen, ohne in Stereotypen zu verfallen, ist nicht nur eine intellektuelle Übung. Eine Studie von Christine Curley und Blair Johnson, die im Mai 2022 in der wissenschaftlichen Zeitschrift Social Science & Medicine veröffentlicht wurde, besagt, dass sexuelles Wohlbefinden möglicherweise mehr von sich ändernden gesellschaftlichen Normen zur Sexualität abhängt als von neuen Medikamenten, die körperliche Einschränkungen behandeln. Sich um das sexuelle Wohlbefinden zu kümmern, kann sich positiv auf Programme der öffentlichen Gesundheit auswirken, wie ein im Jahr 2021 in The Lancet erschienener Artikel andeutet. Diese Studien zeigen, wie wichtig es ist, die Art und Weise, wie wir über Sexualität sprechen und denken, zu überarbeiten, angesichts der Auswirkung, die das sexuelle Wohlbefinden auf die Gesundheit von uns allen hat, unabhängig von der Lebenssituation, in der wir uns befinden.

Die Konferenz der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro hat im Einklang mit dieser Vision über Sexualität und Pflege gesprochen und versucht, über das Schweigen hinauszugehen, das dieses Thema oft umgibt, ohne in die Banalisierung eines Diskurses über biologisch-funktionale Aspekte von Sex zu verfallen. Wie ein Weg im Garten von Eros haben die verschiedenen Vorträge das Thema Sexualität bei Behinderung, im Alter, bei kognitivem Verfall, psychischen Problemen, posttraumatischen Störungen und im erzieherischen Verhältnis untersucht und eine vielschichtige Rekonstruktion eines Phänomens angeboten, das sich unsere Gesellschaft nur schwer vorstellen kann.

«Es ist heute immer noch schwierig, über Sexualität in der Pflege zu sprechen erklärt Donatella Oggier-Fusi, Beraterin im Bereich Affektivität für die Associazione Atgabbes in Lugano, Professorin an der SUPSI und Referentin der Konferenz. Insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung, die oft als nicht erwachsen und ohne sexuelle Bedürfnisse betrachtet werden, die zu einer Art Schwebezustand zwischen der infantilen und der reifen Phase verurteilt sind. Es ist ein weiterer Zustand der Liminalität, wie es im Fachbegriff heisst, der es untersagt, etwa an Pflegeeinrichtungen mit Doppelzimmern und Räumen für Paare zu denken, oder der angesichts der Figuren der Sexualassistentinnen Widerstand auslöst. Wenn «eine sich schliessende Tür neue Räume öffnen kann», wie Professorin Oggier-Fusi bekräftigt, könnte die Schliessung von Stereotypen Behandlungs- und Forschungsräume öffnen, die bis vor kurzem noch undenkbar waren. Dies ist eine der impliziten Botschaften der Konferenz.

Man beachte, dass von 1945 bis 2022 weltweit ungefähr 10.000 wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Sexualität bei älteren Menschen durchgeführt wurden, jedoch die Hälfte davon erst in den letzten zehn Jahren das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. «Von all diesen Studien beharrte die erste Hälfte auf sexuelle Funktionen und Funktionsstörungen, oder auf mögliche körperliche Einschränkungen, die Problemen im Zusammenhang mit der Sexualität zugrunde liegen» erklärt Elisabetta Acerbis, Ärztin im Casa Parco San Rocco in Morbio Inferiore. Eine Darstellung einer wissenschaftlichen Forschung, die gegenüber der Phänomenologie der sexuellen Erfahrung einer Bevölkerungsgruppe, der älteren, blind ist, die andererseits ganz nah von diesem Thema betroffen ist. «26 % der älteren Menschen über 75 Jahren gibt an, sexuell aktiv zu sein» erklärt Frau Doktor Acerbis. Von der wissenschaftlichen Forschung kaum verfolgte Schattierungen des Daseins, in einer Lebensphase, die potentiell jeden von uns betreffen wird.

Wenn Sexualität als eines der grundlegenden Menschenrechte anerkannt wurde, sollten wir uns fragen, ob wir als Gesellschaft bereit sind, auf diesen Ruf, mit all der Komplexität, die er mit sich bringt, zu reagieren. Denken wir an Patienten mit Demenz, die immer zahlreicher in unserer Gesellschaft werden, da sich die durchschnittliche Lebenserwartung verlängert, deren Sexualtrieb mit einer Persönlichkeitsstörung verbunden sein kann oder nicht, was das Verständnis dieses Phänomens erschwert, wie von Clara Girardi vermutet, Geriaterin im Casa Parco San Rocco. Oder denken wir an Lebenssituationen, in denen alles von einem Moment auf den anderen kompliziert wird, wie zum Beispiel nach einem Trauma. Sara Rubinelli, Philosophin und ausserordentliche Professorin für Kommunikation im Gesundheitssektor am Departement für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik der Universität Luzern, zeigte in ihrem Vortrag die ganze Komplexität der sexuellen Rehabilitation und Kommunikation rund um dieses Thema auf und stellte das PLISSIT-Modell vor, das in der Sexualwissenschaft verwendet wird, um die verschiedenen Interventionsebenen einer Therapie zur Wiederherstellung der Sexualität festzulegen. 

«Die Heilung liegt im Dialog, der hilft, körperliche Grenzen zu überwinden» erwägt Frau Doktor Rubinelli. Die Behandlung ist demnach eine Sprachschwelle zwischen dem Selbst und dem Anderen, genau wie Sexualität selbst, eine existentielle Dimension des Menschen, eine nonverbale Sprache, durch die Individuen ihre Zerbrechlichkeit teilen. Das ist die Provokation der Konferenz der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro gegenüber der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der breiten Öffentlichkeit: Über Sexualität in Pflegeeinrichtungen nachdenken, die Inseln der Sinnhaftigkeit in dem sind, was viele stattdessen als Sinnlosigkeit unseres Daseins empfinden, mit einer nichtreduktiven Sprache, die die beiden Seelen des Eros ins Gespräch bringt. Sexualität überdenken, um Behandlung durch einen phänomenologischen Ansatz zu überdenken, der eine Umarmung so wie eine sexuelle Beziehung in einer sinnhaften Einheit umfasst: Dem Menschen.