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IRSOL, eine zweite Weltraummission zur Erfassung neuer Informationen über die Magnetfelder der Sonne

Sonntag, 17. Oktober 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Eine NASA-Rakete wurde mithilfe der vom Institut für Sonnenforschung in Locarno entwickelten Ausrüstung erfolgreich gestartet und in eine Höhe von 300 Kilometern befördert. Zugleich wurde ein wissenschaftliches «Paradox» gelöst, für das man seit 25 Jahren eine Erklärung sucht
von Elisa Buson

Es ist immer das Gleiche: Wenn der Kuchen schmeckt, möchte man sofort ein weiteres Stück davon. Und dann noch eines. Egal, ob es um einen Kuchen oder die Sonne geht, man kann einfach nicht genug davon bekommen. Die «unersättlichen» Physiker des Instituts für Sonnenforschung in Locarno (IRSOL) kennen das nur allzu gut: Nachdem sie im April 2019 mit der Weltraummission CLASP-2 ein «Stückchen» Sonne gekostet hatten, beschlossen sie, noch mehr davon zu kosten, und zwar mit der neuen Blitzmission CLASP-2.1, die am vergangenen 8. Oktober im Rahmen einer wichtigen internationalen Zusammenarbeit erfolgreich gestartet wurde. Bei dieser Zusammenarbeit stehen die Physiker an der Seite hochkarätiger Partner wie der NASA, der Stanford University und dem National Astronomical Observatory of Japan in der ersten Reihe.
Die CLASP-2.1-Mission wurde extrem schnell vorbereitet, da «es sich um einen „re-flight“ bzw. eine Wiederholung des letzten Experiments handelt, dessen Ausrüstung zum Grossteil wiederverwendet werden konnte», erzählt Luca Belluzzi, wissenschaftlicher Gruppenleiter am IRSOL. Auch diesmal ging es darum, eine Raketensonde der NASA über die Erdatmosphäre hinaus in eine Höhe von knapp 300 Kilometern zu senden, um in nur fünf Minuten möglichst viele Daten über die ultraviolette Strahlung der Sonne zu erfassen. Diese birgt nämlich das Geheimnis der Magnetfelder in den äussersten Schichten der Sonnenatmosphäre, in denen heftige Phänomene entstehen, deren Auswirkungen wir selbst auf der Erde spüren könnten. 

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Der Start der Rakete von der Militärbasis White Sands in New Mexico machte den europäischen Partnern der Mission schwer zu schaffen. «Schuld daran war die Pandemie, denn aufgrund der Schliessung der US-Grenzen mussten viele von uns darauf verzichten, dem Start der Rakete beizuwohnen, darunter Professor Javier Trujillo Bueno vom Institut für Astrophysik der Kanarischen Inseln (Instituto de Astrofísica de Canarias, IAC), einer der Leiter des gesamten Projekts und in gewisser Weise der „Vater“ der CLASP-Experimente. Zum Glück – so Belluzzi – konnte Ernest Alsina Ballester, einer unserer Kollegen, der einen amerikanischen Reisepass besitzt, nach Übersee fliegen. Er arbeitete bis Februar bei uns am IRSOL und ist jetzt beim IAC auf Teneriffa angestellt.» An der Militärbasis angekommen, arbeitete Alsina Ballester zusammen mit seinen amerikanischen Kollegen eifrig daran, die interessantesten Bereiche der Sonne (im Hinblick auf die magnetische Aktivität) zu identifizieren, auf die sich die Mission konzentrieren sollte. Das für diese Untersuchung verwendete Gerät, das Spektropolarimeter CLASP (Chromospheric LAyer SpectroPolarimeter), verfügt über einen kleinen Spalt, über den man einen winzigen Ausschnitt der Sonne beobachten kann: Bei der CLASP-2.1-Mission wurde diese Messung mehrmals wiederholt, um viele kleine, nahe beieinander liegende Ausschnitte zu scannen und zu einem zweidimensionalen Bild zusammenzufügen.

