Lugano

Die wachsende Bedeutung von im Labor hergestellten „Organoiden“ für die Entwicklung immer gezielterer Krebsbehandlungen

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 9 Minuten lesen In lingua italiana
Von einem System der künstlichen Intelligenz entworfene Nervenzellen (© Shutterstock)
Von einem System der künstlichen Intelligenz entworfene Nervenzellen (© Shutterstock)

Professor Hans Clevers, einer der führenden Experten für Organoide und Forschungsleiter bei Roche, zählt zu den Ehrengästen des Lymphom-Kongresses (ICML). Er wird an einem von der IBSA Foundation organisierten Forum teilnehmen
von Elisa Buson

Personalisierte Krebstherapien, die auf das genetische und molekulare Profil des Patienten „zugeschnitten“ sind, um eine maximale Wirksamkeit bei geringeren Nebenwirkungen zu erzielen: Das ist die neueste Entwicklung in der Tumorbekämpfung. Hierbei handelt es sich um ein „heisses“ Thema in der Krebsforschung, dem die IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung im Rahmen der 17. Ausgabe des internationalen Kongresses zum Thema maligne Lymphome (International Conference on Malignant Lymphoma – ICML) ein eigenes Forum widmet. Der Kongress bringt vom 13. bis 17. Juni rund 4.000 Fachleute aus der ganzen Welt zusammen. Organisiert wurde er von Professor Franco Cavalli und der Stiftung des Onkologischen Forschungsinstituts (Istituto Oncologico di Ricerca – IOR) in Bellinzona in Zusammenarbeit mit der American Association for Cancer Research (AACR) und der European School of Oncology (ESO).
«Bis vor wenigen Jahren wurden die aus demselben Zelltyp entstehenden Tumoren als ein und dieselbe Krankheit betrachtet und folglich auf die gleiche Weise behandelt», erklären die Experten der IBSA Foundation. «Heute wissen wir jedoch dank der interdisziplinären Arbeit der Ärztinnen und Ärzte sowie dank Techniken, die eine immer höhere Auflösung ermöglichen, dass Tumoren in Wahrheit sehr dynamische Erkrankungen sind, die nicht nur innerhalb desselben Tumors ein hohes Mass an Heterogenität aufweisen, sondern auch von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sind». 

Das am 16. Juni um 14:30 Uhr im Auditorium der Università della Svizzera italiana (USI), in der Via Buffi 13 stattfindende Forum der IBSA Foundation befasst sich mit den neuesten Ergebnissen von Studien, die darauf abzielen, genau diese Unterschiede auf molekularer Ebene besser zu verstehen, um immer gezieltere und wirksamere Therapien zu entwickeln. Moderiert wird das Treffen von Andrea Alimonti, Professor an der USI und der ETH Zürich sowie designierter Leiter (ab 1. Januar 2024) des Onkologischen Forschungsinstituts (Istituto Oncologico di Ricerca – IOR). Zu den Teilnehmenden des Forums gehören Arianna Baggiolini, eine junge Gruppenleiterin am IOR, René Bernards vom Krebsforschungsinstitut der Niederlande und Hans Clevers, Forschungsleiter und Verantwortlicher für die frühe Phase der Medikamentenentwicklung bei Roche.  

Ticino Scienza nutzte die Gelegenheit, um Clevers zu interviewen, der vor wenigen Wochen die Gründung eines neuen Instituts für Humanbiologie in Basel ankündigte, dessen Forschungsaktivitäten sich auf den Einsatz einer äusserst innovativen Technologie stützen werden: Die Rede ist von Organoiden, d. h. menschlichen Miniorganen, die im Reagenzglas aus patienteneigenen Zellen gezüchtet werden, um sowohl Krankheitsmechanismen als auch das Ansprechen auf Medikamente originalgetreu nachzubilden. Es handelt sich um ein Hilfsmittel, das nicht nur für die Onkologie ein enormes Potenzial bietet.

Herr Professor Clevers, mit Ihrer an der Universität Utrecht durchgeführten Forschungsarbeit gelten Sie als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Organoide. 2009 ist es Ihnen weltweit erstmals gelungen, ein „Darmorganoid“ herzustellen. Wie hat dieses Abenteuer begonnen?

