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Der neue Lehrstuhl für Psychiatrie: ein „Schwungrad“ für Studien zu psychischen Störungen bei jungen Menschen

Sonntag, 12. März 2023 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana
Andrea Raballo, Professor für Psychiatrie an der USI und Leiter des Bereichs akademische Ausbildung und Forschung der Sozialpsychiatrischen Organisation des Kantons Tessin OSC in Mendrisio (Foto: Chiara Micci/Garbani)
Andrea Raballo, Professor für Psychiatrie an der USI und Leiter des Bereichs akademische Ausbildung und Forschung der Sozialpsychiatrischen Organisation des Kantons Tessin OSC in Mendrisio (Foto: Chiara Micci/Garbani)

Seit vergangenem November lehrt Andrea Raballo als erster Professor für Psychiatrie an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI. Er wird auch am OSC in Mendrisio tätig sein, wo er sich insbesondere mit Schizophrenie befassen wird
von Valeria Camia

 

Nachdem Professor Andrea Raballo für die italienischen Regionen Emilia-Romagna und Umbrien innovative klinische Verfahren zur Früherkennung psychischer Risikofaktoren bei jungen Menschen entwickelt hatte, arbeitete er in skandinavischen Kompetenzzentren für die Erforschung psychischer Erkrankungen, wie dem Norwegian Center of Excellence for Mental Disorders Research (NORMENT, Universität Oslo) und der Norwegian University of Science and Technology (NTNU), und „landete“ schliesslich in der Schweiz, der Wiege des Konzepts der Schizophrenie. Seit vergangenem November leitet er den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) und ist für den Bereich akademische Ausbildung und Forschung der Sozialpsychiatrischen Organisation des Kantons Tessin (OSC) in Mendrisio verantwortlich. Auf Raballos Programm der im Tessin zu entwickelnden Projekte steht auch eine Reihe von Forschungsaktivitäten und konkreten Vorschlägen, die auf eine frühzeitige Differenzialdiagnose von Schizophrenie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (die in den Bereich der sogenannten Transitionspsychiatrie fällt) abzielen.

«Es ist sehr wichtig – erklärt Raballo –, familiäre, umweltbedingte und therapiebedingte Belastungsfaktoren, die eine Schizophrenie begünstigen können, frühzeitig zu erkennen, um sofort handeln zu können. Es gibt kein Schizophrenie-Gen (es wurde noch keines entdeckt). Fest steht hingegen, dass das Risiko einer psychischen Erkrankung von Generation zu Generation weitergegeben wird: eine Reihe von schwer zu erfassenden Spuren im Umfeld eines Menschen (die sogenannte Epigenetik). Wer beispielsweise über Jahrzehnte hinweg „durch den emotionalen Fleischwolf gedreht wird“ oder den Verlust nahestehender Menschen erlebt, ist einem höheren Schizophrenie-Risiko ausgesetzt».

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Raballo ist Präsident der Abteilung für die Prävention psychischer Störungen der European Psychiatric Association. Seine Präsenz an der USI (er ist der erste Professor für Psychiatrie an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften) wird neuen Schwung in die Entwicklung der Forschung in diesemBereich bringen, für den es an der kantonalen psychiatrischen Klinik bereits eine entsprechende Abteilung gibt. «Wir werden die gemeinsame Arbeit nutzen – erklärt er –, indem wir eine gemeinsame kulturelle Sensibilität schaffen. Ich stehe dem Ganzen sehr positiv und gelassen gegenüber».