Die Forscher müssen nun die im ultravioletten Spektrum des Sonnenlichts beobachteten Signale interpretieren, die wertvolle Informationen über die Magnetfelder in der oberen Chromosphäre, der dünnen Übergangsschicht der Sonnenatmosphäre zwischen Photosphäre und Korona, enthalten. Im Rahmen dieser Untersuchung, die eine Ergänzung der Studie über die Magnetfelder in der unteren Chromosphäre darstellt, werden Signale analysiert, die im sichtbaren Spektrum des Sonnenlichts beobachtet und nicht mittels Raketensonden aus dem Weltraum, sondern von der Erde aus aufgenommen werden. Auch auf diesem Forschungsgebiet mangelt es nicht an Ergebnissen, wie eine wichtige Studie beweist, die kürzlich in Physical Review Letters (der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift der American Physical Society) veröffentlicht wurde und es dem IRSOL ermöglichte, der Lösung eines seit einem Vierteljahrhundert ungeklärten Rätsels seinen Stempel aufzudrücken.
Alles begann 1996, als im Rahmen von Professor Jan Olof Stenflos Pionierarbeit bei der Untersuchung des Sonnenlichts mit dem Polarimeter ZIMPOL (Zurich Imaging POLarimeter) der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) auf völlig unerwartete Weise ein rätselhaftes Signal entdeckt wurde. «Es handelte sich um eine zukunftsweisende Studie, da das Gerät sogar sehr schwache Signale mit einer aussergewöhnlichen Präzision erfasste und es somit erstmals ermöglichte, die Polarisation des Sonnenlichts zu untersuchen», erinnert sich Belluzzi, der damals noch Student war. Bei der systematischen Analyse des gesamten Spektrums entdeckte man plötzlich ein deutliches Signal mit der Frequenz einer bestimmten, als D1 bezeichneten «Linie» (einer der dunkleren Bereiche des Spektrums), die von in der Sonnenatmosphäre vorhandenen Natriumatomen erzeugt wird. Dieses Signal hätte zumindest einer ersten Anwendung der quantenmechanischen Theorie zufolge nicht vorhanden sein dürfen, weshalb die Interpretation seiner Präsenz sofort eine rege wissenschaftliche Debatte auslöste. 1998 kam es zu einer deutlichen Zuspitzung der Debatte, als Professor Egidio Landi Degl’Innocenti in der Zeitschrift Nature eine Erklärung des Phänomens veröffentlichte, die jedoch eine völlig magnetfeldfreie Chromosphäre voraussetzte und somit im Widerspruch zu einer Reihe von Nachweisen stand, die hingegen darauf hindeuteten, dass dieser Bereich von Magnetfeldern geprägt sei. Dies führte zu einem Paradox, das die Sonnenphysiker jahrelang beschäftigen sollte, zu Laborversuchen motivierte und einige von ihnen dazu veranlasste, sich die Frage zu stellen, ob unser Verständnis der Quantentheorie im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung möglicherweise noch unvollständig sei. 

Den ersten Schritt zur Lösung des Rätsels machten 2013 Luca Belluzzi und Javier Trujillo Bueno am IAC. «Es war uns gelungen, einen alternativen Mechanismus zu identifizieren, mit dem wir das Auftreten des polarimetrischen Signals in der Natrium-D1-Linie erklären konnten, ohne auf das Paradox zu stossen. Allerdings beruhte das von uns entwickelte Modell auf vereinfachenden Annahmen, die weder die Magnetfelder noch die Auswirkungen der Zusammenstösse von Atomen in der Sonnenatmosphäre berücksichtigten, wobei es sich um zwei Faktoren handelt, die das Signal in Wirklichkeit annullieren hätten können», erklärt der Experte. Dieser neue Mechanismus basiert auf kleinen, aus den Eigenschaften des Sonnenlichts abgeleiteten Variationen in sehr eng begrenzten Frequenzbereichen innerhalb der D1-Linie, Variationen, die man in allen früheren Studien als nicht wichtig erachtet und somit unberücksichtigt gelassen hatte. Fasziniert von diesem Thema, schlug Belluzzi 2017 dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ein neues Forschungsprojekt vor, um die Studie fortsetzen und ihr die fehlenden «Zutaten» hinzufügen zu können: Nicht nur aus rechnerischer, sondern auch aus theoretischer Sicht eine schwierige Aufgabe, die er zusammen mit seinen Kollegen Alsina Ballester und Trujillo Bueno in Angriff nahm. «Dank eines perfekten Timings entwickelte eine französische Kollegin, Frau Doktor Veronique Bommier, kurz vor Beginn des Forschungsprojekts eine Theorie zur Entstehung von Polarisation, die es uns ermöglicht hat, alle Puzzleteile zusammenzufügen und ein fundiertes Ergebnis, das ohne Näherungen auskommt, zu erhalten. Wir waren hocherfreut, als wir feststellten, dass alle Berechnungen selbst im Hinblick auf die Magnetfelder und Zusammenstösse von Atomen stimmten», bemerkt Belluzzi. Die Veröffentlichung der Studie im August führte zu vielen positiven Reaktionen, denn «jetzt, da wir den Ursprung des Polarisationssignals in der D1-Linie kennen, können wir daraus Informationen über die Magnetfelder in der Chromosphäre ableiten». Das von Landi Degl’Innocenti formulierte Paradox ist nun gelöst, doch ist noch nicht geklärt, warum das Signal nicht gleich bleibt, sondern jedes Mal geringe Unterschiede im Profil aufweist. «Wir haben bereits Hypothesen aufgestellt, es liegt jedoch noch viel Arbeit vor uns. Es gibt noch weitere Geheimnisse der D1-Linie zu entschlüsseln», so Belluzzi abschliessend.