BRAIN AWARENESS WEEK

Eine Woche des Gehirns im
Namen des ewigen Spiels
zwischen Licht und Dunkelheit

Montag, 14. März 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

In der Schweiz und in Dutzenden anderen Ländern auf der ganzen Welt wird eine Reihe von koordinierten Initiativen organiziert, um die Funktionsweise des komplexesten Organs unseres Körpers zu erklären
von Valeria Camia

Eine Woche, die ganz dem Gehirn gewidmet ist: im Tessin, aber auch in der übrigen Schweiz sowie in Dutzenden anderen Ländern auf der ganzen Welt. Die einzelnen Länder sind zeitlich koordiniert (mit Terminen ab dem 14. März), verfügen jedoch über eine umfassende Organisationsautonomie. Im Tessin begann die Woche des Gehirns mit einer öffentlichen Tagung zum Thema «Dinge sehen, beobachten und sich vorstellen» («Vedere, guardare e immaginare») im Kino Lux Art House in Massagno. Zu den Protagonisten der gut besuchten Tagung zählten der Staatsrat Manuele Bertoli, die Psychiaterin und Psychotherapeutin Anna Luisa Bogani, der Neurologe Leonardo Sacco und die Philosophin Francesca Rigotti.

Am 17. März steht im Ospedale Italiano in Viganello mit einem Expertensymposium unter dem Titel «Sehen und Blindheit» («Dalla visione alla cecità») ein zweiter Termin auf dem Programm. Am Mittwoch, dem 23. März, wird schliesslich um 20:15 Uhr erneut im Kino Lux bei freiem Eintritt der Film «Die Stadt der Blinden» nach dem gleichnamigen Buch des Nobelpreisträgers José Saramago gezeigt.

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern

Doch ist es wirklich notwendig, über ein vieldiskutiertes Organ wie das Gehirn zu sprechen? «Ja, absolut», antwortet Alain Kaelin, medizinischer und wissenschaftlicher Leiter des Neurocentro della Svizzera Italiana (EOC), ohne zu zögern. Zusammen mit dem Ideenlabor «Ideatorio» der USI spielte das Neurocentro in Zusammenarbeit mit der Kantonalen Sozialpsychiatrischen Organisation (Organizzazione Sociopsichiatrica Cantonale, OSC) eine zentrale Rolle bei der Organisation der Tessiner «Version» der Woche des Gehirns. «Es stimmt, dass viel über das Gehirn und die damit verbundenen Krankheiten, angefangen bei Alzheimer und Parkinson, diskutiert wird. Es stimmt aber auch, dass Ärzte und Forscher nur äusserst selten die Gelegenheit haben, direkt mit der breiten Öffentlichkeit in Kontakt zu treten, um sie über ihre Arbeit sowie über die Studien zu diesem so komplexen Organ auf dem Laufenden zu halten, ohne dabei etwaige Enttäuschungen und Schwierigkeiten auszuklammern. Die Woche des Gehirns ist eine solche Gelegenheit.»

Die in den 90er Jahren ins Leben gerufene «Woche» sollte laut den Organisatoren die Geschichte einer damals hinsichtlich der Neurowissenschaften als überwältigend empfundenen, von scheinbar rasanten Fortschritten geprägten Zeit erzählen. Endlich hatte man begonnen, zu verstehen (zumindest dem Anschein nach), wodurch neurodegenerative Erkrankungen (Alzheimer und Parkinson) ausgelöst werden, weshalb die Möglichkeit, eine entsprechende Therapie zu finden, in greifbare Nähe gerückt zu sein schien. Darüber hinaus gaben Studien über Rückenmarkverletzungen Anlass zu Hoffnung auf besser geeignete und effizientere Therapien für gelähmte Menschen. «Die Realität hat uns allerdings gelehrt, dass diese Probleme gar nicht so einfach zu lösen sind – fährt Kaelin fort –, nichtsdestotrotz ist es sehr wichtig, die Bürgerinnen und Bürger über unsere Arbeit (es wurden zahlreiche Fortschritte erzielt) sowie über die Zukunftsaussichten, Forschungsprojekte und Behandlungsprogramme auf den neuesten Stand zu bringen

Das Wissenschafts- und Organisationskomitee der Tessiner Woche des Gehirns unter dem Vorsitz von Claudio Städler, Co-Chefarzt der Klinik für Neurologie am Neurocentro, hat beschlossen, sich dieses Jahr, wie bereits erwähnt, dem Thema Dunkelheit (und somit auch der Blindheit) zu widmen. So ging es bei der Eröffnungsveranstaltung (14. März) um die Bedeutung des Lichts und der Dunkelheit. Das von dem Neurobiologen Giovanni Pellegri moderierte Gespräch zwischen den Gästen lieferte zahlreiche Denkanstösse aus den Bereichen Psychiatrie, Neurologie und Philosophie. Begleitet wurde die Veranstaltung von zwei theatralischen Darbietungen durch Lucilla Giagnoni

