Innovation

Das Schweizer Netzwerkder Raumfahrttechnologienführt auch durchs Tessin

Freitag, 23. Juni 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Das Kontrollzentrum der Europäischen Weltraumorganisation in Darmstadt, Deutschland (Foto ESA)
Das Kontrollzentrum der Europäischen Weltraumorganisation in Darmstadt, Deutschland (Foto ESA)

Treffen in Lugano zwischen der "Plattform" Space Exchange Switzerland und Experten der Università della Svizzera italiana, Partner eines Konsortiums, dem auch die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne angehören
von Valeria Camia

Es kommt selten vor, dass man eine Melodie mit Chortönen, die unterschiedlichen Rhythmen folgen, hört und meint, dies sei "schöne Musik". Damit sie ein Genuss für das Ohr sind, damit sie "zusammenpassen", müssen Töne, Stimmen, Instrumente, muss alles harmonisch sein.
Bei näherer Betrachtung ist die Harmonisierung nicht nur ein Thema in der Musik, sondern betrifft verschiedene Bereiche - darunter auch den Weltraum. Denken wir z.B. an den europäischen Kontinent und all die "Weltraumaktivitäten", die über unseren Köpfen stattfinden, ist es schwierig, sich den Erfolg und den Nutzen vorzustellen, wenn jeder Akteur, der sie fördert, im Alleingang handelt. Aus diesem Grund ist die Festlegung gemeinsamer und transparenter Standards, gemeinsamer Investitionen und Synergien zwischen den verschiedenen Akteuren im Raumfahrtsektor, einschliesslich der nationalen Delegationen, der Industrie, der Universitäten und der Forschungsinstitute, von zentraler Bedeutung für die
Europäische Weltraumorganisation (ESA)  und für die Schweiz, die als Mitglied der ESA vor dem Problem steht, wie die akademische Forschung und die technologischen Fortschritte der verschiedenen Industrie- und Start-up-Unternehmen in den Kantonen der Eidgenossenschaft mit den Anforderungen und der Agenda der ESA in Einklang gebracht werden können.

Die Harmonisierung wurde Ende Mai im Tessin erörtert, als Lugano Gastgeber eines wichtigen Netzwerktreffens war zwischen Space Exchange Switzerland (SXS) - einer nationalen Plattform zur Förderung der Raumfahrt in der Schweiz, die vom Swiss Space Office (SSO) des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanziert wird - und Professoren der Università della Svizzera italiana (USI), die zusammen mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), der Universität Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu den Partnern des SXS-Konsortiums gehört.

Ebenfalls anwesend waren Deborah Müller und Julien Bonnaud, Forscher und Berater für Raumfahrttechnologie und -innovation sowie Verantwortliche für die Beziehungen zur Industrie: erstere für die ETH, letzterer für die EPFL, sind sie verantwortlich für die technische Unterstützung der technologischen Harmonisierung innerhalb der ESA und für die Schaffung von Netzwerken und Kooperationen zwischen Forschungsinstituten und Unternehmen durch SXS. Wir haben sie interviewt, um besser zu verstehen, wovon wir sprechen, wenn wir den Begriff "Harmonisierung" im Raumfahrtbereich verwenden, und auch, wie sich die USI und der gesamte Kanton Tessin in das Panorama der Aktivitäten von Space Exchange Switzerland einfügen.

Wie lässt sich das Engagement der Schweiz und von SXS in den Bereichen Forschung, Investitionen, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit im Einklang mit den Anforderungen und Strategien der ESA zusammenfassen?

(Julien Bonnaud): «Wir arbeiten in engem und ständigem Kontakt mit drei Akteuren, nämlich der ESA, den Schweizer Forschungszentren und den Unternehmen in unserem Land. Es geht uns nicht darum, langfristige Strategien und Aktionspläne zu entwerfen, z.B. durch die Festlegung und Koordinierung von Leitlinien zur Erreichung von "Weltraum"-Zielen. Unsere Rolle für SXS besteht in erster Linie darin, die Welten von Forschung und Industrie zu verbinden. Auf Englisch könnte man sagen, dass wir versuchen, das "Matching" zu fördern, d.h. buchstäblich die Innovationen, die aus den Schweizer akademischen Zentren kommen, mit konkreten, kommerziellen Projekten zusammenzubringen, die von industriellen Partnern entwickelt werden, so dass die akademische Welt und die Industrie gemeinsam die technologischen Anforderungen und Entwicklungen im Weltraum, an denen die ESA arbeitet, am besten erfüllen können. Dies ist ein so genannter Top-Down-Ansatz: Wir sehen, was die aktuellen Bedürfnisse sind und in welche Richtung sich die ESA mittel- bis kurzfristig bewegt; wir versuchen zu ermitteln, wie die Schweiz am besten auf diese Entwicklungen reagieren kann».

(Deborah Müller): «Wir beobachten ständig die Forschungs- und Innovationsaktivitäten in unserem Land, in den Universitäten, akademischen Labors und privaten Unternehmen (von Spin-offs bis zu Start-ups, von kleinen und mittleren bis zu grossen Unternehmen), um zu ermitteln, welche dieser Akteure an Projekten und Vorschlägen arbeiten, die für die ESA von Interesse sein könnten. Wir unterstützen diese Unternehmen dann mit Analysen des "Weltraum"-Marktes und stellen den Kontakt zu den Ansprechpartnern der ESA her, um gemeinsame Projekte weiterzuentwickeln».

