COMPUTERBIOLOGIE

Entwicklung neuer Medikamente dank leistungsstarker virtueller «Zoomobjektive»

Freitag, 25. Oktober 2019 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Hochmoderne Technik, die unter anderem von der Università della Svizzera italiana entwickelt wurde, steht nun allen Forschern auf der internationalen Datenbank PLUMED-NEST zur Verfügung. Interview mit Vittorio Limongelli
von Paolo Rossi Castelli

Seit einigen Wochen haben Forscher aus aller Welt freien Zugriff auf eine Spitzentechnologie, die unter anderem vom Institut für Wissenschaftliches Rechnen der Università della Svizzera italiana (USI) entwickelt wurde. Mithilfe dieser Technologie, die auf dem Einsatz virtueller Mikroskope mit aussergewöhnlich leistungsstarkem Zoomobjektiv basiert, kann man buchstäblich sehen, was passiert, wenn zwei Moleküle aufeinandertreffen. Die vom internationalen Konsortium PLUMED, dem auch die USI angehört, unterzeichnete Meldung wurde auf den Seiten der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Nature Methods veröffentlicht (die Informationen sind über das Archiv PLUMED-NEST zugänglich). Die Technik der virtuellen Mikroskope wird die Arbeit derjenigen, die Medikamente erforschen und entwickeln, erheblich erleichtern und ist Teil der grossen Welt der boomenden Computerbiologie (die für Leute, die nicht vom Fach sind, alles andere als transparent ist ...). Doch worum handelt es sich genau? Diese Frage haben wir Vittorio Limongelli, Professor für Pharmakologie an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI und sehr aktiver Forscher im PLUMED-Konsortium, gestellt.

«Was man unter Computerbiologie versteht? Dieser Begriff umfasst – so Limongelli – alle Wissenschaften, die Computer einsetzen, um biologische Vorgänge zu untersuchen. Zu vage formuliert? In unserem Fall, an der USI, verwenden wir chemisch-physikalische Modelle, um sowohl bestehende als auch neue Medikamente zu untersuchen.»

Wie sieht euer Arbeitsablauf in der Praxis aus?

«Wir simulieren die potenzielle (oder effektive) Wirkung eines Arzneimittels am Computer, um anschliessend im Labor Experimente an Tieren und gegebenenfalls auch an Menschen durchzuführen. Fachsprachlich ausgedrückt, entwickeln wir neue Algorithmen und Protokolle, um die Stärke der Interaktion zwischen dem Medikament und seinem biologischen Target zu quantifizieren.»

Sie sprachen vorhin von bestehenden Medikamenten ... Wurden diese denn nicht bereits in erfolgreich abgeschlossenen Studienphasen, die zu deren Verkauf in den Apotheken führten, erprobt und getestet?

«Ja, das ist richtig. Doch von sehr vielen Medikamenten ist der genaue Wirkungsmechanismus noch nicht geklärt oder nur teilweise bekannt. Es ist jedoch empirisch belegt, dass sie funktionieren. Lassen Sie mich ein klassisches Beispiel nennen: Es ist bekannt, dass Paracetamol, einer der in der täglichen klinischen Praxis am häufigsten als Analgetikum und Antipyretikum eingesetzten Wirkstoffe, auf das Enzym Cyclooxygenase wirkt, jedoch möglicherweise auch andere „Targets“ (andere Proteine) besitzt. Wir müssen allerdings Forschungen anstellen, um herausfinden, um welche Targets es sich handelt, was mit der Computerbiologie viel schneller und mit geringerem Kostenaufwand als mit herkömmlichen Methoden möglich ist. Diese neue Technik hilft uns nicht nur, genauere Kenntnisse über Paracetamol zu erlangen, sondern auch, neue Anwendungen für bereits auf dem Markt befindliche Medikamente zu finden: In der Fachsprache spricht man von „Drug Repositioning“.»

Nun zurück zu den neuen Medikamenten: Seid ihr wirklich in der Lage, mit dem Computer Moleküle herzustellen, die es in der Natur nicht gibt und die ihr deshalb von Grund auf neu erschafft?

