materialien und technologien

Organische Abfälle durch Insekten recyceln: die experimentelle Idee
will zur „Industrie“ werden

Freitag, 21. Januar 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Gespräch mit Elisa Filippi, Gründerin von Ticinsect, einem Start-up, das von verschiedenen Geldgebern unterstützt wird. Die Larven ernähren sich von Lebensmittelabfällen und werden danach zu Proteinmehl
von Elisa Buson

Sind Sie es gewohnt, zu Leuten, die Sie nerven, zu sagen „du bist lästig wie eine Fliege“? Nichts falscher als das. Es ist wesentlich besser zu sagen „du bist nützlich wie eine Fliege“. Besser gesagt, eine Fliegenlarve. Wie die aus der Aufzucht von Ticinsect, dem Luganer Startup, das diese kleinen Insekten verwendet, um organische Abfälle in wertvolle Proteine für Tierfutter, Öl für Energiezwecke und biologischer Dünger für den Erdboden umzuwandeln, im Hinblick auf immer grünere Kreislaufwirtschaft. Derzeit im Start-Up Center der Università della Svizzera Italiana (USI) inkubiert und vom Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG) unterstützt, entstand Ticinsect aus der Intuition einer Frau, die vor vielen Jahren (lange vor Greta Thunberg und den Friday´s for Future) begann, einen Traum zu verwirklichen: Nahrung zu produzieren, ohne den Planeten zu zerstören.

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«Als ich die Fakultät für Veterinärmedizin an der Staatlichen Universität Mailand besuchte, war es bereits klar, dass wir bald nicht mehr genug Nahrung für alle haben würden und Insekten eine wirksame Lösung für das Problem sein könnten», erzählt Elisa Filippi, Gründerin und CEO von Ticinsect. Im Bewusstsein ihres technisch-wissenschaftlichen Wissens und einem Executive Master of Business Administration am MIP der Technischen Hochschule Mailand, hat Elisa ihre Idee Tag für Tag gepflegt, wobei sie sich eine „Allianz“ zwischen Mensch und Insekten vorgestellt hat, um die Tierzucht immer nachhaltiger zu machen. «Der Wendepunkt kam 2017, als die Europäische Union den Verkauf der ersten Lebensmittel auf Insektenbasis genehmigte und damit die Türen zu einem gigantischen Markt öffnete, der in fiebriger Erwartung war - erinnert Filippi. - Ich war erst vor kurzem ins Tessin gezogen und habe hier eine Machbarkeitsstudie begonnen: So habe ich entdeckt, dass, obwohl die Gesetzgebung bereits existierte, niemand Insekten für die Herstellung von Futtermitteln züchtete». Damals führte allein EAWAG Forschungen zu diesem Thema durch und wurde deshalb sofort Partner von Ticinsect. Seinem wissenschaftlichen Beitrag ist es auch zu verdanken, dass das 2018 gegründete Startup begonnen hat, Larven der Soldatenfliege (Hermetia illucens) zu züchten, «einen phantastischen „Motor“ der Biokonversion, der in der Lage ist, Abfälle in wertvolle Produkte umzuwandeln», bemerkt Filippi. 

Unter zahlreichen Insekten wurde die Soldatenfliege aufgrund zweier entscheidender Merkmale ausgewählt: Der rasant schnelle Stoffwechsel und die sehr kurze Lebensdauer. Nach dem Ablegen des Eis schlüpft die Larve nach 5 Tagen: Sie lebt ungefähr zwei Wochen und über diesen gesamten Zeitraum tut sie nichts anderes als Fressen und Wachsen. Wenn sie eine Länge von 2 Zentimetern erreicht, wird sie, vor dem Übergang in das Stadium der erwachsenen Fliege und daher vor der vollständigen Entwicklung des Nervensystems, in Proteinmehl für Tierfutter umgewandelt. «Der Gedanke, dass Insekten in der Nahrungsmittelkette landen, kann beunruhigend sein, aber aus biologischer Sicht ist das Essen einer Schweinekeule oder einer Insektenlarve nicht viel anders - erläutert Filippi. - Es bestehen keine Gesundheitsrisiken und es treten weniger ethische Probleme auf als bei der rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die derzeit für die Ernährung von Tier und Mensch besteht».

