SICHTWEISEN

Palliativpflege nicht nur für unheilbar Kranke, sondern immer dann, wenn chronische Schmerzen bestehen

Freitag, 20. Mai 2022 ca. 12 Minuten lesen In lingua italiana

Vom fünften kantonalen Tag für Palliativpflege, organisiert vom Verein „Palliative TI“, ein Appell, die Therapien, die Leiden lindern können, anders und umfassender zu betrachten
von Agnese Codignola

Er wurde Das Kaleidoskop der Palliativpflege genannt, ein Name, der die Komplexität eines Bereichs, der sich seit einigen Jahren in Form und Wesen verändert, perfekt zusammenfasst und der weit über die Schmerzlinderung für unheilbare Kranke, insbesondere Krebspatienten, hinausgeht. Denn heute hat man ein grösseres Bewusstsein für die Tatsache, dass viele Erkrankungen mit sogar chronischen Schmerzen verbunden sind, und das Erkennen und Behandeln, bevor es selbst zu einer Krankheit wird, wird sowohl als Pflicht als auch als gewinnbringend angesehen, da es höhere Kosten bei Therapien, Arbeitsausfalltage, Rehabilitationen und eine Verschlechterung des Krankheitsbildes vermeidet. Und tatsächlich stand die Entwicklung des Wissenszweigs im Mittelpunkt des vom Verein „Palliative TI“ organisierten fünften Kantonalen Tags für Palliativpflege, der am 3. Mai im Kongresszentrum von Lugano stattfand: Ein Treffen, das ein wahrheitsgetreues Bild der vielen Nuancen lieferte, die zusammengenommen dazu beitragen, besser zu verstehen, was diese Therapien heute sind.

Die Palliativpflege stellt mittlerweile nicht nur den letzten Teil des Behandlungswegs gegen einen Tumor dar, auf den man zurückgreift, wenn die Krankheit die Oberhand gewonnen hat, wobei die aggressiveren Therapien ausgesetzt werden, um dem Patienten keine oder geringere Schmerzen zu gewährleisten. Vielmehr ist und sollte sie ein fester Bestandteil vieler therapeutischer Verfahren für unterschiedlichste Erkrankungen sein, und den Kranken bei Bedarf zu Beginn jeglicher Behandlung begleiten. Dieser Meinung ist ein Grossteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die seit einigen Jahren das umfassendere Konzept diskutiert und versucht, Druck auszuüben, damit sie anders als bisher in die Gesundheitsplanung aufgenommen wird. Dies bringt auch viele Schwierigkeiten mit sich, betonte einer der Redner, Massimo Costantini, Leiter der Palliativstation des Arcispedale Santa Maria Nuova in Reggio Emilia, einem Krankenhaus mit 900 Betten, das in Bezug auf die Qualität der Pflege immer an der Spitze der Weltrangliste steht. Costantini sprach darüber, wie es möglich ist, Kooperationsnetzwerke mit praktisch allen Abteilungen einer grossen Poliklinik aufzubauen und zu versuchen, jedem Patienten den am besten geeigneten Weg zu gewährleisten. «Es ist nicht einfach, sich immer an vorgegebene Richtlinien zu halten - erklärte er - da jeder Patient seine eigene Krankengeschichte und seine eigene Art von Schmerzen hat, die von der Art der Krankheit und dem allgemeinen Zustand abhängen». 

Neben den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Unmöglichkeit starrer therapeutischer Schemata, gibt es noch eine andere, strukturelle: Es gibt keine Richtlinien, gerade weil von Seiten der Finanzierer der Forschung bis vor kurzem kein grosses Interesse daran bestand, diese Themen zu vertiefen, und weil es sehr kompliziert war und ist, diese Studien vor Ort durchzuführen. Eines der Ergebnisse ist für alle sichtbar: Seit Jahren gibt es aus pharmakologischer Sicht keine nennenswerten Fortschritte, obwohl seit einiger Zeit nach überzeugenden Alternativen gesucht wird. Einige Moleküle, die andere Schaltkreise als die von Opiaten nutzen, wie beispielsweise solche, die zu Ionenkanälen führen, sowie physikalische Ansätze, die darauf abzielen, die Nervenübertragung von Schmerz zu stören, werden untersucht, aber ihre Anwendung ist noch begrenzt. In der Zwischenzeit wird versucht, die derzeit verfügbaren Medikamente wie Opioide so effektiv wie möglich einzusetzen und übermässige oder unsachgemässe Anwendungen zu vermeiden, die oft zu entgegengesetzten Ergebnissen führen als erwartet, wie eine vor einigen Wochen in der wissenschaftlichen Zeitschrift Jama Internal Medicine veröffentlichte Studie ergab.
Auch aus diesem Grund konzentrierte Costantini seinen Bericht auf die Notwendigkeit, Unterstützung, Forschung und Ausbildung des Personals stets zusammenzuhalten, was in einem Fach, das sich verändert und viele Abweichungen annehmen kann, von entscheidender Bedeutung ist.

