Stiftung „Fondazione Sasso Corbaro“

Mehr Empathie und Einbeziehung: eine Studie aus Bellinzona über „Gewalt in der Geburtshilfe“

Montag, 26. Dezember 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Eine Initiative in Zusammenarbeit mit der George Washington University (USA). Die Forschenden werden das Thema Schwangerschaft ganzheitlich betrachten, um Klischees zu überwinden und die tatsächlichen Bedürfnisse der Mütter zu ermitteln
von Patrizia Tamarozzi

Ein internationales Netzwerk von Psychologen, Ärzten, Sprachwissenschaftlern und Soziologen wird sich beiderseits des Atlantiks in die Lage der Mütter versetzen, um die Themen Schwangerschaft und Geburt aus einer anderen Perspektive zu diskutieren. Dies ist das Ziel eines kürzlich gestarteten Forschungsprojekts, in dessen Rahmen die Stiftung „Fondazione Sasso Corbaro“ in Bellinzona und die George Washington University in den Vereinigten Staaten über einen Zeitraum von drei Jahren zusammenarbeiten werden.
«Es handelt sich um eine vergleichende und interdisziplinäre Analyse von Darstellungen der Mutterschaft – erzählt Laura Lazzari Vosti, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung „Fondazione Sasso Corbaro“ im Bereich Medical Humanities sowie Initiatorin und Leiterin dieses Forschungsprojekts für den Schweizer Raum – Ziel ist es, die Erfahrungen von Müttern in der zeitgenössischen Kultur zu ergründen. Hierzu werden Literatur und Wissenschaft in einen Dialog gebracht und neue Modelle entstehen, die das traditionelle, oft einseitige und stereotype Mutterbild in Frage stellen. Mit diesem Projekt wird das Studienfach Motherhood Studies auch in der Schweiz eingeführt. Dieses Studienfach ermöglicht es, Schwangerschaft, Geburt und postnatale Betreuung aus einem ganzheitlichen Blickwinkel zu analysieren, um zu verstehen, was Mütter wirklich erwarten und brauchen».

Darüber hinaus wird dieses Forschungsprojekt zu einem besseren Verständnis der Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Studie der Berner Fachhochschule (BFH) beitragen, aus der hervorgeht, dass etwa 27 Prozent der frischgebackenen Mütter in der Schweiz die Geburt immer noch als Trauma erleben und angeben, in gewisser Hinsicht Zwangsmassnahmen ausgesetzt gewesen zu sein. Eine besorgniserregende Zahl, die aber immer noch mit dem europäischen Prozentsatzes von etwa 30 Prozent übereinstimmt.                           
Unzureichende Kommunikation mit dem medizinischen und gynäkologischen Personal, übermässige Medikalisierung der Geburt und ein zu häufiger Einsatz von Techniken wie Kaiserschnitt, Dammschnitt und Kristeller-Handgriff (manueller Druck auf den Gebärmutterfundus während einer Wehe): So lauten die häufigsten Beschwerden der Mütter. Auch die neuen Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehlen einen geringeren Einsatz des Kaiserschnitts und geben als Optimalwert (zum Wohl von Mutter und Kind) einen Prozentsatz von 10-15 Prozent an. In der Schweiz (und in den meisten westeuropäischen Ländern) hingegen liegt die Kaiserschnittrate bei etwa 30 Prozent aller Entbindungen.