Der grosse Vorteil der Soldatenfliege besteht darin, dass sie intensiv gezüchtet werden kann, ohne die Umwelt zu schädigen. «In der Pilotanlage von Ticinsect in Tesserete - erklärt die CEO - haben wir eine vertikalisierte Aufzucht mit mehreren Millionen Larven: Sie leben in hochdichten Kisten mit jeweils 20-40 Tausend Exemplaren». Es ist nur allzu leicht ihre Gefrässigkeit zu stillen, wenn man bedenkt, dass die Larven in der Natur praktisch jedes biologische Produkt und sogar faulige fressen: Aus hygienisch-gesundheitlichen Gründen verlangt das Gesetz jedoch ein kontrolliertes „Menü“, das nur aus Lebensmittelabfällen besteht, die nicht auf den Teller des Verbrauchers gelangt sind, wie zum Beispiel Kartoffelschalen, Kaffeesatz, mangelhafte Kekse oder verschimmeltes Brot.

«Aus 10 Tonnen organischer Abfälle können wir eine Tonne saubere Larven gewinnen, die, so wie sie sind, an Tiere verfüttert werden könnten (derzeit erlaubt das schweizerische Gesetz dies jedoch nicht) oder sie können in 300 Kilogramm Trockenmehl verwandelt werden, aus dem Tierfutter für Rinder, Schweine, Geflügel, aber auch für Hunde, Katzen, Zierfische und Versuchstiere besteht», präzisiert Filippi. Der gesamte Produktionsprozess verbraucht kaum Wasser und Land und produziert weder Abfälle noch CO2-Emissionen: Aus diesem Grund erhielt Ticinsect 2021 vom WWF der italienischen Schweiz zusammen mit Fossil-Free Schweiz die Auszeichnung Fossil-Free und strebt bis 2023 die Zertifizierung für negative CO2-Emissionen an. Sehr wichtige Ziele für ein so junges Start-up. 

«Von Anfang an haben wir unser Projekt mit allen Mitteln verteidigt und uns ausschliesslich auf unsere wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Ressourcen verlassen - behauptet Filippi stolz. - Ich und meine Mitgründerin Elena Bittante haben daran geglaubt, als die Idee, Insekten zu nutzen, noch niemanden interessierte. Im Jahr 2018 haben wir am Wettbewerb Boldbrain Startup Challenge teilgenommen, bei dem wir den dritten Platz belegten, und sind somit in das USI Startup Centre aufgenommen worden: Eine wertvolle Gelegenheit, die uns einen gemeinsamen Arbeitsbereich ermöglicht hat, an dem wir unter Anleitung von Mentoren und Coaches wachsen können. Danach haben wir durch Crownfunding die Debatte über Insekten in der öffentlichen Meinung des Tessins entzündet und die Unterstützung zahlreicher Personen erhalten, die uns vertraut haben». Nach und nach kamen auch öffentliche und private Geldgeber, wie Schweizer Berghilfe, Stiftung Agire und Ente Regionale per lo Sviluppo del Luganese (ERSL). Im letzten Jahr ist das Interesse schliesslich regelrecht explodiert, möglicherweise im Zuge der Umweltproteste und der Cop26, die den Klimawandel wieder zu einer der Prioritäten der weltpolitischen Agenda gemacht hat.

«Unsere Branche bleibt weiterhin kompliziert, aber jetzt herrscht eine extrem prickelnde, überaus positive und ermutigende Atmosphäre - gibt Filippi zu. - Momentan produziert unsere Pilotanlage in Tesserete einige hundert Kilogramm Mehl für den Versuchseinsatz, aber das Ziel für 2022 ist weiter zu wachsen: Wir planen unseren ersten Industriestandort, der es uns ermöglicht, bereits im ersten Jahr 40-50 Tonnen Mehl zu produzieren, um danach bei vollem Einsatz auf 500-700 Tonnen anzusteigen. Ein entscheidender Schritt, um Marktführer zu werden».