wissenschaftliche veröffentlichung

Kinder schützen, um Gewalt zu stoppen „Bevor es geschieht“

Freitag, 20. Mai 2022 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana

Vom 23. Bis 25. Mai findet in Lugano der von der Fondazione ASPI organisierte Kongress für Prävention von Gewalt an Kindern und Kindesmisshandlung statt. Leider ist das Phänomen sehr weit verbreitet. Im Fokus die Familien und Schulen
von Valeria Camia

Das Ausmass des Problems ist enorm, aber nur wenige kennen die Einzelheiten: Wir sprechen von Gewalt gegen Kinder. Nach groben Schätzungen von UNICEF werden weltweit jedes Jahr 0,5-1,5 Milliarden Kinder körperlich misshandelt. In der Praxis handelt es sich um jedes zweite Kind. Alle fünf Minuten stirbt ein Kind an den erlittenen Misshandlungen. Zwischen 133 und 275 Millionen Minderjährige sind Zeugen von Gewalttaten in der Familie; stets im häuslichen Umfeld, werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen 30-40 % der Kinder zwischen 2 und 14 Jahren zu Hause körperlich bestraft oder angegriffen. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder ist in erster Linie eine moralische Angelegenheit. Hinzu kommen auch wirtschaftliche Aspekte, sowie Gründe, die die Kosten des öffentlichen Gesundheitswesens betreffen, wie uns Sabine Rakotomalala (Mitglied des technischen Stabs der Weltgesundheitsorganisation) und QuentinWodon (Ökonom bei der Weltbank) erklären. Die Experten werden anlässlich des Internationalen Kongresses für Prävention von Gewalt an Kindern und Kindesmisshandlung (0-18 Jahre) in Lugano sein, der vom 23.-25. Mai 2022 im Kongresszentrum stattfinden wird und von der Fondazione ASPI - Aiuto, Sostegno e Protezione dell’Infanzia veranstaltet wird, eine gemeinnützige Stiftung der italienischen Schweiz, deren Mission es ist, jede Form von Gewalt, Misshandlung und sexuellem Missbrauch von Minderjährigen zu verhindern. Der Kongress nennt sich „Bevor es geschieht!“ und will die Bedeutung der Primärprävention von der Politik bis zu Institutionen, Medien, Freizeit, Schule und Familie ins Rampenlicht rücken. Angeboten werden Konferenzen, die auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich sind und an denen zahlreiche Experten aus verschiedenen Teilen der Welt, beginnend mit der Schweiz, teilnehmen werden. Ja, denn auch in unserem Land werden jedes Jahr zwischen 30.000 und 50.000 Kinder (zwischen 2 und 3,3 % der Kinderbevölkerung) von Organisationen des Kinderschutzes betreut, aber viele Fälle bleiben unbemerkt.

https://www.ticinoscienza.ch/images/article/SabineRakotomalala.jpgSabine Rakotomalala (WHO)

DIE WISSENSCHAFTLICHEN BELEGE - Es gibt zahlreiche Studien zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von Gewalt gegen Minderjährige und die WHO unterstreicht als erste das Ausmass des Phänomens, indem sie Kindesmisshandlung als „die Hauptursache für gesundheitliche Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit von Kindern in Europa“ definiert. Es gibt genügend wissenschaftliche Belege und Studien interdisziplinärer Teams, die die Folgen der Gewalt gegen Kinder auf die biopsychosoziale Gesundheit des Kindes von heute und des Erwachsenen von morgen sowie auf die Gesellschaft als Ganzes beweisen. Kurz gesagt stellen die verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung ein komplexes soziales und gesundheitliches Problem dar, eine Belastung für das Opfer, aber gleichzeitig auch enorme Kosten für die Gesellschaft, wie Myriam Caranzano, wissenschaftliche Beraterin der Fondazione ASPI, verdeutlicht.

