Prostata, von den in Lugano versammelten Experten Leitlinien für die komplexesten onkologischen Fälle
Die von Silke Gillessen Sommer organisierte "Consensus Conference" (APCCC) gilt als internationaler Massstab für Fachleute auf diesem Gebiet und liefert Antworten und neue Protokollevon Simone Pengue
Die Spitzenonkologie ist in den letzten Wochen wieder einmal in Lugano zusammengekommen, um an der Advanced Prostate Cancer Consensus Conference (APCCC, auf Deutsch Konsensuskonferenz für fortgeschrittenen Prostatakrebs) teilzunehmen, die von Silke Gillessen Sommer, Leiterin der medizinischen Onkologie und medizinische und wissenschaftliche Direktorin des Onkologischen Instituts der Italienischen Schweiz (IOSI), organisiert wurde. Mehr als 750 Onkologen nahmen an dieser Veranstaltung teil (die als internationale Referenz auf dem Gebiet des Prostatakrebses gilt), zu der sich weitere 400 Spezialisten gesellten, die die Diskussionen per Fernzugriff verfolgten. Die Konferenz fand vom 25. bis 27. April im Palazzo dei Congressi statt, aber die erzielten Ergebnisse werden sich vor allem in den kommenden Monaten zeigen, denn Konsensuskonferenzen sind hauptsächlich dazu da, konkrete Antworten auf komplexe und kontroverse Fragen zu geben, die dann bis zur nächsten “Conference” (im Falle der APCCC in zwei Jahren) zu echten Leitlinien für Ärzte in aller Welt werden.
Die Behandlung von Prostatakrebs ist nicht immer einfach, da er sich in sehr unterschiedlichen Formen äussern kann. Es gibt zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten (Operationen, Chemotherapie, Strahlentherapie, Hormontherapie, Immuntherapie usw.) mit einer Reihe von standardisierten, gut entwickelten Protokollen. In bestimmten Fällen gibt es jedoch nicht genügend wissenschaftliche Daten über die beste Behandlung, so dass verschiedene Lösungen in Frage kommen, die nicht immer wirksam sind. Daher ist es notwendig, die besten Spezialisten der Welt zusammenzubringen, um einen “Konsens” darüber zu erzielen, welcher Ansatz in bestimmten Fällen, für die es, wie gesagt, noch keine Referenzliteratur gibt, am besten anzuwenden ist. Die Ergebnisse werden dann veröffentlicht, so dass jeder sie nutzen kann.
Prostatakrebs ist die am häufigsten diagnostizierte Krebsart bei Männern und macht 15 % der Krebstodesfälle in der Schweiz aus (die Prostata ist eine Drüse, die sich im männlichen Genitalapparat unterhalb der Blase befindet). Das Tessin entwickelt sich immer mehr zu einem Referenzzentrum für die Prostatakrebsforschung: Neben dem IOSI verfügen auch das Institut für biomedizinische Forschung (IRB) und das Onkologische Forschungsinstitut (IOR) in Bellinzona über eine Reihe wichtiger Gruppen. Eine Konferenz wie die APCCC stärkt diese “wissenschaftliche Rolle” des Kantons, der auch in anderen Bereichen der onkologischen Forschung, angefangen bei den Lymphomen, Spitzenleistungen vorweisen kann. Dieser Bereich bietet seinerseits Anlass zu einer weiteren internationalen Veranstaltung von grossem Wert: der International Conference on Malignant Lymphoma (ICML), die die Handschrift von Franco Cavalli trägt. Beide Konferenzen finden alle zwei Jahre statt und werden ab 2022 zeitlich versetzt angeboten, um Überschneidungen zu vermeiden, wobei sie einen gemeinsamen “Organisationsapparat” nutzen.
Was die beiden Veranstaltungen unterscheidet, ist neben der wissenschaftlichen Ausrichtung natürlich die Geschichte. Während die ICML vor über vierzig Jahren im Tessin geboren wurde, ist die APCCC sozusagen erst in ihrer fünften Ausgabe, nachdem sie die ersten drei Male in anderen Städten der Eidgenossenschaft Station gemacht hat. Jetzt, nach der Ankunft von Silke Gillessen Sommer in Bellinzona, ist der Veranstaltungsort endgültig in unseren Kanton umgezogen.
Doch was wurde auf der Konsensuskonferenz Ende April im Palazzo dei Congressi diskutiert? Zu den Hauptthemen gehörte sicherlich die “Theranostik”, ein innovativer Ansatz in der Medizin, der Therapie und Diagnostik (daher der Name) in einem einzigen Verfahren kombiniert, das gegen dasselbe molekulare Ziel gerichtet ist. In diesem Zusammenhang sprach die australische Forscherin Louise Emmett über PSMA (prostate specific membrane antigen), eine neue Methode, die in der Schweiz jedoch bereits angewendet wird. PSMA ist ein Molekül, das als Tracer für die “Fotos” der PET (proton emission tomography, Protonen-Emissions-Tomographie) verwendet wird, aber auch als Wegweiser für die radioaktive Lutetium-PSMA-Therapie gegen Prostatakrebs.
