NEUE TRENDS

Die Zeit ist reif für Open Science:
Die Forderung nach gemeinsamer (und kostenloser) Nutzung von Daten wird immer lauter

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 11 Minuten lesen In lingua italiana

Auch im Tessin ist die Umsetzung des von dem Verein swissuniversities, dem ETH-Bereich, den Akademien der Wissenschaften Schweiz und dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung verabschiedeten Aktionsplans in vollem Gang
von Valeria Camia

(Foto: Loreta Daulte)
(Foto: Loreta Daulte)

Am 16. Januar 2012 erschien in der New York Times ein relativ ausführlicher Artikel über ein damals neuartiges Phänomen. Die Rede ist von Open Science, ein Begriff, der eine Form der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse bezeichnet, die der traditionellen Vorgehensweise völlig entgegengesetzt ist. Letztere wurde von Thomas Lin, dem Autor des Artikels, unter Zitierung des Quantenphysikers Michael Nielsen als ein mittlerweile überholtes Modell bezeichnet (kurz gesagt, als etwas aus dem Jahre Schnee). Wie jeder weiss, der seine Arbeit in einer der renommiertesten „geschlossenen“ Zeitschriften veröffentlichen möchte, kann das Peer-Review-Verfahren (d. h. die Begutachtung durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die jedoch den Namen des Autors der Studie nicht kennen, um nicht davon beeinflusst zu werden) nämlich Monate dauern. Hinzu kommt, dass die traditionellen Zeitschriften nur den Abstract (die Zusammenfassung) der veröffentlichten Arbeiten kostenlos zur Verfügung stellen, während die vollständigen Studien nur über ein oft sehr teures Abonnement zugänglich sind

Angesichts dieses „gebundenen, teuren und elitären“ Modells, wie es in der NYT hiess, erfordert Open Science eine Änderung des Status quo. Diese besteht darin, Daten, Dokumente, Forschungsideen und partielle Lösungen für die Allgemeinheit zugänglich zu machen – selbstverständlich unter Berücksichtigung klarer Lizenzrichtlinien, die die Wiederverwendung und Reproduzierbarkeit von Forschungsdaten und -methoden regeln.

In demselben Artikel wurden auch einige neu gegründete „offene“ wissenschaftliche Zeitschriften erwähnt, von denen mittlerweile viele einen mehr als guten Ruf geniessen: Vielleicht haben Sie ja schon einmal von arXiv, Public Library of Science (PLoS), GalaxyZoo, MathOverflow oder ResearchGate gehört oder gelesen. Bei Letzterem handelt es sich um eine Art soziales Netzwerk, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einander Fragen beantworten, Dokumente austauschen und Kooperationspartner finden können.

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Artikels in der NYT gibt es im Bereich Open Science zwar nach wie vor eine Reihe von Problemen, die noch gelöst werden müssen, doch die offene Wissenschaft scheint keineswegs zu erlahmen. Im Gegenteil: Die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, welche Vorteile es hat, schnell auf in Echtzeit aktualisierte Informationen zugreifen zu können, ohne auf die langen Wartezeiten der klassischen wissenschaftlichen Zeitschriften angewiesen zu sein.
In Wirklichkeit gestaltet sich der Bereich Open Science heute etwas komplizierter, und es besteht die Tendenz, zwischen Open Access und Open Research Data zu unterscheiden. Wie Iolanda Pensa – die als Forscherin am Departement für Umwelt, Bau und Design der SUPSI arbeitet, für die sie auch als Beraterin im Bereich Open Science tätig ist – erklärt, setzt Open Access voraus, dass akademische Zeitschriften ihre Inhalte kostenlos und ohne Registrierung online zugänglich machen, während der Bereich Open Research Data (ORD) eine „fortgeschrittene“ Stufe von Open Science darstellt. Im letzten Fall besteht das Ziel darin, unter anderem den Zugang zu Daten zu ermöglichen, die zum Verfassen der Artikel benötigt werden, in dem Bewusstsein, dass die Qualität einer Forschungsarbeit nicht allein im endgültigen Artikel liegt, sondern auch und vor allem in den Informationen (egal, ob in digitaler Form bzw. in Papierform, in Form numerischer bzw. beschreibender Daten oder in Form von Audio- bzw. Video-Daten), die im Rahmen eines Forschungsprojekts gesammelt und verwendet wurden und für die Validierung der erzielten Ergebnisse unerlässlich sind. «Ein offener Zugang zu Daten ermöglicht es im Allgemeinen, Forschungsarbeiten zu überprüfen, um zu sehen, ob man zu denselben Ergebnissen gelangt, wenn man eine bestimmte Studie unter Verwendung derselben Methodologie erneut durchführt», erklärt Pensa. «Zudem kommt es mitunter zu negativen Studienergebnissen, die zwar nicht zur Veröffentlichung eines Artikels führen, die aber, sofern sie weitergegeben werden, es anderen Forschenden ermöglichen könnten, von den Informationen zu profitieren, damit sie nicht noch einmal die gleiche Forschung betreiben». 

