Eidgenössische Forschungsanstalt WSL

Der wissenschaftliche Kampf gegen Brände im schweizerischen „Feuerland“ mithilfe fortschrittlicher statistischer Modelle

Donnerstag, 13. Juli 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Foto: Chiara Micci / Garbani
Foto: Chiara Micci / Garbani

Jedes Jahr kommt es in den Tessiner Wäldern im Durchschnitt zu 26 Bränden. Zu Beginn der achtziger Jahre waren es noch 90. Dieser starke Rückgang ist unter anderem auf wirksamere Vorschriften sowie auf eine grössere Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger zurückzuführen
von Michela Perrone

In der Südschweiz gibt es ein Gebiet, das zwar nur 9 % der gesamten Fläche der Schweiz einnimmt, aber besonders stark von Bränden betroffen ist. Es handelt sich um eine 400.000 Hektar grosse Fläche (davon 175.000 Hektar Wald), in der die Hälfte der Brände der letzten 50 Jahre registriert wurde. Ein Grossteil dieser Fläche befindet sich im Kanton Tessin.
In einem solchen Gebiet spielt das Feuermanagement also eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund wurde hier ein Projekt ins Leben gerufen, in dessen Rahmen Forschende in Zusammenarbeit mit dem Forstamt und Institutionen ein gut funktionierendes Brandschutzkonzept entwickelt haben, das von den anderen Regionen der Schweiz mit Interesse betrachtet wird.

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«Wir befassen uns nicht direkt mit dem Feuermanagement», stellt Marco Conedera, Leiter der Forschungseinheit Ökologie der Lebensgemeinschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), sofort klar. «Unsere Aufgabe ist es, das Phänomen umfassend zu erforschen: Ausgehend von der Statistik versuchen wir herauszufinden, welche Hauptfaktoren für dieses Phänomen verantwortlich sind und wie es sich auf die Ökologie und die Sicherheit des Gebiets auswirkt».
Die WSL, die sich mit der terrestrischen Umweltforschung befasst, verfügt über mehrere Standorte in der Schweiz. Conedera arbeitet am Standort Cadenazzo: «Die durch eine sehr hohe Biodiversität gekennzeichnete Region Insubrien an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien erlebt zurzeit einen epochalen sozioökonomischen und klimatischen Wandel, der zum Teil dramatische Auswirkungen auf die Landnutzung sowie auf die kulturelle und biologische Vielfalt hat», erklärt er. «Aus diesem Grund kann Insubrien als Modellregion dienen, um die Auswirkungen des globalen Wandels (in Bezug auf das Klima und die Landnutzung) auf die Ökosysteme zu beurteilen».

Mit durchschnittlich 26 Bränden pro Jahr in den letzten zehn Jahren ist das Tessin in jeder Hinsicht ein „Feuerland“: «In dieser Region entstehen die Brände in der Regel unten im Tal und breiten sich in die entgegengesetzte Richtung städtischer Siedlungen aus: Deshalb stellen sie nur selten eine direkte Gefahr für den Menschen und die Infrastrukturen dar», fasst Gianni Boris Pezzatti, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe Insubrische Ökosysteme, zusammen. «Allerdings führen sie zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Vegetation und des Bodens: Das Regenwasser dringt beispielsweise in den darauffolgenden Monaten weniger tief in den Boden ein, wodurch es im Falle starker Regenfälle zu Erosion oder Erdrutschen kommen kann».

Anders als man erwarten würde, ist die Zahl der Brände im Tessin trotz der zunehmenden Trockenheit und anderen Folgen des Klimawandels heute rückläufig (in den achtziger Jahren waren es durchschnittlich 90 pro Jahr): «Das liegt daran, dass die meisten Brände entweder absichtlich oder unabsichtlich durch den Menschen verursacht werden», erklärt Conedera. «Dank der besseren Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger ist die Zahl dieser Art von Bränden in den letzten Jahren zurückgegangen». Ein Wendepunkt kam im Jahr 1987, als im Tessin eine Durchführungsverordnung in Kraft trat, die sowohl offenes Feuer im Freien als auch die Kompostierung pflanzlicher Abfälle untersagte. Durch diese Massnahme konnte die Zahl der Brände innerhalb weniger Jahre mehr als halbiert werden. 