Die Beteiligung der Schweiz an der europäischen Raumfahrt und das Engagement von SXS brauchen, um nachhaltig zu sein, Ideen, Projekte, aber auch Menschen, die sich sozusagen der Raumfahrt verschrieben haben...

(Julien Bonnaud): «Ganz genau. Und genau hier kommt die USI ins Spiel, denn ihr Career Service spielt eine zentrale Rolle in den Beziehungen zu SXS und ihren Partnern. Er unterstützt junge Menschen, die an Schweizer Hochschulen studieren oder ihr Studium abgeschlossen haben, indem er ihnen nützliche Informationen über eine Karriere oder ein Praktikum bei der ESA vermittelt. Zweifellos ist die USI aktiv an der Ausbildung der künftigen Generation von Raumfahrtexperten beteiligt. Ich denke, es ist auch wichtig zu betonen, dass sich der Career Service der USI nicht nur an Studierende mit einem Hintergrund in Astrophysik oder ähnlichem richtet. Um die von der ESA gesteckten Ziele zu erreichen und innovative Ideen zu fördern, ist ein breites Spektrum von Personen gefragt, von IT-Fachleuten bis hin zu Studierenden der Wirtschafts-, Finanz-, Rechts- und Kommunikationswissenschaften, der Architektur oder Biomedizin».

(Deborah Müller): «Gerade im Hinblick auf biomedizinische Studien eröffnen sich für die USI im Rahmen von SXS verschiedene Möglichkeiten. So stossen beispielsweise medizinische und rehabilitative Anwendungen, die sich aus den Ergebnissen verschiedener Weltraumforschungen ergeben, auf grosses Interesse. Die Nachhaltigkeit von bemannten Weltraummissionen - vom Überleben und Wohlergehen der Astronauten über die Versorgung mit Sauerstoff, Wasser, Strom, Lebensmitteln und Medikamenten bis hin zur architektonischen Gestaltung und Ergonomie von Lebens- und Arbeitsumgebungen - ist keine Frage der Science Fiction. Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Weltraum ein einzigartiges Labor für wissenschaftliche Experimente zur Entwicklung einer personalisierten Medizin mit klinischen Anwendungen für den späteren Einsatz auf der Erde darstellt, da er eine Umgebung für das bietet, was wir als "beschleunigte Tests" bezeichnen (aufgrund des Fehlens der Schwerkraft und anderer physikalischer Eigenschaften, Anm. d. Red.). Der Weltraum bietet also die Möglichkeit, medizinische Hypothesen zu testen, die auf unserem Planeten unmöglich zu prüfen sind. Unter diesem Gesichtspunkt eröffnen sich für ein Exzellenzinstitut wie das IOR, das Istituto Oncologico di Ricerca in Bellinzona, Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit anderen schweizerischen akademischen Zentren - die Zusammenarbeit mit der ETH in Zürich ist bereits im Gange - sowie mit verschiedenen pharmazeutischen Industrien, deren Hauptsitze in Basel oder Zug liegen».

(Julien Bonnaud): «Zum Beispiel gibt es im Kanton Tessin Forschungsmöglichkeiten zum Thema Prostatakrebs und Weltraum in dem Sinne, dass sich konkrete Szenarien eröffnen, um die Auswirkungen von Mikrogravitationsbedingungen und Strahlung auf die Entwicklung von Krebszellen zu testen».  

Sie zeichnen ein Bild der Schweiz, die stark in die Entwicklungen der ESA eingebunden ist. Können wir das so sagen?

(Julien Bonnaud): «Unbedingt. Von den 22 ESA-Mitgliedern steht die Schweiz an siebter Stelle, was den individuellen Beitrag jedes Landes zum Jahresbudget der Agentur angeht. Mehrere weltraumbezogene Technologien, die im europäischen Kontext und in der EU eingesetzt werden, wurden hier "geboren". Denken wir nur an Galileo, das globale Satellitennavigationssystem (GNSS) der Europäischen Union, das dank der Atomuhr funktioniert, deren Geschichte und Entwicklung eng mit der Innovation und Forschung in der Schweiz verbunden ist».

Eine letzte Frage an Sie, Deborah Müller, zur Präsenz von Frauen in der Weltraumforschung. Können wir sagen, dass die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern abnehmen?

(Deborah Müller): «Das ist eine heikle und schwierige Frage, in gewisser Weise. Die akademische Welt verändert sich. In dem Team, in dem ich arbeite, kann ich sagen, dass es Gleichberechtigung gibt. Wir versuchen auch, die Präsenz und das Interesse junger Studentinnen und Forscherinnen in den MINT-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) so weit wie möglich zu fördern, und ich muss sagen, dass die Ergebnisse schon seit einigen Jahren vielversprechend sind. Ich erwähne zum Beispiel das Mentoring-Programm Swiss TecLadies der SATW, aber ich erinnere auch an die zunehmenden Bemühungen in vielen akademischen Kreisen, interne Technologiemodule in Schulen zu entwickeln und dabei den Schwerpunkt auf Aktivitäten zu legen, mit denen mehr Mädchen und Frauen für MINT-Fächer gewonnen werden sollen. Auf der Ebene der Industrie gibt es jedoch immer noch Ungleichheiten, was Quoten, Gehaltsunterschiede und auch die Akzeptanz und den Respekt für Frauen, die in wissenschaftlichen Bereichen arbeiten, betrifft, unabhängig von ihren Qualifikationen und Erfahrungen».

 

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