AUFMERKSAMKEIT FÜR KULTURELLE VIELFALT - Flexibilität ist letztendlich notwendig für Situationen, die zunehmen aus herkömmlichen Rahmen ausbrechen und Fachleute herausfordern, zum Beispiel, um Menschen zu behandeln, die aus anderen Ländern kommen, und die in einer anderen Sprache, Religion und Kultur gelebt haben, als das Land, in dem sie behandelt werden, sowie homosexuelle oder transsexuelle Menschen, deren Besonderheiten gebührend berücksichtigt werden müssen.
Darüber sprach der italienische Psychiater und Kinderarzt Marco Mazzetti, Präsident der Società Italiana di Medicina delle Migrazioni, mit einem Bericht mit dem Titel „Die transkulturelle Sensibilität bei der Kommunikation mit dem Patienten“. Mazzetti, der von den Definitionen von Kultur, kultureller Identität ausgegangen ist, sowie der von „Illness“, die die subjektive Wahrnehmung der Krankheit umreisst, im Unterschied zu der von „Disease“, die sich auf die wissenschaftliche und messbare Definition einer Erkrankung beruft, machte sofort deutlich, wie die Unterschiede in der Interpretation der Realität eine Barriere in der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten darstellen können, ein Hindernis, das den gesamten Weg beeinträchtigen kann, noch bevor er begonnen wird.
Um zu verhindern, dass diese Dyskrasie den Grundstein für Missverständnisse legt, gibt es Kommunikationsraster, die dem Arzt helfen, mit dem Patienten zu sprechen und sich auf seine Erfahrung oder vielmehr auf die Fakten und wie sie gelebt wurden, zu konzentrieren. Das Raster berücksichtigt die fünf Kommunikationsebenen: Vorsprachlich, sprachlich, metasprachlich, kulturell und metakulturell, und gilt auch für die Auffassung von Gesundheit, die in verschiedenen Kulturen variieren kann.

DIE ERZÄHLUNG - Auf die beiden ersten Vorträge folgte eine sogenannte „Erzählung“: Ivo Lizzola, Dozent für Sozialpädagogik und Pädagogik der Marginalität und der Devianz an der Universität Bergamo, erzählte in der Tat in Form eines Monologos vom „Vermächtnis einer irreduziblen Behinderung - Geschichten vom Leben mit einer Behinderung“, eine berührende Geschichte über den oft unerwarteten Reichtum, der mit einer Behinderung verbunden ist.

DIE VORURTEILE - Orest Weber, Psychiater aus Lausanne, machte stattdessen auf einen anderen Faktor aufmerksam, der nicht immer berücksichtig wird, in Wahrheit jedoch die gesamte Annäherung an den Patienten beeinflussen kann, insbesondere wenn dieser aus einer anderen Gemeinschaft oder einem anderen Land als dem der behandelnden Person stammt: Vorurteile, Klischees, die die Grundlage für die Konkretisierung von Diskriminierung darstellen.
Klischees - das muss immer bedacht werden - sind sowohl bei den vorhanden, die behandeln, als auch bei denen, die um Hilfe bitten. Und ihre Folgen sind viel einschneidender als man denkt: Sie können zum Beispiel Verzögerungen verursachen, den Zusammenhalt der Behandlungsgruppe in Frage stellen, Missverständnisse mit caregiver (insbesondere mit den entsprechenden Familienangehörigen), hervorrufen, eine ehrliche Kommunikation verhindern usw. , das heisst, Schäden verursachen, die in einem Bereich wie der Palliativpflege sehr schwerwiegend sein können. Wie kann man versuchen, dem entgegenzuwirken? Zunächst einmal, betonte Weber indem man so viel wie möglich spricht, die eigenen Zweifel äussert und sie dem Gesprächspartner gegenüberstellt. Und dann immer versucht, sich vor Augen zu führen, welches Gewicht Vorurteile bei den eigenen Bewertungen haben können.