Ähnlich wie bei anderen Formen der Gewalt hinterlässt Gewalt gegen Kinder jahrelange Konsequenzen für den Betroffenen. Auch nachdem die gewaltbedingten Brüche und Schnittwunden verheilt sind, bleiben andere Spuren bestehen: Sie reichen zum Beispiel von Depression bis zu Angstzuständen, Übergewicht, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizid, HIV und Herz-Kreislauf-Problemen. Es gibt Lernverzögerungen und Gedächtnisprobleme im Zusammenhang mit schwerer Gewalt in der Kindheit und nicht selten werden Opfer und Zeugen selbst zu Tätern, wodurch sich der Kreislauf der Gewalt fortsetzt. Nun, wie uns Sabine Rakotomalala in Erinnerung ruft, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen aufgrund von Krankheitsanfälligkeit, Behinderung, Produktivitätsverlust und Tod infolge von Gewalt beträchtlich: Beispielsweise würden einigen Schätzungen zufolge die Kosten der Gewalt (insgesamt) in den Vereinigten Staaten 585 Milliarden Dollar erreichen; in Südafrika gehen über dreizehneinhalb Milliarden durch Gewalt in der Kindheit verloren, während weltweit physische, psychologische und sexuelle Gewalt gegen Kinder Kosten verursacht, die auf etwa 8 % des weltweiten BIP pro Jahr geschätzt werden.

https://www.ticinoscienza.ch/images/article/QuentinWodon.jpgQuentin Wodon (Weltbank)

ZUNAHME DER ANZEIGEN - In den letzten Jahren ist dank der Arbeit verschiedener Kommissionen und Kinderorganisationen die Zahl der angezeigten Gewalttaten gewachsen: Es erscheint widersinnig, aber es ist eine „gute Sache“, weil es ein Zeichen für das Engagement ist, Misshandlungen aufzudecken. Rakotomalala erklärt es uns: Eines der grossen Probleme im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch besteht darin, dass sie unbemerkt bleiben. Kurzum, wir sehen nur ungefähr 13 % der Misshandlungen im Kindesalter: «Man schätzt - betont die Expertin - dass sexuelle Gewalttaten um mindestens 30 % höher liegen als angezeigt wird, und dass körperliche Gewalttaten 75 % mehr sind, als die offiziellen Daten aussagen.»

Prävention ist sicher eines der grundlegenden Instrumente zur Bekämpfung von Gewalt im privaten und nicht privaten Kontext. Nehmen wir beispielsweise den Bereich der Schulerziehung: Wenn der Schulbesuch ein Recht jedes Kindes ist - im Übrigen in der Konvention über die Rechte des Kindes verankert - gehören Mobbing und andere Formen von Gewalt in Bildungseinrichtungen zu den Hauptursachen für Schulabbruch mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Wohlergehen und die Gesundheit der Kinder und Folgen im Erwachsenenalter, die sich in wirtschaftlicher Hinsicht an der Verringerung des Einkommens und der Arbeitsproduktivität messen lassen. Dies unterstreicht Quentin Wodon, der den jüngsten Bericht der Weltbank „Ending Violence in Schools: An Investment Case” herausgegeben hat. Die Schlussfolgerungen des Dokuments, die auf statistischen Analysen verfügbarer Daten beruhen und aus verschiedenen internationalen Schülerbeurteilungen stammen (z. B. aus dem berühmten Programme for International Student Assessment - PISA), zeigen, dass sich die schulischen Leistungen verbessern, wenn Gewalt beseitigt wird. Am Telefon erklärt uns Quentin Wodon, dass die Schlussfolgerungen des Berichts „Ending Violence in Schools“ hauptsächlich auf Studien beruhen, die in Ländern der Ersten Welt, Europa und den Vereinigten Staaten durchgeführt wurden. Einige Untersuchungen wurden jedoch auch in anderen Ländern durchgeführt und bestätigen das Gesagte. Beispielsweise ergaben Daten aus zehn französischsprachigen Ländern Afrikas, dass fast zwei Drittel der Schüler angeben, von Lehrern geschlagen worden zu sein: Dort wo Gewalt und körperliche Bestrafung abgeschafft werden, würden die Durchschnittsergebnisse in Lesen und Mathematik steigen.

