Wissenschaftliche Ausbildung

Die bestmögliche medizinische Versorgung? Technische Kompetenzenallein genügen nicht

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 10 Minuten lesen In lingua italiana
Guenda Bernegger, Dozentin und Forscherin am Departement für Betriebswirtschaft, Gesundheit und Soziales der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI – Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) (Foto: SUPSI)
Guenda Bernegger, Dozentin und Forscherin am Departement für Betriebswirtschaft, Gesundheit und Soziales der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI – Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) (Foto: SUPSI)

Am 29. März startet an der SUPSI ein Studiengang (Certificate of Advanced Studies) zum Thema „Medical Humanities“, der sich an Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte und andere Mitarbeitende des Gesundheitswesens richtet. Interview mit Koordinatorin Guenda Bernegger
von Monica Piccini

Wie kann der Dialog mit der Kunst den behandelnden Ärzten und Pflegekräften helfen, die eigenen Kompetenzen zu erweitern? Was ist der richtige Zeitpunkt sowohl für den Beginn einer Behandlung als auch für deren Abbruch? Wie wichtig ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient für das Krankheitserleben? Dies sind einige der Fragen, zu deren Beantwortung die sogenannten Medical Humanities beitragen können: Hierbei handelt es sich um ein interdisziplinäres Fachgebiet, das in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten gegründet wurde, diesseits des Ozeans aber immer noch eine „Nische“ darstellt. Es verbindet die biomedizinischen Wissenschaften mit den Geisteswissenschaften (u. a. die Philosophie, Literatur und Psychologie) und der Kunst, wobei der Beitrag der beiden letztgenannten Disziplinen zum Verständnis der Erfahrungen von Patienten und Ärzten, zur Kommunikation und zur kritischen Reflexion über die Versorgungspraxis aufgewertet wird. Der für den 29. März geplante Start des Studiengangs „Medical Humanities, klinische Ethik und narrative Medizin“, der von der Fachhochschule Südschweiz (SUPSI) organisiert wird, bietet die Gelegenheit, mit der Leiterin Guenda Bernegger, die als Dozentin und Forscherin am Departement für Betriebswirtschaft, Gesundheit und Soziales tätig ist, über dieses Thema zu sprechen.

Warum sind wir mit der Ausbildung im Bereich Medical Humanities so weit im Rückstand?

«Der hohe Grad der Spezialisierung der Medizin – so Bernegger – hat dazu geführt, dass man sich weit von den Figuren der humanistischen und philosophischen Ärzte und der Schriftstellerärzte, die die Vergangenheit geprägt haben, entfernt hat. Man denke an Vorbilder wie Čhecov, der den Arztberuf mit der Kunst des Schreibens kombinierte. Heute bleibt in der medizinischen Grundausbildung nur wenig Zeit, sich mit den Geisteswissenschaften zu befassen. Ärztinnen und Ärzte haben nicht einmal genügend Zeit, Romane zu lesen, geschweige denn, selbst welche zu schreiben! Es gibt selbstverständlich Ausnahmen. Es ist daher kein Zufall, dass es sich bei dem Studiengang, der nun von der SUPSI angeboten wird, um ein weiterbildendes Studium handelt (d. h. um ein CAS bzw. „Certificate of Advanced Studies“, das ein Jahr dauert), das denjenigen, die bereits über Kenntnisse und Erfahrungen im klinischen Bereich verfügen, eine geisteswissenschaftliche Vertiefung bietet: Dieses Weiterbildungsstudium ist das Erbe eines Masterstudiengangs, der Anfang der 2000er Jahre von der Universität Insubrien und der Stiftung „Fondazione Sasso Corbaro“, die die Reflexion und Verbreitung dieser Themen im Tessin angeregt hat, ins Leben gerufen wurde». 

Dieser Studiengang ist dringend notwendig!

«Ja, wir brauchen diesen interdisziplinären und zugleich intersubjektiven Ansatz tatsächlich, vor allem, wenn es stimmt, dass – um den Anthropologen Marc Augé zu paraphrasieren – Krankheit immer ein Ereignis darstellt, das zu gross ist, um von einem einzelnen Individuum bewältigt und von der medizinischen Wissenschaft allein in Angriff genommen zu werden».

Was ist das Ziel des von Ihnen koordinierten Studiengangs in Medical Humanities?