«Unser Körper, unsere Organe, die Venenräume: Alles in uns befindet sich „im Dunkeln“», erklärt die Philosophin Francesca Rigotti, eine der Referentinnen des Abends, gegenüber Ticino Scienza. Sie ist die Autorin des 2020 vom Verlag Il Mulino herausgegeben Essays «Buio» (dt. «Dunkelheit») und ehemalige Professorin an der Fakultät für Kommunikation, Kultur und Gesellschaft der Università della Svizzera italiana. «Doch auch um uns herum gibt es Tag und Nacht. Licht und Dunkelheit. Kurz gesagt, ist die Dunkelheit bzw. die Abwesenheit von Licht etwas Natürliches. Und dennoch fürchtet sich die Menschheit seit jeher vor der Dunkelheit. Einige prangern die aristotelische Ethik an und werfen ihr vor, mit ihrer Suche nach der „richtigen Mitte“ (für den griechischen Philosophen Aristoteles liegt die Tugend in der richtigen Mitte zwischen zwei fehlerhaften Extremen) für die Polarisierung der Konzepte Licht/Dunkelheit verantwortlich zu sein. «Ich glaube jedoch – fährt Rigotti fort –, dass es sich um etwas dem Menschen Angeborenes und Universelles handelt. Wir kategorisieren, ordnen Dinge hierarchisch, weisen ihnen unterschiedliche Werte zu (z. B. rechts und links, hoch und niedrig; männlich und weiblich) und interpretieren sie. Dies gilt auch für Tag und Nacht sowie Licht und Dunkelheit: In beiden Fällen handelt es sich um Gegenpole, von denen der eine positiv und der andere negativ ist.» 

Kurzum, auch wenn das Wissen seit Galileo Galilei nicht mehr von qualitativen, sondern von quantitativen, messbaren Eindrücken abhängt, basiert unser Denken nach wie vor auf fehlenden Attributen: die Stille, die kein Lärm ist, die Frau, die kein Mann ist, und die Dunkelheit, die kein Licht ist. «Wir fürchten uns vor der Dunkelheit und haben Angst, wenn wir nichts sehen können», so Rigotti. «Es ist schon interessant, wenn man bedenkt, dass die alten Griechen der Blindheit eine orakelhafte Bedeutung zuschrieben. Wir umgeben uns mit künstlichen Lichtquellen und rechtfertigen diese Energieverschwendung und die übermässige Helligkeit, indem wir uns der LED-Lampen bedienen, ohne uns allzu sehr um die Lichtverschmutzung zu kümmern! Das Licht der Strassenlaternen dringt in jeden Winkel unserer Wohnräume. Wenn man nachts von den Hügeln in die Ebene blickt, sieht man ein Kontinuum aus kleinen Lichtpunkten. Mit welchem Ergebnis? Die Kinder von heute – so Rigotti weiter – wissen kaum noch, was Dunkelheit ist.»

Man könnte sagen, dass eine gewisse Ironie darin liegt, zu beobachten, wie unsere negative Vorstellung von der Dunkelheit fast «wissenschaftlich» begründet wird, indem man zum Beispiel auf Begriffe zurückgreift, die für atmosphärische Phänomene verwendet werden. Aber vielleicht verhält es sich auch andersherum, denn «wer weiss, aus welchem Bereich diese Begriffe eigentlich entlehnt sind, also aus der Meteorologie oder doch aus der Ethik: Ein heiterer Himmel ist nicht beängstigend und bringt nichts Schlechtes, genauso wie auch ein heiterer Mensch als sympathisch empfunden wird», erläutert die Philosophin. Wir schätzen «gutes» bzw. meist sonniges Wetter (kalòs kaì agathós bedeutet im Altgriechischen «schön und gut»); doch «sind wir wirklich sicher, dass ein Regentag „schlecht“ ist, wenn es seit Monaten nicht geregnet hat?»

Francesca Rigottis Überlegungen gehen noch weiter und werden metaphysisch (ta metà ta physikà bedeutet im Altgriechischen «das, was nach der Physik kommt»). «Lassen Sie uns einen Moment darüber nachdenken: Was fehlt uns, wenn wir im Dauerlicht-Modus leben? Die Introspektion, die uns allein ein Moment der Besinnung in der Dunkelheit schenken kann. Denn ein Übermass an Licht ist gewiss nicht die wahre Antwort auf die Überwindung der inneren Dunkelheit. Im Gegenteil: In der Dunkelheit oder bei gedämpftem Licht können wir uns am besten konzentrieren und buchstäblich zum Zentrum unseres Seins vordringen. Wir kommen zur Ruhe, entspannen uns, erlangen Zufriedenheit und finden unseren Seelenfrieden.» «“E mentre io guardo la tua pace, dorme/ quello spirto guerrier ch’entro mi rugge“ (Und während ich deinen Frieden geniesse, wird mein unbändiger Kampfgeist besänftigt), lautet der Schluss des 1803 von Ugo Foscolo verfassten Sonetts „Alla sera“ („An den Abend“).»