Auch in der Schweiz haben der Verein swissuniversities, der ETH-Bereich, die Akademien der Wissenschaften Schweiz und der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) einen Aktionsplan vereinbart. Dieser ist Teil der im Jahr 2021 verabschiedeten nationalen Strategie für ORD (Swiss National Open Research Data Strategy). Der Aktionsplan «definiert die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Praktiken, die auf der gemeinsamen Nutzung von Forschungsdaten in der Schweiz basieren, und bildet die Grundlage für die Verwaltung der Dienstleistungen und Infrastrukturen, welche die Forschenden unterstützen und die Umsetzung von ORD-Praktiken ermöglichen», heisst es in einem offiziellen Präsentationsdokument. Es handelt sich, wie Beat Immenhauser – Delegierter für Open Science der Akademien der Wissenschaften Schweiz – bestätigt, um einen „kulturellen“ Wandel weg von der klassischen Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben. Dieser Wandel besteht darin, den gesamten Forschungsprozess sowie die einzelnen Forschungsschritte (die sogenannten Research Steps) – von den Texten und Daten über die Software bis hin zu den gesamten Protokollen – transparent zu gestalten, wobei folgende Aspekte berücksichtigt werden: die richtigen Lizenzen (die eine korrekte Wiederverwendung der Daten garantieren), die allgemeinen ethischen Schutzmassnahmen und die Vertraulichkeit der Daten. Die Daten können, sobald sie anonymisiert worden sind, geteilt werden und sind ausschliesslich auf begründete Anfrage zugänglich.

GEMEINSAME ARBEIT – Konkret bedeutet der Aktionsplan eine synergetische Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Akteuren und eine klare Aufgabenteilung. Für den Zeitraum 2025-2028 wird zum Beispiel der SNF die Verantwortung für die Finanzierung der Forschenden und Forschungsgemeinschaften im Rahmen der Entwicklung und Anwendung von ORD-Praktiken übernehmen, auch wenn in dieser Anfangsphase die ETH und die im Verein swissuniversities zusammengeschlossenen Hochschulen einzelne ORD-Projekte unterstützen.

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz haben ihrerseits kürzlich ein Sounding Board eingerichtet, das unter anderem die Aufgabe hat, den Strategierat und die Koordinationsgruppe zu beraten sowie Empfehlungen zu formulieren, um die Perspektiven und Bedürfnisse der verschiedenen Forschungsgemeinschaften im Rahmen der Entwicklung von ORD zu berücksichtigen. «Das Ziel des Boards ist es, als Brücke zwischen den Akademien der Wissenschaften Schweiz, die an der Umsetzung der Open-Research-Data-Strategie arbeiten und den Forschenden, die von dieser Strategie profitieren sollen, zu fungieren», erklärt Elena Chestnova, die als Forscherin am Institut für Geschichte und Theorie der Kunst und Architektur der Università della Svizzera italiana (USI) tätig ist und zusammen mit Iolanda Pensa zu den 16 Mitgliedern des Sounding Boards zählt, die aus unterschiedlichen Forschungsbereichen kommen und unterschiedliche methodische Ansätze verfolgen. «Grundsätzlich wird der Exekutivausschuss Anfragen an uns richten, die wir unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der von uns vertretenen Gemeinschaften bewerten werden. Darüber hinaus werden wir die Möglichkeit haben, Themen auf den Tisch zu bringen, die den Akademien der Wissenschaften Schweiz bislang möglicherweise entgangen sind. Es handelt sich um eine äusserst wertvolle Gelegenheit, und ich bin zuversichtlich, dass wir in der Lage sein werden, produktiv zu arbeiten, um den Ausbau und die Verbesserung des Bereichs Open Science zu gewährleisten».

SIEBEN GRUNDPRINZIPIEN – Wie im Dokument des Schweizer Aktionsplans erläutert wird, beruht die Strategie für ORD auf sieben Grundprinzipien. Zwei davon sind besonders hervorzuheben. Das erste, das ein wenig wie ein Motto klingt, lautet „As open as possible, as protected as necessary“. Genauer gesagt, versucht man, die Forschungsergebnisse so zugänglich wie möglich zu machen, stets unter Berücksichtigung des Datenschutzes. Ein weiteres grundlegendes Prinzip ist in dem Akronym FAIR zusammengefasst, das für Findability, Accessibility, Interoperability and Reusability steht. «Dies bedeutet, dass sowohl die Daten als auch die zu deren Beschreibung verwendeten Metadaten (z. B. digitale Archive) auch im Falle der automatisierten Suche gut auffindbar und leicht zu entziffern sein müssen», erklärt Beat Immenhauser. «Sobald der Benutzer die gesuchten Daten gefunden hat, muss er auf sie zugreifen können – ggf. auch durch Authentisierung und Autorisierung – und die Möglichkeit haben, sie beispielsweise auch mithilfe verschiedener Computersysteme und unterschiedlicher Software zu nutzen. Zu guter Letzt müssen die Daten und Metadaten so beschaffen sein, dass sie in unterschiedlichen Kontexten zitiert, reproduziert oder kombiniert werden können».