«Das weiterbildende Studium richtet sich an ausgebildete Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialbereich (u. a. Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Psychologen, Ärzte und Erzieher). Einerseits zielt es darauf ab, diesen Fachkräften Instrumente zur Verfügung zu stellen, die eine Betreuung ermöglichen, welche ein besonderes Augenmerk auf die Einzigartigkeit des Individuums legt. Zu diesem Zweck werden zum Beispiel die Fähigkeit des Zuhörens und das Verständnis für die Perspektive des Gegenübers gefördert. Andererseits zielt das Studium darauf ab – und das ist sein grosses Ziel –, den Fachkräften eine humanistische Sichtweise und Tiefe zu vermitteln, um ein erfüllendes Berufsleben und folglich mehr Zufriedenheit zu gewährleisten und so die enormen Anstrengungen auszugleichen, denen sie ausgesetzt sind und die die Gefahr eines Burn-outs in sich bergen».

Wie ist das CAS aufgebaut?

«Es umfasst zwölf zweitägige Module mit einer Gesamtdauer von 24 Tagen, die über einen Zeitraum von 14 Monaten verteilt sind. Alle Module sind gleich aufgebaut und bestehen aus fünf Abschnitten, die durch unterschiedliche disziplinäre Ansätze gekennzeichnet sind: Phänomenologie, Klinik, Kunst, klinische Ethik und narrative Medizin. Innerhalb dieser Bereiche werden wiederum folgende Themen behandelt: die Dauer, die Antizipation, die Wartezeit, die zyklische Zeit, der richtige Zeitpunkt, die Atmosphäre, die Intimsphäre, der Körper im Raum, der institutionelle Raum, die Sprache, die Poesie, die Geschichte, Erfahrungsberichte usw. Theoretische Vorlesungen wechseln sich mit Seminareinheiten ab; klinische Überlegungen werden unterschiedlichen Perspektiven – von künstlerischen bis hin zu literarischen – gegenübergestellt; und nicht nur die analytische Sprache und das evidenzbasierte Wissen, sondern auch die erzählerische Sprache und das erfahrungsbasierte Wissen finden Raum und sind gleichermassen relevant. Es werden zahlreiche nationale und internationale Referentinnen und Referenten zu Wort kommen, von Vertreterinnen und Vertretern der medizinischen Disziplinen bis hin zu solchen aus der Welt der Kultur (darunter Paolo Cattorini, Adriana Cavarero, Valentina Di Bernardo, Gilberto Di Petta, Fabio Pusterla, und Andrea Raballo)».

Zu den drei Hauptthemen des Studiums, die mit einem interdisziplinären Ansatz behandelt werden, zählen die zeitliche, räumliche und sprachliche Komponente. In welchem Zusammenhang stehen diese Komponenten mit dem Behandlungsverlauf?

«Die Dimensionen Zeit, Raum und Sprache spielen eine zentrale Rolle im Hinblick auf das Krankheitserleben und den Therapieverlauf. Sie sind mit heiklen Aspekten verknüpft, die, sofern sie vernachlässigt werden, Leiden hervorrufen können – eine Tatsache, derer sich Fachkräfte bewusst sein und berücksichtigen müssen.
Was die zeitliche Komponente betrifft, so denke man zum Beispiel an die Wartezeiten, die Angehörige von Patienten, die auf der Intensivstation liegen, erleben. Mitarbeitende des Gesundheitswesens tun sich schwer, sich den Warteraum auch nur vorzustellen, was darauf zurückzuführen ist, dass diejenigen, die aktiv am Geschehen beteiligt sind, eine bestimmte Situation anders erleben als diejenigen, denen nichts anderes übrig bleibt, als zu warten.
Man denke auch an den Einfluss der Antizipation, der mit der prädiktiven Medizin einhergeht. Die Genetik ermöglicht es heute, das Risiko, in der Zukunft eine Krankheit zu entwickeln, im Voraus zu kennen, ohne dass jedoch zwangsläufig Mittel zur Vorbeugung oder Behandlung dieser Krankheit zur Verfügung stehen. Die Antizipation ist eine zeitliche Form, mit der man „vorsichtig umgehen“ muss: Sobald man weiss, dass etwas passieren könnte, da es von der Wissenschaft vorhergesagt wurde, beeinflusst diese Information das eigene Leben». 

Und was ist mit der räumlichen Komponente?