DIE SEXUALITÄT - Über Vorurteile sprach letztendlich auch Mathieu Turcotte, Krankenpfleger am MScSI (Master ès Sciences en sciences infirmières), Dozent am Institut et Haute École de la Santé La Source in Lausanne, Aktivist, der das Thema der nichtbinären Sexualität in einem Vortrag mit dem Titel: „Die Betreuung älterer, lesbischer, schwuler, bisexueller und transsexueller Menschen“ ansprach. Laut Turcotte sind fünf Elemente zu beachten: Das erste ist das Umfeld, das sich in den sozialen, verhaltensbezogenen und biologischen Normen widerspiegelt, die ursprünglich für eine Bevölkerung von überwiegend kaukasischen, wohlhabenden und heterosexuellen Patienten entwickelt wurden, d. h. in einer Gesellschaft, die sich sehr von der heutigen unterscheidet, die extrem empfindlich auf Diskriminierung durch Minderheiten reagiert, aber die Sensibilität erst noch in Normen und Verhaltensweisen umwandeln muss. Das zweite sind die Herausforderungen, denen LGBT-Personen auch heute noch gegenüberstehen: Ausgrenzung, Diskriminierung, Ablehnung durch die Familie, Homotransphobie, die zu psychischen Störungen, Selbstmorden und Drogenmissbrauch führt, Unfähigkeit zu heiraten und mehr. Das dritte Element ist die Angst, die sie sehr oft dazu treibt, nicht über ihre Erfahrungen und Probleme zu sprechen, und sie davon abhält, sich an bestehende Dienste zu wenden. Der vierte Aspekt ist der, der möglichen Lösungen, die vom Bewusstsein ausgehen, gefolgt von der Suche nach Unterstützung, der Interkation mit der eigenen Gemeinschaft. Zum Schluss, die Werkzeuge. Laut Turcotte gibt es sie mittlerweile in vielen Ländern, aber nicht immer werden sie voll ausgeschöpft: In der Tat gibt es Dutzende von Richtlinien wissenschaftlicher Gesellschaften, die nicht umgesetzt werden, und Hunderte von Verbänden, Stiftungen und Bewegungen, die auf erster Linie auf soziale Veränderungen drängen, die jedoch nicht immer das richtige Gehör finden.