«Es handelt sich um ein wichtiges, wenn auch wenig bekanntes Einsatzgebiet der Computerbiologie, das bereits konkrete Ergebnisse – nämlich bereits auf dem Markt befindliche Arzneimittel – vorweisen kann. Um nur einige zu nennen: Captopril, Dorzolamid, Nelfinavir und Squinavir. Selbstverständlich wird die klassische Methode zur Entwicklung neuer Medikamente auch weiterhin verwendet werden. Diese besteht darin, dass man Moleküle, die bereits in der Natur, auf der Erde oder im Meer vorhanden sind (von Pflanzen, Bakterien oder Organismen, die in den Tiefen der Ozeane leben, hergestellte Moleküle ...), untersucht, um zu prüfen, ob sie zur Behandlung einer bestimmten Krankheit nützlich sein könnten. Wenn wir uns unserer Algorithmen bedienen, wählen wir die Targets, die „angegriffen“ werden sollen (z. B. ein verändertes Protein in einer bestimmten Tumorart), hingegen direkt aus und versuchen, Moleküle zu „entwerfen“, die auf das ausgewählte Target ausgerichtet sind. Wir haben natürlich nicht die absolute Gewissheit, dass die auf diese Weise ausgewählten neuen Moleküle auch wirklich funktionieren, doch erhöhen wir zweifellos die Erfolgschancen. Die Entwicklung eines neuen Medikaments gleicht sozusagen einem Hindernislauf ... Bei jedem Schritt – selbst nach seinem Inverkehrbringen – kann der „Medikamentenkandidat“ jener Phase der Pharmakovigilanz unterzogen werden, die als „Post-Marketing“ bezeichnet wird.»

Schau in die Galerie Schau in die Galerie Vittorio Limongelli, Professor für Pharmakologie und Computerbiologie an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI
Foto di Loreta Daulte Schau in die Galerie (9 foto)

Womit fangt ihr an, wenn ihr ein neues Forschungsprojekt beginnt?

«In der Regel beginnt ein Forschungsprozess mit einer epidemiologischen Studie. Mit anderen Worten: Man untersucht eine bestimmte (möglichst hohe) Anzahl von Patienten, die an derselben Krankheit leiden, und sucht nach Symptomen, die allen oder fast allen gemein sind. Anschliessend versucht man, herauszufinden, was mit dieser Gruppe nicht stimmt bzw. welche molekularen Mechanismen in den Zellen dieser Menschen Veränderungen aufweisen. Diese Mechanismen werden, sobald wir sie identifiziert haben, zu unserer Zielscheibe.»

Und worin genau besteht dann die Tätigkeit des Medikamentenentwicklers, oder besser gesagt des «Drug Designers», wie ihr euch selbst bezeichnet?

«Für uns ist die Kenntnis der dreidimensionalen Struktur des Targets (es handelt sich fast immer um ein Protein) von grundlegender Bedeutung. Es gibt verschiedene Verfahren zur Ermittlung dieser Struktur. Ich zähle sie auf, ohne ins Detail zu gehen: Röntgenkristallographie, Kernspinresonanz und „Kryo-EM“ (Kryo-Elektronenmikroskopie). Sobald die Struktur des Zielproteins (des Targets des neuen Medikaments) in millionenfacher Vergrösserung auf unseren Computermonitoren erscheint, beginnt die Suche nach den sogenannten Bindungstaschen, also jenen Stellen, die „angegriffen“ werden sollen. Genau an diesem Punkt ist der Einsatz virtueller Mikroskope, die ein „Heranzoomen“ ermöglichen, von ausschlaggebender Bedeutung ...»

Sind besonders leistungsstarke Computer erforderlich?

«Für die erste, einleitende Forschungsphase könnte sogar ein handelsüblicher PC genügen. Wenn man zur nächsten Phase übergehen möchte, sind hingegen sogenannte Supercomputer erforderlich, und die gibt es nur in wenigen ausgewählten Forschungszentren. An der USI stehen uns die hochmodernen Geräte des Nationalen Hochleistungsrechenzentrum der Schweiz (CSCS) mit Sitz direkt in Lugano zur Verfügung. Mithilfe dieser Supercomputer und unserer Algorithmen wählen wir eine Reihe von „Drug Candidates“ bzw. Moleküle aus, die in der Lage zu sein scheinen, auf das Target zu wirken. Selbstverständlich werden dann auch Labortests durchgeführt – zuerst in vitro und dann in vivo, wie man in der Fachsprache sagt (also im Reagenzglas und an Tieren). Ein wesentlicher Teil der Arbeit wird jedoch mithilfe chemisch-physikalischer Verfahren durchgeführt.»

Sie meinten, dass auf diese Weise Kosten eingespart werden ....

«Gewiss wird der gesamte Forschungsprozess dadurch beschleunigt. Er ist zwar nicht gerade kostengünstig, aber man kann sagen, dass er kosteneffizient ist ... Dennoch haben fast immer die Universitäten die Kosten dieser Studien zu tragen, da die Pharmaunternehmen lediglich auf den fahrenden Zug aufspringen. Ich würde es so ausdrücken: Sie greifen erst dann ein, wenn die Forscher bereits Produkte entwickelt haben, die auf dem Markt zumindest potenzielle Erfolgschancen haben. Kurz gesagt, die sogenannte Grundlagenforschung und somit auch das „Drug Design“ erfolgt fast ausschliesslich, und das sage ich mit einem gewissen Stolz, in den Labors und auf dem Gelände der Universitäten ...»

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