Anxiolytika

Immer noch zu viele Psychopharmaka,besonders für ältere Menschen. Im Fokusdie Benzodiazepine

Sonntag, 12. März 2023 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
(Foto Shutterstock)
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Eine Studie von Fabrizio Mazzonna (Institut für politische Ökonomie der USI) zur Bewertung der wirtschaftlichen und sozialen sowie der gesundheitlichen Schäden mit Forschern aus Lausanne und Rotterdam. Neue Richtlinien sind nötig
von Agnese Codignola

In der Schweiz nehmen schätzungsweise drei von hundert Menschen regelmässig Benzodiazepine ein, auch über längere Zeiträume (drei oder in einigen Fällen sogar 12 aufeinanderfolgende Monate), ein Wert, der bei älteren Menschen auf bis zu 20 % steigen kann. Aber diese Psychopharmaka, die je nach ihrer chemischen Struktur mehr oder weniger stark anxiolytisch, hypnotisch oder schlaffördernd (das heisst, das Einschlafen stimulieren oder zu einem regelmässigeren Schlaf verhelfen), antidepressiv, sedierend, muskelrelaxierend usw. wirken, sollten nie länger als zwei oder drei Wochen am Stück eingenommen werden – nach den Angaben der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft – da sie abhängig machen, keine spürbaren Wirkungen mehr haben und mit anderen Therapien interagieren können. Warum scheinen sich dann viele Menschen nicht an diese offiziellen Richtlinien zu halten, weder die Ärzte, die sie verschreiben, noch die Patienten, die sie einnehmen? Und welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen (die gesundheitlichen Folgen sind bekannt) kann dies alles haben?

Um auf diese Frage zu antworten und die Auswirkungen weit verbreiteter, kostengünstiger Medikamente, deren Konsum während der Pandemie erheblich angestiegen ist, genauer zu definieren, hat Fabrizio Mazzonna, ordentlicher Professor des Instituts für politische Ökonomie der Università della Svizzera italiana (USI) eine Studie mit dem Titel „Health and economic consequences of low-value mental health care: the case of benzodiazepines“ begonnen, die kürzlich vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) finanziert wurde.

Mazzonna, der seit mehreren Jahren die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen psychischer Erkrankungen untersucht, spricht so von den wichtigsten Aspekten einer Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit Joachim Marti, Assistenzprofessor für Gesundheitswirtschaft der Universität Lausanne, und Pieter Bakx, ebenfalls Assistenzprofessor für Gesundheitswirtschaft, jedoch an der Erasmus University in Rotterdam in Holland, entstanden ist: «Der Ziel ist zweierlei: Die Analyse der Ursachen des Phänomens, insbesondere durch Überprüfung der Rolle der Ärzte und der Interaktion mit den Patienten, und die Untersuchung der langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit und die Arbeitstätigkeit der Menschen, die diese Medikamente über einen längeren Zeitraum einnehmen. Zur Durchführung dieser Studie verwenden wir zwei Datensätze, die aus zwei sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen stammen: Dem holländischen und dem schweizerischen». In Holland, erklärt Mazzonna (der seinen Abschluss an der Universität Tor Vergata in Rom machte und sich dann mehrere Jahre lang zuerst in London am University College und danach in Lausanne und in Deutschland, in München, spezialisierte, und dann im Tessin landete), ist das rein öffentliche Gesundheitssystem an den Hausarzt gebunden, den sich die Patienten nicht aussuchen, und von dem alle nachfolgenden Untersuchungen und Therapien abhängen. Es liegen also sehr homogene Rahmenbedingungen vor, die sich für eine wissenschaftliche Analyse gut eignen: Jeder Patient erhält tatsächlich die gleiche Art der Versorgung, auf der Grundlage vorgegebener Wege, wobei die einzige Variante an die persönlichen Überzeugungen des Arztes geknüpft ist, insbesondere wenn es um die Verschreibung von Arzneimitteln geht. 

«Die holländischen Daten – erklärt Mazzonna – stellen eine fast ideale Kohorte (eine Gruppe) dar, um die Auswirkungen auf Patienten der unterschiedlichen Tendenzen des Arztes, Benzodiazepine zu verschreiben oder nicht, zu untersuchen und zu verstehen, welche Folgen diese Medikamente für Gesundheit und Arbeit haben. In einem System, wie dem schweizerischen hingegen, – fährt Mazzonna fort – gibt es die freie Wahl des Arztes und die Rahmenbedingungen sind weniger homogen, sowohl aus geografischer Sicht als auch in Bezug auf das Versicherungssystem, das eine zentrale Rolle spielt. In diesem Fall kommen andere Variablen ins Spiel, die ebenfalls ausgewertet werden müssen, um dann die beiden Datensätze zu vergleichen».

