BILANZ

Technologien für die Medizin: 120 Unternehmen, Innovation, ein starker Mehrwert für das Tessin

Freitag, 28. Juli 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
(Foto Genny Mobility)
(Foto Genny Mobility)

Gemeinsam mit Giuseppe Perale, dem neu ernannten Präsidenten von Swiss Medtech Ticino, ziehen wir Bilanz über einen bedeutenden Sektor mit Unternehmen von absoluter Spitzenqualität. Die Zusammenarbeit mit USI und SUPSI ist grundlegend
von Elisa Buson

 

 

Der Rollstuhl für Behinderte bewegt sich jetzt auf zwei und nicht mehr auf vier Rädern, um wendiger und freihändig über jedes Gelände zu fahren, sogar über Schotter, Sand und Schnee: Um ihn zu steuern genügt es den Schwerpunkt zu verlagern, wie bei einem Hoverboard. Und der weisse Blindenstock? Heute wird er mit einer intelligenten Brille kombiniert, die nicht nur Hindernisse auf dem Boden, sondern auch höher gelegene erkennt und über ein vibrierendes elektronisches Armband die Gefahr eines Zusammenpralls signalisiert. Diese beiden konkreten Beispiele genügen, um zu verstehen, wie sich das Leben der Menschen dank neuer medizinischer und biomedizinischer Technologien "made in Ticino" zum Besseren wendet. Prothesen, Patientenhilfsmittel und medizinische Geräte sind das Ergebnis eines sich ständig erweiternden Industriesektors, der nun mit vereinten Kräften neue und noch ehrgeizigere Ziele erreichen will. Dies berichtet Giuseppe Perale, Präsident des neu gegründeten Vereins Swiss Medtech Ticino.

«In unserem Kanton sind mehr als 120 Unternehmen direkt und indirekt in diesem Sektor tätig: Gemeinsam mit der Handelskammer führen wir eine erste Erhebung durch, um diese vielfältige Welt, die auf Exzellenz auf höchstem Niveau setzt, besser zu definieren», erklärt Perale. «Es gibt Unternehmen, die sich ausschliesslich mit biomedizinischen Geräten befassen, von der Forschung und Entwicklung bis zur Produktion und Vermarktung, aber auch solche, die sich auf die Produktion von Rohstoffen (z.B. Spezialmetalle), Software oder elektronische Komponenten spezialisiert haben, und solche, die sich mit der Entwicklung von technologischen Plattformen oder nur mit dem Verkauf von medizinischen Produkten befassen». Das Tessin zeichnet sich seit jeher in den Bereichen der Prothetik und Traumatologie aus. «Denken wir zum Beispiel an Medacta, ein Familienunternehmen, das vor drei Jahrzehnten gegründet wurde, oder an Jabil, das mit mehr als 600 Beschäftigten am Standort Mezzovico eine wichtige verwandte Industrie hervorbringt, oder an den Sitz des französischen Konzerns Marle in Sant’Antonino, der zeigt, wie attraktiv unser Gebiet für grosse internationale Akteure in Forschung und Produktion sein kann», fährt Perale fort.

In jüngerer Zeit ist es dem Kanton gelungen, erstklassige und weltweit anerkannte Kompetenzen zu entwickeln, auch dank Investitionen in strategische Sektoren wie die Elektronik und innovative Technologien mit starkem digitalem Schwerpunkt. «Dies gilt beispielsweise für die selbstbalancierenden Rollstühle von Genny Factory, die Geräte für Sehbehinderte von Lighthouse Tech oder die sensorbasierten Technologien für die Rehabilitation von Gondola Medical Technologies», so Perale. «Unser Sektor lebt von der Innovation, ob sie nun intern entwickelt wird oder das Ergebnis der Zusammenarbeit mit anderen Sektoren ist: Im Durchschnitt werden mehr als 10 % des Umsatzes unseres Sektors für Forschung und Entwicklung aufgewendet». Die Zusammenarbeit mit der akademischen Welt des Tessins, insbesondere mit der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Universität Lugano (USI) und der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI), sorgt ebenfalls für frischen Wind.

Es ist kein Zufall, dass der gebürtige Venezianer Perale das Tessin für sein biomedizinisches Unternehmen IBI-SA, gewählt hat, das sich auf Gewebetechnik und regenerative Medizin spezialisiert hat. «Wir stellen Knochenersatzmaterialien her, sozusagen "Ersatzteile", die im Falle eines Bruchs implantiert werden können und im Laufe der Zeit resorbiert und durch neues lebendes Knochengewebe ersetzt werden», erklärt Perale. «Wir sind seit etwa zehn Jahren auf dem Markt und verkaufen in über 35 Ländern. Die Idee wurde geboren, als ich als Post-Doc am Imperial College in London arbeitete und mein Partner Gianni Pertici, heute CEO des Unternehmens, Doktorand am King’s College war: Ich war Bioingenieur mit einem Abschluss am Polytechnikum von Mailand, er Chemieingenieur an der Universität von Pisa. Eines Abends sahen wir uns gemeinsam ein Fussballspiel an und überlegten bei einem Bier, was wir tun würden, wenn wir wieder auf dem alten Kontinent wären. Wir beschlossen, unser Projekt im Tessin zu verwirklichen, weil es ein fruchtbarer Boden für neue Unternehmen ist, ein Ort, an dem es einfach ist, komplexe Dinge zu realisieren, mit weniger bürokratischen und finanziellen Hindernissen als in Italien. Hinzu kommt der Mehrwert von "Swiss made", einem Qualitätslabel für Produkte, das auf dem internationalen Markt anerkannt und geschätzt wird, insbesondere im Bereich der Biowissenschaften». 