«Die räumliche Komponente bezieht sich auf den Körper des Patienten, die Intimsphäre und die Umgebung, die von der häuslichen bis hin zur institutionellen Dimension reicht... Man nehme zum Beispiel die Atmosphäre im Krankenhaus. Denken wir an das kalte Licht, das die Subjektivität des Patienten auslöscht: Unter diesem Licht betrachtet, sind wir alle nur noch Körper und keine Individuen mehr. Auch wenn es vielleicht nicht möglich ist, die Beleuchtung zu ändern, ist es wichtig, dass man sich der Tatsache bewusst ist, dass diese dazu führt, die Patientinnen und Patienten sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn „in einem bestimmten Licht“ zu sehen. Oder denken wir an die Atmosphäre in den Häusern und Wohnungen, in denen die Fachkräfte der ambulanten Pflege tätig sind: Die Probleme sind hier ganz anderer Natur. Diese Räume sind voller Subjektivität und erzählen wahrscheinlich mehr von den Menschen, die sie bewohnen, als diesen lieb ist. Es werden hier intime Aspekte des Lebens der Bewohner offenbart, die diese vermutlich lieber für sich behalten würden. Genau aus diesem Grund sind besondere Aufmerksamkeit und Respekt geboten».

Und schliesslich ist da noch die sprachliche Komponente.

«Die Sprache spielt in der Behandlungsbeziehung eine entscheidende Rolle. Es ist jedoch ebenso wichtig wie schwierig, die „richtigen Worte“ zu finden, um den Patientinnen und Patienten etwas mitzuteilen, das sie eigentlich gar nicht hören möchten. Die richtige Sprache ist notwendig, um dem Patienten die Diagnose mitzuteilen und ihn durch die Bereitstellung ausreichender und verständlicher Informationen, die seine Welt sowie seine Vorstellungen von der gegenwärtigen und zukünftigen Situation berücksichtigen, in die Lage zu versetzen, eine bewusste Entscheidung im Hinblick auf die Therapiemöglichkeiten zu treffen. Obwohl wir ständig reden, sind sich nicht alle von uns der Macht und potenziell zerstörerischen Kraft der Sprache bewusst. Aus diesem Grund sieht der Studiengang einen Abschnitt zum Thema narrative Medizin vor: Es handelt sich um einen Workshop, der den Behandelnden helfen soll, ihre Fähigkeit zu stärken, den Geschichten der Patientinnen und Patienten zuzuhören, sie anzunehmen und darauf zu reagieren. Diese Fähigkeit ist keine Selbstverständlichkeit: Oft sind wir abgelenkte Gesprächspartner, die sich nicht darum kümmern, die Bedeutung, das Gewicht und den metaphorischen Gehalt der Worte unseres Gegenübers wirklich zu verstehen. Die grundliegende Idee der narrativen Medizin ist, dass man durch das wiederholte und sorgfältige Lesen eines Textes – einer Geschichte oder eines Gedichts (und sogar durch die Interpretation eines Gemäldes) – in einer Gruppe lernen kann, besser auf jede Art von Text und somit auch auf die Geschichten der Patientinnen und Patienten einzugehen. Für die behandelnden Fachkräfte ist es von grundlegender Bedeutung, einen solchen Ansatz auszuprobieren, der die Fähigkeit des Zuhörens steigert und die Offenheit für unterschiedliche Interpretationen fördert».

Wie kann die Kunst zu einer „menschlicheren“ Behandlungspraxis beitragen?

«Die im Mittelpunkt der Medical Humanities stehenden Disziplinen der Geisteswissenschaften und der Kunst können uns tiefe Einblicke in das menschliche Wesen geben. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Disziplinen ermöglicht es den medizinischen und pflegerischen Fachkräften nämlich, eine Sensibilität zu entwickeln, die die technischen und klinischen Kompetenzen ergänzt und tiefgründigere Handlungen und Entscheidungen gewährleistet. So kann zum Beispiel der Austausch mit einem Maler, der verrät, was ihn dazu bringt, den Pinsel im richtigen Moment abzusetzen, d. h. bevor er einen Strich zu viel malt, spannende Impulse für Reflexionen über den „richtigen Zeitpunkt“ für den Abbruch einer Behandlung liefern. In ähnlicher Weise kann ein Dialog mit einem Dichter, der seine Worte mit grosser Sorgfalt wählt, das Verantwortungsbewusstsein der medizinischen und pflegerischen Fachkräfte für die Sprache stärken und ihnen bewusst machen, dass es nicht nur darauf ankommt, „was“ man sagt, sondern auch „wie“ man es sagt.
Es geht wohl nicht so sehr darum, die Behandlungspraxis „menschlicher“ zu gestalten, sondern vielmehr darum, zu erkennen, dass die ärztliche Fürsorge genau zu jenen Gesten zählt, die unsere Menschlichkeit am besten zum Ausdruck bringen, sofern man diesen Begriff in seiner vollen Bedeutung versteht».

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Weitere Informationen zu dem von der SUPSI angebotenen Certificate of Advanced Studies in „Medical Humanities, klinische Ethik und narrative Medizin“, für das es noch einige wenige freie Plätze gibt, finden Sie unter https://fc-catalogo.supsi.ch/Course/Details/1000003780