Besonders interessant war auch der Vortrag von Heather Cheng, einer Forscherin an der Universität Washington, die über genetische Mutationen in den Tumorzellen von 15 % der Männer mit Prostatakrebs sprach. Bei diesen Patienten kann mit Hilfe eines ausgeklügelten Bluttests das Vorhandensein der mutierten Tumor-DNA nachgewiesen und so eine gezielte Therapie entwickelt werden, die die Nebenwirkungen begrenzt.
Natürlich kam auch die Tessiner Forschung auf der APCCC zu Wort. Die Gruppe von Silke Gillessen Sommer hat in Zusammenarbeit mit dem Institute for Cancer Research in London und den Gruppen von Andrea Alimonti und Arianna Calcinotto vom IOR in Bellinzona die ersten Ergebnisse einer wichtigen Studie vorgestellt. Die Forscher haben eine neuartige Therapie auf der Grundlage monoklonaler Antikörper (Immuntherapie) entwickelt, die einen anderen Ansatz verfolgt als den bisher angewandten (der nur bei 4-5 % der Patienten wirkt und auf den so genannten Immun-Checkpoint abzielt: ein Schlüsselmolekül für die Reaktion des körpereigenen Abwehrsystems auf Tumore). Stattdessen zielt die derzeit getestete Therapie auf myeloische Zellen ab, d. h. auf die im Knochenmark vorhandenen Stammzellen, aus denen sich viele Arten von Zellen des Immunsystems entwickeln.
Darüber hinaus stellte das IOSI-Team auf dem Kongress die ersten Schritte eines anderen Projekts vor, das darauf abzielt, die Wirksamkeit der Hormontherapie zu verbessern, das ebenfalls in Zusammenarbeit mit Andrea Alimonti entwickelt wurde (die Hormontherapie hemmt die Produktion von Testosteron, dem wichtigsten männlichen Sexualhormon, das bei Prostatakrebspatienten das Tumorwachstum begünstigt). Worum geht es hier genau? Forscher haben festgestellt, dass sich in den Fäkalien einiger Patienten Bakterien befinden, die aus dem Darm, wo sie leben, stammen, und die Testosteron produzieren können. Diese Mikroorganismen tragen also dazu bei, dass der Tumor die Hormontherapie (die sich vor allem gegen das in den Hoden produzierte Testosteron richtet) “austrickst” und trotz der Medikamente wächst. Die nächste Forschungsentwicklung, die in den nächsten Monaten in Gang kommen wird, ist die Erforschung von Therapien, die diese Bakterienpopulation eliminieren oder eindämmen und so eine vollständige Ausschaltung der Testosteronproduktion ermöglichen.
NEBENWIRKUNGEN - Nicht nur die Behandlungs- und Diagnosemethoden sind bei den verschiedenen Krebsarten sehr unterschiedlich, sondern auch die damit verbundenen Nebenprobleme. Im Falle der Prostata betrifft dies vor allem die Sexualität. So führen Hormontherapien zur Behandlung von Prostatakrebs in vielen Fällen zum vollständigen Verlust der Libido und der sexuellen Funktion. Probleme in diesem Bereich können auch nach einer Operation auftreten, bei der in bestimmten Fällen die Prostata entfernt wird. Dank der zunehmend frühzeitigen Diagnose mit wirksameren und weniger invasiven Diagnoseinstrumenten gibt es jedoch eine wachsende Tendenz, wann immer möglich auf das so genannte “beobachtende Abwarten” zurückzugreifen - wenn die Aggressivität des Tumors dies zulässt. In der Praxis ist es manchmal am besten, nicht zu intervenieren, sondern die Situation im Laufe der Zeit sorgfältig zu beobachten. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass sich Prostatatumore, die in einem sehr kleinen Stadium diagnostiziert werden, aufgrund einer Reihe biologischer Besonderheiten in vielen Fällen nicht weiterentwickeln und keine besonderen Probleme verursachen (natürlich ist die Situation von Patient zu Patient sehr unterschiedlich und muss von den Onkologen, die über umfassende Erfahrung im Umgang mit solchen Situationen verfügen müssen, sehr sorgfältig beurteilt werden). Aktive Wachsamkeit ermöglicht es, wann immer es möglich ist, die Leiden und Beschwerden zu vermeiden, die durch eine - in der Vergangenheit oft häufiger und drastischer durchgeführte - Operation und die Nebenwirkungen der medikamentösen Therapien hervorgerufen werden.
Vorbeugung und Überwachung bleiben jedoch die Schlüsselkomponenten im Kampf gegen Prostatakrebs. «Man sollte Männer vor allem dann überwachen, wenn es in ihrer Familie einen Fall gibt», empfiehlt Silke Gillessen Sommer. «Wenn zum Beispiel ein Verwandter ersten Grades an Prostatakrebs erkrankt ist, verdoppelt sich das Risiko. Ausserdem ist die BRCA-Genmutation im Zusammenhang mit Brustkrebs in aller Munde, insbesondere nach dem Fall von Angelina Jolie, die diese DNA-Variante hatte. Aber auch Männer sollten auf diese Mutation achten, denn sie erhöht das Risiko für Prostatakrebs ebenfalls erheblich».