«Unser Labor – antwortet Clevers – war eines der ersten, das die Organoid-Technologie entwickelt hat: Wir haben mit adulten Stammzellen begonnen, die natürlicherweise im Körpergewebe vorkommen. Jedes Organ verfügt über eine bestimmte Gruppe von Stammzellen, die während des gesamten Lebens seine ordnungsgemässe Funktionsfähigkeit gewährleisten, indem sie geschädigte Zellen ersetzen. Bei den von uns vor rund 20 Jahren entdeckten Stammzellen handelt es sich um Darmstammzellen, die die aktivsten aller Körperstammzellen sind: Man bedenke nur, dass sich die Darmschleimhaut beim Menschen alle zwei Wochen und bei Mäusen alle fünf Tage erneuert. Wir haben diese Zellen untersucht und dabei zahlreiche, damals völlig unerwartete Eigenschaften entdeckt. So haben wir beispielsweise festgestellt, dass sie sich ständig teilen, und zwar tagtäglich: Bei Mäusen, deren durchschnittliche Lebenserwartung drei Jahre beträgt, teilen sich die Darmstammzellen ungefähr tausendmal. Es war eine wirklich überraschende Entdeckung: Bis dahin dachte man nämlich, dass sich Stammzellen nur selten teilen, um die Fehlerrate bei der DNA-Replikation möglichst gering zu halten. Anschliessend versuchten wir, die Darmstammzellen im Labor zu kultivieren, um das Milieu des Darms nachzubilden. Diese Zellen produzieren nicht nur Stammzellen, sondern auch etwa ein Dutzend Zelllinien der Darmschleimhaut, die für die Verdauung und Aufnahme der Nährstoffe benötigt werden. Ebenfalls überraschend war, dass diese Organoide kontinuierlich wachsen: Sie müssen zwar jede Woche geteilt werden, damit sie nicht grösser als einen Millimeter werden, aber innerhalb eines Monats kann man aus einer einzigen Stammzelle viele Organoide herstellen und viele Jahre so weitermachen».

Stimmt es, dass Sie Organoide auch zur Erforschung von Covid-19 eingesetzt haben? Was haben Sie dabei herausgefunden?

«Ja, das stimmt. Wir haben sie in der ersten Phase der Pandemie eingesetzt, als man noch sehr wenig über das Virus wusste und herausfinden musste, welche Organe betroffen waren. Dass eines davon die Lunge war, war klar. Doch es war nicht das einzige. Mithilfe dieser menschlichen Miniorgane haben wir im Labor beobachtet, in welchen von ihnen sich das Virus ausbreiten konnte. Es stellte sich heraus, dass sich der Darm hervorragend für die Replikation des Virus eignet. Diese Entdeckung ermöglichte es uns auch, neue Methoden zur Überwachung der Ausbreitung des Virus zu entwickeln, die anstelle von Tests an Einzelpersonen Untersuchungen der städtischen Abwässer vorsehen. Anhand menschlicher Organoide konnten wir ausserdem zeigen, dass Hydroxychloroquin, das ursprünglich als mögliches Mittel zur Behandlung von Covid-19 vorgeschlagen worden war, in Wirklichkeit keine Wirkung zeigte, wie man später auch bei Patienten feststellen konnte».

Welche Organe und Krankheiten können derzeit mit Organoiden im Labor nachgebildet werden? 

«Ich wage zu behaupten, dass wir heute in der Lage sind, nicht nur fast alle menschlichen Organe, sondern auch zahlreiche Krankheiten zu reproduzieren, von genetischen Erkrankungen wie zystischer Fibrose bis hin zu denen des Gehirns. Ein weiteres wichtiges Kapitel sind Infektionskrankheiten: Damit meine ich nicht nur Covid-19, sondern auch das Norovirus (das, obwohl es sehr gut in Organoiden wachsen würde, noch nie im Labor gezüchtet wurde) sowie das Respiratorische Synzytial-Virus. Organoide haben uns auch geholfen, neu auftretende Krankheitserreger wie das Zika-Virus zu erforschen: So haben wir beispielsweise herausgefunden, dass Virusinfektionen in der Schwangerschaft zur Geburt von Mikrozephalie-Babys führen können, im erwachsenen Gehirn jedoch keine derartigen Auswirkungen haben. Ein weiterer wichtiger Forschungsbereich ist die Krebsforschung: Organoide ermöglichen es uns, sowohl die gesunden als auch die kranken Zellen der Patienten im Labor zu züchten, um herauszufinden, wo das Problem liegt». 