ÄLTERE MIGRANTEN - Der letzte Vortrag des Tages war der von Claudio Bolzman, Soziologe und ordentlicher Dozent an der Haute Ecole Spécialisée de Suisse Occidentale in Genf, der „Woanders leben und sterben - die Betreuung der Bevölkerung älterer Migranten“ gewidmet war. Auch in diesem Fall ist es zum Verständnis notwendig, immer das Umfeld zu berücksichtigen: Allein im Jahr 2020 ist die Bevölkerung älterer Migranten um 10 % gestiegen, und die bereits steigende Tendenz wird sich mit der Ankunft der ukrainischen Flüchtlinge beschleunigen, von denen viele alt und krank sind. Jeder der älteren Migranten aller Nationalitäten bringt seinen Hintergrund und seinen Weg mit: Einige sind seit Jahren in der Schweiz und altern daher in einem System, das sie kennen und in dem sie Wurzeln und Beziehungen haben; andere kommen bereits im Alter oder zur Pflege an, oder zur Familienzusammenführung oder aufgrund von Entscheidungen nach der Pensionierung. Aus dieser Sicht ist das Adjektiv kaleidoskopisch zur Beschreibung der Situation durchaus passend. Das Hauptproblem ist die Inklusivität, d. h. wie versucht werden soll, möglichst viele ausländische ältere Menschen in den Therapieverlauf einzubeziehen, unter Berücksichtigung ihrer Singularität, aber auch ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (die niemals eine aus einer Verallgemeinerung resultierende Abstraktion wie „die Chinesen“ sein darf). Die Sichtweise muss immer empathisch und respektvoll sein und über den Dialog mögliche Lücken füllen, zum Beispiel über Gewohnheiten oder religiöse und kulturelle Bindungen an bestimmte medizinische Praktiken. Man muss sich auch stets daran erinnern, dass der Migrant ein Trauma, einen Kontrollverlust, ein Gefühl des Verlassenseins erlebt und daher im Krankheitsfall generell verletzlicher ist, wie dies bei den ukrainischen Flüchtlingen deutlich wird. Laut einem kürzlich erschienenen Artikel der wissenschaftlichen Zeitschrift Lancet, der der Ukraine gewidmet ist, haben über 3,8 Millionen Menschen verschiedene Arten von Behandlungen, auch onkologische, unterbrochen, und einige von ihnen haben es geschafft, ins Ausland zu gehen. Aber unter welchen Bedingungen? Fast nie bringen die Patienten die erforderlichen Gesundheitsakten mit, die ihren unterbrochenen Weg aufzeigen. Wenn es sie es tun, erfolgt dies normalerweise in ukrainischer Sprache, was die Verfügbarkeit sehr genauer und spezialisierter Übersetzungsdienste impliziert. Hinzu kommt, dass die Therapie, der die Kranken in ihrer Heimat unterzogen wurden, in anderen Ländern nicht unbedingt verfügbar ist, obwohl fast alle europäischen Staaten seit den ersten Tagen des Konflikts erklärt haben, dass sie bereit sind, auch Kranke aufzunehmen. Die Realität sieht jedoch anders auch, denn die Unterstützung Tausender neuer komplexer Patienten mit Gesundheitssystemen, die bereits in Schwierigkeiten sind, um den durch die Pandemie verlorenen Raum zurückzugewinnen, und die Eingliederung von Menschen mit einer unsicheren bürokratischen Situation sowie von traumatisierten und fragilen, macht alles sehr komplex, manchmal schwierig. 

Auch die Vorbereitung auf den Tod muss die Würde und die Werte des Patienten und seiner Familie respektieren. Grundlegend ist in den letzten Momenten die Bereitstellung von Dolmetschern, Vermittlern und Geistlichen sowie die Interaktion mit geschultem Personal. All dies ist natürlich kostenspielig und erfordert oft Verfahren, die aus dem Rahmen ausbrechen.

DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN KOSTEN UND NUTZEN - Luca Crivelli, Direktor der Abteilung für Betriebswirtschaft, Gesundheit und Soziales der Scuola Universitaria Professionale della Svizzera Italiana (SUPSI - Fachhochschule der italienischen Schweiz) ging schliesslich auf die wirtschaftlichen Aspekte der Palliativpflege ein, die oft wenig beachtet werden, aber in Wirklichkeit entscheidend sind. Tatsächlich sollte die Palliation immer auf der Grundlage eines Grundsatzes bewertet werden: Dem Verhältnis zwischen Kosten und Zweckmässigkeit. In anderen Worten, es sollte immer bewertet werden, ob ein bestimmter Eingriff - in diesem speziellen Fall für Menschen, die oft auf dem Weg zu ihrem Lebensende sind - Geldverschwendung oder eher eine Investition darstellt. Nach einer detaillierten Übersicht über die Kosten des Lebensendes in der Schweiz, deren Variabilität je nach Region, dem Sterbeort und dem Verlauf des letzten Lebensjahres, erläuterte Crivelli eine Kosten-Nutzen-Analyse der Palliativpflege und zeigte, wie 231 Millionen ausgegeben wurden, um 2.730 Menschen am Ende ihres Lebens zu betreuen. Daher die entscheidende Frage: Was wäre passiert, wenn die Palliativpflege schon viel früher zu Hause begonnen hätte? Die Antwort ist in mehreren Studien enthalten, die von Crivellli selbst und von anderen Experten durchgeführt und durch Analysen der dedizierten Cochrane-Gruppe bestätigt wurden: Die Ausgaben für Krankenhausaufenthalte und Behandlungen pro Tag wären viel geringer gewesen und vor allem hätten die Kranken länger überlebt, was ihnen auch eine bessere Lebensqualität zugesichert hätte. Daher der ethische Wert einer Entscheidung, die jedoch auch aus wirtschaftlicher Sicht günstig ist. Und auch das ist eine der Visionen des Kaleidoskops der Palliativpflege.