Um zu überprüfen, was im Laufe der Zeit geschieht, wenn Benzodiazepine regelmässig eingenommen werden, ist es im Allgemeinen möglich, einige sehr aussagekräftige Parameter zu analysieren: Zum Beispiel das Einkommen in den Jahren nach Beginn der Behandlung, die Arztkosten, die Arbeitsausfälle und so weiter, denn, wie Mazzonna erklärt, «wer diese Medikamente ohne unterstützende psychologische Therapie (jeglicher Art) einnimmt, riskiert eine Verschlechterung. Und dies wirkt sich auf die verschiedenen Bereiche seines Daseins aus, vom Arbeitsleben bis zum medizinischen Bereich». 

Man hofft, eindeutige Daten zu erhalten, auf deren Grundlage Anregungen für Aufklärungskampagnen gegeben werden können, die sich an Ärzte und die allgemeine Bevölkerung richten, um die Wahrnehmung dieser Medikamente zu verändern, die zudem sehr wenig kosten und somit allgemein zugänglich sind. Wenn die Daten danach ausreichen sollten, könnten die Verschreibungsrichtlinien geändert werden, um mit Behandlungsfehlern zu vieler Ärzte Schluss zu machen. «Im Übrigen – betont Mazzonna – gibt es viele internationale Initiativen, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind, wie beispielsweise die mit dem Namen Choosing Wisely. Nichtsdestotrotz sind solidere wissenschaftliche Beweise für die potentiellen negativen Auswirkungen erforderlich, die sich aus der Einnahme dieser Medikamente über einen langen Zeitraum ergeben sowie Angaben darüber, wie sie verwendet werden können, um den grösstmöglichen Nutzen zu erzielen, ohne sich Risiken auszusetzen. Darüber hinaus – fügt Mazzonna hinzu – wird die Tatsache, dass Benzodiazepine zu oft in Verbindung mit Antidepressiva und sogar mit Opiaten verabreicht werden, nicht gebührend berücksichtigt, ganz zu schweigen von den anderen Therapien, die fast immer von der über 65-jährigen Bevölkerung angewendet werden, also derjenigen, die diese Medikamente am meisten konsumiert».

All dies wird noch wichtiger, wenn man berücksichtigt, was in den letzten Jahren nach der Pandemie geschehen ist: Weltweit gab es in fast allen Altersgruppen eine exponentielle Zunahme von Angst- und Depressionsfällen, einen deutlichen Anstieg der Selbstmorde, der Essstörungen und aller Erscheinungsformen psychischer Probleme. Störungen, auf die zu oft mit der Verschreibung von Benzodiazepinen reagiert wurde und reagiert wird, und sonst nichts. Aber welche Folgen wird ein solcher Ansatz in den kommenden Jahren für die Arbeit, die wirtschaftliche Lage und natürlich die Gesundheit der Patienten haben? 

Man wird es erst im Laufe der Zeit erkennen können und auch bewerten müssen, wenn die Erwachsenen von heute Senioren sein werden. «Ein weiteres untersuchtes Thema – schliesst Mazzonna ab – betrifft die Folgen einer längeren Einnahme von Benzodiazepinen für ältere Menschen, die weiterhin unabhängig leben, so wie für diejenigen, die in Pflegeheime kommen, wo die Verschreibung von Benzodiazepinen und anderen Psychopharmaka wie zum Beispiel Antidepressiva weit verbreitet ist».

Depression, Angstzustände, Schlafstörungen und allgemeines Unwohlsein verursachen erhebliche soziale Kosten. Aber auch Therapien, die nicht den Vorgaben entsprechend verschrieben, verabreicht oder eingenommen werden, verursachen sie und haben mitunter schwerwiegende Folgen. Untersuchungen, wie die der Gruppe von Mazzonna sind wichtig, weil sie helfen, ein bisher wenig untersuchtes Phänomen besser zu verstehen und folglich eine korrektere Beziehung zu diesen Medikamenten zu haben.