Wie können Organoide zur Entwicklung personalisierter Krebstherapien beitragen? 

«Organoide sind eine Art Avatar des Patienten: Sie spiegeln sowohl im Hinblick auf den Krankheitsverlauf als auch auf das Therapieansprechen seine individuellen biologischen Merkmale wider. Indem man die für den Patienten vorgesehenen Medikamente an den Organoiden testet, kann man im Voraus erkennen, ob der Patient auf eine Behandlung ansprechen wird oder nicht». 

Welche Herausforderungen gilt es in der Organoid-Forschung zu bewältigen?

«Ich denke, dass seit den Anfängen vor einem Dutzend Jahren enorme Fortschritte erzielt wurden. Allerdings stellen Organoide immer noch eine sehr vereinfachte Version echter menschlicher Organe dar. Sie bestehen zwar aus den Zellen des nachzubildenden Organs, enthalten jedoch beispielsweise weder Blutgefässe noch Zellen des Immunsystems oder die das Stroma bildenden Stützzellen. Die Herausforderung besteht nun darin, den Organoiden eine komplexere Struktur zu verleihen, um zum Beispiel zu erforschen, wie die Immunzellen desselben Patienten Infektionen bekämpfen. Man arbeitet bereits daran, doch es gibt noch viel zu tun, denn bei dieser Art von System sind zahlreiche Parameter zu berücksichtigen: Dazu zählen neben dem Organoid selbst auch die Immunzellen, die Blutgefässe, die Nervenfasern, das Mikrobiom und das Virus. Es gilt also, zu beweisen, dass das, was im Labor erzeugt wird, auch tatsächlich die Biologie des zu untersuchenden Organs widerspiegelt. Die eigentliche Stärke dieses Forschungsgebiets liegt jedoch darin, dass es erstmals möglich ist, die menschliche Biologie im Reagenzglas zu untersuchen: Früher musste man dazu entweder auf Tiermodelle oder auf Zelllinien zurückgreifen, d. h. auf Tumorzellen von Patienten, die über Jahre hinweg kultiviert wurden und oft nicht mehr dem ursprünglichen Tumor entsprechen».

In Zusammenarbeit mit Roche haben Sie vor kurzem das neue Institute of Human Biology gegründet, in dem rund 250 Wissenschaftler und Bioingenieure aus der akademischen Welt und der Pharmaindustrie Seite an Seite arbeiten werden. Was sind die Ziele?

«Ich habe dieses Institut geschaffen, weil ich der Meinung bin, dass die Organoid-Technologie, die im Wesentlichen im akademischen Bereich entwickelt wurde, nun reif für den Einsatz in der Medikamentenentwicklung ist. Diese Technologie könnte andere Versuchsplattformen ergänzen, wenn nicht sogar ersetzen, und eingesetzt werden, um Krankheitsmechanismen zu definieren, neue pharmakologische Targets zu validieren, neue Moleküle zu identifizieren und diese auf ihre Sicherheit und Toxizität zu überprüfen. Das Ziel dieses neuen Instituts ist es, eine Brücke zwischen Universität und Industrie zu schlagen: Es wird sich nicht direkt mit der Medikamentenentwicklung befassen, die hingegen weiterhin in den Aufgabenbereich von Roche fallen wird, sondern mit der Entwicklung von modernen Technologien und Systemen, die an Roche weitergegeben werden, sowie mit der Veröffentlichung von Publikationen und wissenschaftlichen Artikeln. Wir wollen, dass die Organoid-Technologie Realität wird. Ich war schon immer davon überzeugt, dass eine ihrer Hauptanwendungen die Medikamentenentwicklung sein würde, was einer der Gründe war, die mich vor einigen Jahren dazu bewogen haben, nach Basel zu ziehen, um bei Roche einzusteigen».

Welchen Traum möchten Sie mithilfe der Organoide verwirklichen?

«Es wäre wünschenswert, ausschliesslich oder zumindest weitgehend mithilfe menschlicher Organoide ein Medikament zu entwickeln. Das wird noch einige Zeit dauern, doch ich hoffe, dass ich es noch erleben werde».

 

 

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