KLINISCHE STUDIEN

Komplexe Versorgung, bessere Betreuung: Ausbau der Pflegeforschung am EOC

Sonntag, 27. November 2022 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Pflegekräfte im Ospedale Civico in Lugano (Foto: Loreta Daulte)
Pflegekräfte im Ospedale Civico in Lugano (Foto: Loreta Daulte)

Die Zahl der jährlichen Publikationen ist seit 2018 von 67 auf 133 gestiegen. Die Forschungsergebnisse wurden am Tag der Innovation und Forschung in der Pflege präsentiert, anlässlich dessen auf dem Campus Est in Lugano knapp 200 Fachleute zusammenkamen
von Elisa Buson

Wenn Sie denken, dass nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an Labortischen mit Mikroskopen und Reagenzgläsern hantieren, Forschung betreiben können, irren Sie sich gewaltig. Auch Krankenschwestern und Krankenpfleger führen Studien durch und veröffentlichen sie, um die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und die Weiterentwicklung des Pflegeberufs zu fördern. Davon zeugen die Forschungsergebnisse, die am Tag der Innovation und Forschung in der Pflege präsentiert wurden, anlässlich dessen auf dem Campus Est der USI-SUPSI in Lugano knapp 200 Fachleute zusammenkamen, die entweder persönlich anwesend waren oder aus der Ferne teilnahmen. Mit dieser Veranstaltung wollte der Tessiner Spitalverbund Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) die zahlreichen Beiträge, die die Pflegekräfte in den verschiedenen Bereichen der Pflege und Betreuung sowohl im Hinblick auf die Forschung als auch auf die Innovation in der klinischen Praxis leisten, aufzeigen und mit anderen teilen: Zu den in dieser zweiten Ausgabe diskutierten Neuheiten zählen fünf Studien, die im letzten Jahr am EOC durchgeführt wurden, sowie fünf Abschlussarbeiten des an der SUPSI angebotenen Masterstudiengangs in Pflegewissenschaft und 40 ausgestellte Poster.

«Am EOC wird schon seit mehreren Jahren Pflegeforschung betrieben – erzählt Pflegedirektorin Annette Biegger – doch die Forschungsaktivitäten wurden vor allem seit 2018 intensiviert: Die Zahl der jährlichen Publikationen ist von 67 auf 133 gestiegen, und die der im Peer-Review-Verfahren begutachteten Artikel von 10 auf 26.» Es werden zahlreiche Themen behandelt: von der Betreuung komplexer Patienten über die Sturzprävention im Spital bis hin zu den effektivsten Verbandstechniken und Strategien zur Entlastung der Station.

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Natürlich können sich nicht alle Krankenschwestern und -pfleger als Forscher versuchen. «Es ist eine spezifische Ausbildung mit mindestens einem Masterabschluss in Pflegewissenschaft erforderlich, der ab 2018 dank des an der SUPSI angebotenen Masterstudiengangs auch im Tessin erworben werden kann», erläutert Biegger. «Nach dem Masterabschluss kann ein Doktorat absolviert werden, das derzeit entweder an den Universitäten Lausanne und Basel oder im Ausland erworben werden kann».

An jedem Standort des EOC gibt es eine Pflegekraft, die in der Forschung tätig ist. «Oft sind es Fachleute, die 100 Prozent ihrer Zeit dieser Tätigkeit widmen, aber es kommt auch vor, dass Krankenschwestern und -pfleger ihren Arbeitstag zwischen Forschung und der Arbeit am Patientenbett aufteilen» fügt die Pflegedirektorin hinzu. Das Schlagwort lautet für alle von ihnen Austausch: Deshalb «treffen sie sich einmal im Monat, um Erfahrungen auszutauschen und unter anderem im Rahmen nationaler und internationaler Kooperationsnetzwerke die Prioritäten festzulegen, auf die sie sich konzentrieren wollen».

Der Tag der Innovation und Forschung in der Pflege war eine einmalige Gelegenheit, diese oft verkannte Realität näher kennenzulernen und die neuen Perspektiven eines im Grossen und Ganzen noch „jungen“ Berufs, nämlich des Krankenpflegers und der Krankenschwester, zu entdecken: Dieser Beruf, den es erst seit 150 Jahren gibt (was angesichts der jahrtausendealten Geschichte des Arztberufs eine äusserst kurze Zeitspanne ist), sieht sich heute mit immer anspruchsvolleren Herausforderungen konfrontiert. Die Entwicklung der Gesundheitssysteme, der Wandel der Patiententypen, der beschleunigte technologische Fortschritt und die Verlagerung der Versorgung vom Spital in den ambulanten und häuslichen Bereich erfordern immer grössere Kompetenzen. Aus diesem Grund wurde nach dem Vorbild der angelsächsischen Länder auch im Tessin ein neues Berufsbild eingeführt, nämlich das einer qualifizierten Betreuungs- und Pflegekraft, die als Advanced Practice Nurse (APN) – bzw. „Pflegeexperte/Pflegeexpertin APN für eine erweiterte Pflegepraxis“ – bezeichnet wird.