EIN BEDEUTENDER SEKTOR IN DER SCHWEIZ - Diesen Erfolg belegen auch die Zahlen von MedTech Schweiz. Mehr als 67’000 Beschäftigte (4’500 neue Arbeitsplätze allein in den letzten zwei Jahren) erwirtschaften einen Umsatz von über 20 Milliarden Franken pro Jahr und tragen 11,5 Prozent zur positiven Handelsbilanz der Schweiz bei (bezogen auf das Jahr 2021). «Der Sektor ist für die Volkswirtschaft von grosser Bedeutung, und deshalb ist es notwendig, eine starke Stimme zu haben, die in Bern gehört wird», so Perale weiter. «Von der Grösse her ist die Schweiz vergleichbar mit einer kleinen Provinzstadt in China: Auf der globalen Bühne ist es daher unerlässlich, sich zu vernetzen und auszutauschen, wenn wir stärker werden und etwas bewirken wollen». 

DER STANDORT TESSIN - In diesem Sinne wurde Swiss Medtech Ticino, der lokale und italienischsprachige "Ableger" des nationalen Verbandes Swiss Medtech, in Zusammenarbeit mit der Handels-, Industrie-, Handwerks- und Dienstleistungskammer des Kantons Tessin (Cc-Ti) nach einer fast zweijährigen Vorbereitungszeit ins Leben gerufen. Der offizielle Start der Aktivitäten im vergangenen November anlässlich der Eröffnungsveranstaltung, die rund 100 Insider in Lugano versammelte, «stellt nur die Spitze des Eisbergs dar», betont der neu ernannte Präsident Perale. «Unsere Arbeit hat schon viele Monate früher begonnen und trägt bereits erste Früchte: Hatten wir im letzten Jahr nur etwas mehr als ein Dutzend Tessiner Mitgliedsunternehmen, so sind es jetzt innerhalb weniger Monate über dreissig.». 

BEZIEHUNGEN ZU BERN - Das Ziel für die Zukunft ist es, die Zahl der Mitglieder zu erhöhen und ihnen immer mehr Vorteile zu bieten, wie z.B. einen leichteren Zugang zu Dienstleistungen, die Möglichkeit, an Vernetzungsveranstaltungen innerhalb und ausserhalb des Kantons teilzunehmen, branchenspezifische thematische Veranstaltungen und eine intensive Verbindungsarbeit mit Bern, um die Interessen der Branche so gut wie möglich zu vertreten. Im März wurde im Auditorium von Mezzovico eine grosse, öffentlich zugängliche Veranstaltung organisiert, um zu zeigen, was alles "hinter den Kulissen" für den Verband geleistet wird, wie z.B. die intensive Lobbyarbeit, die zu der Motion geführt hat, mit der die Bundesversammlung den Bundesrat beauftragt, das nationale Recht zu ändern, damit in der Schweiz neben Medizinprodukten mit EU-Zertifikat und CE-Kennzeichnung auch Medizinprodukte anerkannt werden, die von der Food and Drug Administration (FDA, der Behörde, die die Prüfung und den Handel mit Arzneimitteln in den Vereinigten Staaten regelt) zugelassen sind. «Es handelt sich um eine lang ersehnte Massnahme», erklärt Perale, «die den Unternehmen bei der Vereinfachung der regulatorischen Angelegenheiten helfen und den Patienten Zugang zu Produkten verschaffen wird, die sie sonst aufgrund des Scheiterns der bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union nicht mehr bekommen würden». Doch damit sind die Kämpfe für Swiss MedTech noch nicht ausgestanden. Zu den dringlichsten Angelegenheiten gehört der «Kurswechsel Europas in der Zertifizierungspolitik für Medizinprodukte. Die x-te Verlängerung des neuen Regulierungspakets bis 2027 birgt die Gefahr einer verheerenden Instabilität und Ungewissheit für den europäischen Markt, mit Folgen sowohl für unsere Unternehmen als auch für die Versorgung der Schweizer Spitäler mit Medizinprodukten. Dies ist ein Thema, bei dem unser Verband bereits viel Druck ausübt: Wir wollen die nationalen Entscheidungsträger ersuchen, so schnell wie möglich mit Europa zu verhandeln, die Situation so schnell wie möglich zu klären und pragmatisch einen Arbeitsplan festzulegen, der zum einen den Schutz der Patienten ermöglicht und zum anderen diesen Wirtschaftszweig wirksam unterstützt».

(Dieser Artikel wurde für die Kolumne Ticino Scienza der Tageszeitung LaRegione von Bellinzona verfasst) 

 

 

 

 

 

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