AUFMERKSAMKEIT AUF DIE QUELLEN - Die Qualität und Verfügbarkeit von Daten gehören sicher zu den brennendsten Problemen, mit denen Wissenschaftler und diejenigen konfrontiert sind, die sich mit der Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder befassen, um diese anzuzeigen, gibt es ausserhalb des schulischen Kontexts nicht viele Möglichkeiten, wenn nicht auf Erhebungen an verschiedenen Stichproben von Privathaushalten zurückzugreifen und so weit wie möglich direkt Kinder ohne ihre Eltern einzubeziehen. Selbst dort, wo man versucht, die Daten der Anzeigen abzugleichen, die von Sozialdiensten oder Polizeizentren kommen, «arbeiten die Stellen nicht immer koordiniert - erklärt Rakotomalala. - Die Gesundheitspolitik ist meist durch lange Praktiken gekennzeichnet, und die Betreuung des missbrauchten Kindes erfordert mehrere Schritte, die der Effizienz abträglich sind. Das Ergebnis ist eine Verlangsamung bei der Bewältigung des Problems». Dies betrifft auch die Schweiz. In einer 2018 von dem UBS Optimus Foundation durchgeführten Studie liest man, dass Schweizer Schulen im Vergleich zu den gemeldeten Fällen nur 9 % der Missbrauchsfälle registrieren, wobei grosse Unterschiede innerhalb des Landes bestehen, wie - erinnert sich auch die Expertin der WHO - da je nach Wohnort die Jungen und Mädchen unterschiedliche Zugangsebenen zur Unterstützung haben.

Kurzum, die Erfassung des Phänomens hat sich bisher sowohl in schulischen als auch ausserschulischen Kontexten als schwierig erwiesen. Wenn jedoch Prävention, wie gesagt, eine wesentliche Waffe bleibt, sind sich die Experten gleichermassen einig, dass drei Akteure stärker einbezogen werden müssen: Gesundheitswesen, Schule und Familie.

Für Rakotomalala ist es in erster Linie dringend, dem Gesundheitspersonal zu helfen, frühe Anzeichen von Missbrauch zu erkennen und sich um die Opfer zu kümmern, beispielsweise durch die Förderung und Verbesserung der «Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren, die mit missbrauchten Kindern in Kontakt kommen». In der Schweiz wird das Genfer Krankenhaus von der Expertin als gutes Beispiel dafür genannt, wie Ärzte, Krankenpfleger und Sozialarbeiter sich koordiniert um missbrauchte Kinder kümmern und interdisziplinär arbeiten. 

DIE BEDEUTUNG DER SCHULEN - Eine grundlegende Rolle kommt dann den Schulen zu, die aufgerufen sind, nicht nur psychologische Unterstützung, sondern auch Programme zur Sensibilisierung gegen die verschiedenen Arten von Gewalt anzubieten, damit junge Menschen die Misshandlungen erkennen und sich selbst als Objekt solcher Übergriffe und Misshandlungen erkennen können. Ein Musterbeispiel für die Bedeutung der Einbeziehung von Schulen und ihren Akteuren kommt aus Uganda, wo das Good School Toolkit, ein Programm, das mit Lehrern, Mitarbeitern und Schülern zusammenarbeitet, um positive Disziplin und Empathie zu fördern. «Nach 18 Monaten Umsetzung ist die Zahl der Lehrer, die berichteten, körperliche Gewalt gegen Schüler angewendet zu haben, um die Hälfte zurückgegangen» - ruft der Ökonom bei der Weltbank in Erinnerung. 

Schliesslich - so Rakotomalala abschliessend - sollten die Eltern und die anderen Bezugspersonen nicht vergessen werden. Frischgebackenen Müttern und Vätern sollte beispielsweise durch spezielle Kurse sofort „beigebracht“ werden, wie wichtig es ist, ein Verhältnis mit dem Kind aufzubauen, das auf Zuneigung, Vertrauen, Respekt und Zuverlässigkeit beruht, aber es sollte auch betont werden, wie schädlich und kontraproduktiv es ist, auf körperliche Züchtigung zurückzugreifen.

Für alle, die evidenzbasierte Lösungen zur Beendigung von Gewalt gegen Kinder und in verschiedenen Bereichen (Umsetzung und Anwendung der Gesetze; Normen und Werte; sichere Umgebungen; Unterstützung für Eltern und Betreuer; Einkommens- und Wirtschaftsstärkung; Reaktions- und Unterstützungsleistungen; Bildung und Lebenskompetenzen) vertiefen möchten, haben WHO, UNICEF, die Weltbank und viele weitere Partner INSPIRE: SEVEN STRATEGIES FOR ENDING VIOLENCE AGAINST CHILDREN entwickelt. Das Massnahmenpaket kann in 14 Sprachen hier heruntergeladen werden.