https://www.ticinoscienza.ch/images/article/GiovanniPresta.jpgGiovanni Presta, Pflegeexperte APN

Der erste Tessiner, dem dieser Titel verliehen wurde, ist Giovanni Presta, Pflegekoordinator der spezialisierten Krebszentren „Centri Oncologici Specialistici“ und des Prostatakrebszentrums „Centro Prostata della Svizzera italiana“. Der 1990 geborene Pflegeexperte APN absolvierte sein Studium in Pflegewissenschaft an der SUPSI. 2012 nahm er seine Tätigkeit am Onkologischen Institut der italienischen Schweiz auf und erwarb 2015 das Spezialisierungsdiplom in Onkologie an der SUPSI. «Während dieser Zeit hatte ich die Möglichkeit, ein Praktikum in Kanada am Princess Margaret Cancer Centre in Toronto zu absolvieren, wo ich das Berufsbild des Pflegeexperten APN kennenlernte», erzählt Presta. «Hierbei handelt es sich um eine Pflegefachperson, die über fortgeschrittene und erweiterte Kompetenzen im Vergleich zum traditionellen Pflegebereich verfügt, in vielfältigen Kontexten tätig ist und mit einem spezialisierten interprofessionellen Team zusammenarbeitet. Die Arbeit eines Pflegeexperten oder einer Pflegeexpertin APN fällt allerdings stets in den Bereich des Pflegeberufs, der durch einen komplementären Ansatz gekennzeichnet ist, welcher sich jedoch von dem eines Arztes oder einer Ärztin unterscheidet. Ich definiere diese Art von Ansatz gerne als ganzheitlichen Pflegeansatz, d. h. als eine Art des Handelns und Patientenumgangs, bei der alle Aspekte berücksichtigt werden, die das „Wesen“ der Patienten ausmachen: psychologische, soziale, relationale, spirituelle und finanzielle Aspekte».

Da ihn diese neue Perspektive faszinierte, absolvierte Presta den ersten an der SUPSI angebotenen Master of Science in Krankenpflege und wurde daraufhin vom Verein APN-CH, der das entsprechende Schweizer Berufsregister führt, als Pflegeexperte APN anerkannt.

«Im Tessin sind wir noch mit dem Aufbau dieser neuen Rolle beschäftigt, weshalb es noch keine entsprechende rechtliche Anerkennung gibt, was aber hoffentlich bald der Fall sein wird», so Presta. «Derzeit arbeite ich als Pflegekraft der zweiten Qualifikationsebene, d. h. ich bin nicht am Patientenbett tätig, sondern biete Beratungsleistungen an. Meine Aufgabe ist es, die Patientinnen und Patienten rundum zu unterstützen, indem ich die Arbeit aller beteiligten Fachleute integriere und koordiniere, ohne dabei in jemandes Zuständigkeitsbereich einzugreifen. Genauer gesagt, versuche ich, zu verstehen, welche Bedürfnisse die Patientinnen und Patienten haben und welche Erwartungen sie an den Behandlungsweg und die Lebensqualität stellen, um ihnen zu helfen, die besten Lösungen für Probleme und Schwierigkeiten zu finden. Dies bedeutet zum Beispiel, sie über Behandlungsdetails aufzuklären, die sie möglicherweise vor lauter Aufregung während der ärztlichen Untersuchung nicht richtig verstanden haben; ihnen Informationen darüber zu geben, was sie nach der Entlassung aus dem Spital erwartet; sie anschliessend zu Hause telefonisch zu betreuen, bei der Lösung bürokratischer Probleme zu unterstützen und gegebenenfalls mit Personen in Verbindung zu setzen, die ihnen psychologische und soziale Unterstützung bieten können.» Allein im vergangenen Jahr hat Presta mehr als hundert Patientinnen und Patienten betreut. «Wir haben zahlreiche positive Rückmeldungen erhalten: Diese Form der Betreuung sorgt bei den Patientinnen und Patienten für mehr Zufriedenheit, Sicherheit und Gelassenheit, da sie stets wissen, wo sie die Antworten finden, die sie brauchen».