DAS STATISTISCHE MODELL „MADE IN TESSIN“ – Trotz des deutlichen Rückgangs der Brände in den 90er Jahren ist es sowohl für den Menschen als auch für die Umwelt nach wie vor von grundlegender Bedeutung, effektive Massnahmen zur Brandbekämpfung zu ergreifen. Zu diesem Zweck stützt sich das Forstamt unter anderem auf FireNiche, eine in Cadenazzo entwickelte statistische Methode zur Beurteilung der täglichen Brandgefahr. Zur Entwicklung dieser Methode untersuchten Pezzatti und Conedera zuallererst historische Daten: «Im Tessin haben wir das Glück, über eine sehr umfangreiche Datenbank mit mehr als 100 Jahren an Informationen über Brände zu verfügen», so Pezzatti. Anschliessend kombinierten die Experten die jüngste lokale Geschichte der Brände mit klimatischen Variablen: «Für diese Art von Vorhersage werden oft Modelle verwendet, die anderswo entwickelt wurden: Die am weitesten verbreiteten stammen aus Kanada, den Vereinigten Staaten und Russland», fährt der Forscher fort. «Es handelt sich um empirische Modelle, die anhand meteorologischer Variablen den Wassergehalt des Brennholzes und des Bodens im Wald simulieren.» Das Problem ist, dass die verwendeten Kennzahlen oft für andere Waldarten (wie beispielsweise Nadelwälder in Kanada) oder für andere Kontexte der menschlichen Landnutzung entwickelt wurden.

«Aus diesem Grund haben wir versucht, selbst ein Modell zu erstellen, indem wir diese Kennzahlen mit der tatsächlichen Geschichte der Brände in den verschiedenen Jahreszeiten (Winter und Sommer) kombiniert haben», so Pezzatti weiter. Folglich berücksichtigt das Modell FireNiche automatisch auch das menschliche Verhalten: «Das Verhalten der Menschen spielt bei der Entstehung von Bränden eine ebenso wichtige Rolle wie die Meteorologie», fügt Conedera hinzu. «Für die Prognose sind auch Faktoren wie die Sensibilität der Menschen, die Einhaltung der Regeln usw. ausschlaggebend».

MEHR BRÄNDE IM WINTER – Das menschliche Handeln trägt vor allem im Winter zur Entstehung von Bränden bei. Die Tessiner Wälder sind nämlich je nach Jahreszeit unterschiedlich beschaffen: Im Winter, d. h. ausserhalb der sogenannten Vegetationsperiode, tragen die Bäume in den Laubwäldern ihre im Herbst verlorenen Blätter nicht mehr. In der Folge scheint die Sonne direkt auf die Streu (die am Boden liegenden trockenen Blätter und Äste), was dazu führt, dass diese sehr schnell austrocknet. Daher ereignen sich in dieser Zeit die meisten Brände. Im Sommer hingegen verändert sich das Mikroklima des Waldes grundlegend: Die dichten Baumkronen bieten Schutz vor der Sonne und halten so die Streuoberfläche feucht. Daher weist der Boden, selbst wenn der Regen ausbleibt, einen höheren Feuchtigkeitsgehalt auf und brennt nicht so schnell.
Was den Sommer betrifft, unterscheidet das Prognosemodell zwischen Bränden, die durch den Menschen verursacht werden, und solchen, die durch Blitzschlag entstehen und in der Regel in höheren Lagen – vorwiegend in Nadelwäldern – auftreten. «Wenn ein Blitz in einen Baum einschlägt, kann sich das Feuer in der Humusschicht des Bodens entwickeln und so mehrere Tage lang unbemerkt bleiben», erklärt Conedera. «Unter günstigen Bedingungen, wie z. B. bei Wind, kann das Feuer dann an die Erdoberfläche dringen und sichtbare Flammen bilden».

NOCH ZU BEWÄLTIGENDE HERAUSFORDERUNGEN – Das in Cadenazzo entwickelte Modell ermöglicht es, die Brandgefahr auf Tagesbasis vorherzusagen, ist aber nicht für mittelfristige Prognosen geeignet. «Zusammen mit anderen Forschungsgruppen unseres Instituts arbeiten wir an der Entwicklung einer Plattform, die es uns ermöglichen soll, Prognosen über einen Zeitraum von einem Monat zu erstellen und verschiedene Prognoseszenarien zu untersuchen, die unterschiedliche Hinweise liefern», nimmt Pezzatti vorweg. «Die Entwicklung ist in vollem Gang, aber das Produkt wird frühestens in zwei Jahren fertig sein».

Eine weitere Herausforderung, die es noch zu meistern gilt, betrifft die Übertragung des Modells auf andere Gebiete der Schweiz: «Der Klimawandel hat gezeigt, dass es auch nördlich der Alpen bald Probleme mit Bränden geben könnte», so der Forscher weiter. «Aus diesem Grund hat man beschlossen, das Phänomen zu beobachten und die entsprechenden Daten zu sammeln. Unsere Aufgabe ist es, die Brandgefahr anhand der räumlichen Verteilung des Waldes zu beurteilen.» Im Tessin gibt es vollständig mit Wald bedeckte Berge. Anders ist die Situation nördlich der Alpen, wo die Wälder stärker fragmentiert sind. Bei der Entwicklung eines Modells für dieses Gebiet geht es auch darum, das Brandverhalten in einer Region zu untersuchen, in der die Waldvegetation stärker fragmentiert ist als im Süden des Landes.