117 MILLIONEN SCHWEIZER FRANKEN – Um diese Art, Wissenschaft zu betreiben, umsetzen zu können, sieht der Schweizer Aktionsplan für den Zeitraum 2021-2028 vier Aktionsbereiche und ein Gesamtbudget von knapp 117 Millionen Franken vor. «Der erste Aktionsbereich – so Immenhauser weiter – zielt darauf ab, Forschende und Forschungsgemeinschaften bei der Einführung von Praktiken für eine offene Forschung zu unterstützen, angefangen bei der gemeinsamen Datennutzung (ORD). Das Ziel des zweiten Aktionsbereichs ist es hingegen, allen Forschenden nachhaltige und nützliche Infrastrukturen und Basisdienstleistungen zur Verfügung zu stellen. Der dritte Aktionsbereich befasst sich damit, den Forschenden die für die Entwicklung von ORD und den Austausch von Best Practices notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. Der vierte soll schliesslich günstige Bedingungen für die Umsetzung der gemeinsamen Nutzung von Daten und Forschungsergebnissen zwischen den Institutionen und innerhalb der Forschungsgemeinschaft schaffen». 

EINE SOLIDERE UND REPRODUZIERBARERE WISSENSCHAFT – Kurzum, es handelt sich um ein innovatives Projekt in der Schweizer Forschungslandschaft, das ehrgeizig und zugleich notwendig ist. Es ist wichtig, die Grundprinzipien der ORD-Strategie zu übernehmen, um eine solidere und reproduzierbarere Wissenschaft zu gewährleisten, die es «Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglicht, in der Arbeit anderer zu „stöbern“, wodurch die höchste Qualität der Ergebnisse sichergestellt wird», erklärt Chestnova. «Dies bedeutet auch, dass die wissenschaftliche Arbeit auf diese Weise ihre maximale Wirkung entfalten kann».
Darüber hinaus ist «der offene Zugang zu Daten wichtig, um Synergien zwischen der akademischen Arbeit (oder der in den Zentren für angewandte Forschung wie SUPSI durchgeführten Arbeit) und der öffentlichen Verwaltung mit ihren geografischen, schulischen und staatlichen Daten zu schaffen», wie Iolanda Pensa betont. Nicht zuletzt gehen die Vorteile für die Gesellschaft Hand in Hand mit dem Konzept der „Demokratisierung“ sowie mit dem Kampf gegen Fake News, einem heute hochaktuellen Thema, wie Immenhauser bemerkt: Frei zugängliche Daten ermöglichen es jedem, sich selbst zu informieren, da nun Forschungsarbeiten „enthüllt“ werden, die zuvor hinter Abonnements „verschlossen“ waren, welche sich nicht alle Privatpersonen (oder Institute) leisten könnten.

VIELE PROBLEME BLEIBEN UNGELÖST – Obwohl die Leitlinien und Grundsätze des Aktionsplans und der ORD-Strategie in der Schweiz klar formuliert sind, gibt es einige problematische Aspekte. «Selbstverständlich sind sich mittlerweile fast alle Forschenden der Vorteile von Open Science bewusst und somit bereit, die ORD-Grundsätze in ihre tägliche Forschungspraxis sowie in ihre Projekte und Kooperationen zu integrieren», erklärt Olivia Denk, eine Open-Science-Spezialistin, die bei den Akademien der Wissenschaften Schweiz für die Aktionsbereiche der ORD-Strategie zuständig ist. «Eine gewisse Besorgnis bleibt trotzdem bestehen, wenn man die eigene Arbeit und die damit verbundenen Daten tatsächlich teilen muss, vor allem, wenn es sich aus rechtlichen, ethischen oder sicherheitstechnischen Gründen oder etwa aufgrund einer Forschungskooperation mit dem Privatsektor um „sensible“ Daten handelt».
«Heutzutage verfügen wir über neue Instrumente, die mehr Offenheit in der Wissenschaft ermöglichen – ein Ziel, das allerdings aus vielen Gründen, unter anderem auch wegen der verschiedenen Komplexitätsebenen, nicht immer einfach umzusetzen ist», so Chestnova. «In einigen Fachbereichen, in denen man bereits auf gemeinsame Arbeit setzt, stellen offene Daten sowie die Verwendung freier Lizenzen eine etablierte Praxis dar. In anderen Bereichen hingegen, die durch eine individualistische Arbeitsweise gekennzeichnet sind, ist weniger Erfahrung mit dem Konzept der offenen Forschung vorhanden», fügt Pensa hinzu.

Die Akademien der Wissenschaften Schweiz sehen sogar einen Open-Research-Data-Preis vor, der von einer aus den Mitgliedern des Sounding Boards bestehenden Jury an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben wird, die nach den Grundsätzen der gemeinsamen Nutzung von Daten in verschiedenen Disziplinen Forschung betreiben.