«Gebärende kommen immer mit der Erwartung einer physiologischen Geburt ins Spital, die jedoch manchmal zum Schutz der Gesundheit von Mutter und Kind nicht möglich ist. Es kann vorkommen, dass die Geburt mit Medikamenten eingeleitet werden muss oder dass ein Kaiserschnitt notwendig ist», erklärt Andrea Papadia, Chefarzt der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe am Regionalspital Lugano und Leiter der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe des Ente Ospedaliero Cantonale (EOC). «In solchen Fällen ist es jedoch sehr wichtig, die Frau und ihren Partner ausreichend über die Gründe für eine bestimmte unumgängliche Entscheidung zu informieren. Zudem sollte man bedenken, dass im Hinblick auf die Kaiserschnitt-Technik grosse Fortschritte erzielt wurden: So wird beispielsweise der sogenannte „sanfte Kaiserschnitt“ durchgeführt, bei dem der Vater anwesend sein kann, um gemeinsam mit der Mutter die Geburt des Kindes mitzuverfolgen, das im Anschluss sofort an die Brust gelegt werden kann. Der vieldiskutierte Kristeller-Handgriff wird nicht mehr angewendet. Ich bin der Meinung, dass er generell vermieden werden sollte und allenfalls der Einsatz von Saugglocken vorzuziehen ist. Es ist auf jeden Fall von wesentlicher Bedeutung, den Geburtsablauf mit den werdenden Eltern genau zu besprechen».

Tatsächlich betrachten laut der von der BFH durchgeführten Studie 87 Prozent der Frauen die Einbeziehung als einen wesentlichen Aspekt und wollen sich zusammen mit dem Fachpersonal an allen Entscheidungen beteiligen.

«Viele Frauen fürchten sich vor dem Dammschnitt, sie haben Ängste, die jedoch oft unbegründet sind – so Annalisa Ruzittu, Pflegekoordinatorin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe des EOC und Leiterin der Pflegeabteilung – Gebärende müssen darüber Bescheid wissen, dass diese Technik nur dann angewendet wird, wenn die Mutter besondere klinische Anzeichen zeigt oder das Kind gefährdet ist, sodass die Geburt beschleunigt werden muss. Das Wohl von Mutter und Kind muss stets im Mittelpunkt stehen. Im Allgemeinen nimmt die Zahl der Dammschnitte jedoch stetig ab» (ein Dammschnitt ist ein chirurgischer Schnitt im Dammbereich zwischen dem Scheideneingang und dem Anus).

Eine stärkere Einbeziehung der Frauen und eine vermehrt auf Empathie ausgerichtete Schulung des Personals: In diese Richtung bewegen sich die Schweizer Spitäler, um das Geburtserleben zu verbessern. «Das Ziel ist, dass Frauen ihren individuellen Weg zur Entbindung frei entscheiden und zu nichts gezwungen werden – fährt Annalisa Ruzittu fort – Wir bitten die Mütter zum Beispiel, dem Spital einen „Geburtsplan“ vorzulegen, in dem sie ihre Erwartungen und Vorlieben beschreiben, wie z. B. Hintergrundmusik und gedämpftes Licht. Der Berner Studie zufolge beklagen sich 39 Prozent der Gebärenden darüber, dass sie während der Wehen fast zum Stillhalten gezwungen werden. Eine beunruhigende Zahl, wenn man bedenkt, dass es in dieser Phase sehr hilfreich ist, herumzulaufen, wenn es keine besonderen Probleme gibt. Die Frauen müssen den Weg wählen können, der für sie am besten geeignet ist: Es ist zum Beispiel nicht gesagt, dass die klassische Rückenlage immer die beste Geburtsposition ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die vorgeschlagen werden sollten: eine Geburt im Sitzen auf dem Maya-Hocker oder eine Wassergeburt in der Wanne. Ausserdem sollte das Paar sowohl vor als auch nach der Geburt begleitet werden: Unsere Geburtsvorbereitungskurse enden drei oder vier Wochen nach der Entbindung mit einer abendlichen Gesprächs- und Austauschrunde für Eltern, die oft zum ersten Mal nach dem Abendessen ausgehen. Abschliessend vermitteln wir jeder Frau eine freiberufliche Hebamme, die sie in der ersten Zeit nach der Geburt begleitet».

Kurz gesagt, „Gewalt in der Geburtshilfe“ ist ein Thema, auf das sich viele Bemühungen und Initiativen konzentrieren. Ein Beispiel hierfür sind die monatlichen Treffen der Selbsthilfegruppe des Vereins „Nascere Bene“ in Lugano.