KLISCHEES ÜBER SCHIZOPHRENIE – Unter den psychischen Erkrankungen ist die Schizophrenie vermutlich jene, die am stärksten stigmatisiert wird und uns am meisten Angst macht, sei es wegen der mit ihr verbundenen „volkstümlichen“ Vorstellung oder wegen der Art und Weise, wie sie oft in den Medien und in Filmen mit übertrieben dargestellten Symptomen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen beschrieben wird. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden weltweit rund 24 Millionen Menschen an dieser psychischen Erkrankung. Schizophrenie – ein 1908 vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägter Begriff, der sich aus den beiden griechischen Wörtern schizo (spalten) und phren (Geist) zusammensetzt – kann jeden treffen, unabhängig von Geschlecht, Alter und Einkommen. Die Zahl der an Schizophrenie erkrankten Menschen ist vermutlich höher als jene der gemeldeten bestätigten Fälle. «Was Schizophreniekranke kennzeichnet – so Raballo –, sind Schwierigkeiten hinsichtlich der emotionalen Abstimmung (wobei es sich jedoch um keine kognitiven Störungen handelt), die auf einen fehlenden emotionalen Kontakt mit der Umwelt und den Mitmenschen zurückzuführen sind. Die Schizophrenie umfasst also unterschiedliche Komponenten, die mit Veränderungen verbunden sind, die das subjektive Erleben, die Art und Weise, wie die erkrankte Person in der Welt steht, sowie die persönlichen Beziehungen betreffen und nicht nur in zwischenmenschlicher, sondern auch in pragmatischer Hinsicht zur Unfähigkeit führen, mit der Umgebung in einen Dialog zu treten».

Die gute Nachricht ist, wie Raballo bestätigt, dass sich die Forschung in den letzten Jahren immer mehr auf die Entwicklung von Behandlungsprogrammen und Gesundheits- und Sozialsystemen konzentriert hat, die auf die Früherkennung der Erkrankung und der damit verbundenen Risikofaktoren abzielen, um ein frühzeitiges Handeln zu ermöglichen und so die Chancen auf eine günstige Prognose – wenn nicht gar auf Heilung oder die Beseitigung des Risikos – zu maximieren.

«Bei der Frühdiagnose handelt es sich um einen Schlüsselaspekt», fährt Raballo fort. «Der für das „Endstadium“ der Schizophrenie typischen „Spaltung des Geistes“ geht nämlich in Wirklichkeit eine Reihe verschiedener sogenannter „subklinischer“ Symptome voraus (wie z. B. tief sitzende Ängste, sozialer Rückzug, Sozial- und Schulphobie sowie Depression), an denen die Betroffenen über einen längeren Zeitraum leiden, ohne sich unbedingt professionelle Hilfe zu suchen. Wird das Leiden jedoch nicht als solches erkannt und entsprechend behandelt, können die langfristigen Folgen für die Betroffenen und deren Angehörige verheerend sein. Wenn die Diagnose hingegen rechtzeitig gestellt wird, kann verhindert werden, dass sich das Leiden zu einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung entwickeltMan schätzt, dass heute etwa ein Drittel der an Schizophrenie erkrankten Personen geheilt werden kann (wobei man unter dem Begriff „Heilung“ die Überwindung des der Erkrankung zugrunde liegenden psychischen Leidens versteht). Ausserdem hat mehr als die Hälfte der Schizophrenkranken dank einer Kombination von pharmakologischen und psychosozialen (insbesondere psychotherapeutischen) Massnahmen eine gute Langzeitprognose. Es muss auch gesagt werden, dass sich im Laufe der Zeit ein neues Behandlungskonzept herausgebildet hat, das unter der Heilung psychischer Erkrankungen nicht mehr nur die Linderung oder Remission der Symptome versteht, sondern die Wiederherstellung des ursprünglichen Gesundheitszustandes mithilfe einer entsprechenden Psychotherapie.

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ – Die neuesten und fortschrittlichsten IT-Systeme können helfen, die ersten Anzeichen einer Schizophrenie zu erkennen: «Wir haben die Möglichkeit – erklärt Raballo –, mit Kolleginnen und Kollegen, die sich mit künstlicher Intelligenz befassen, zusammenzuarbeiten, um aus den Krankenakten von Schizophrenie-Patientinnen und -Patienten Indikatoren für die Prognose und den Krankheitsverlauf zu extrapolieren. Darüber hinaus wird ein Projekt in Erwägung gezogen, das darauf abzielt, das diagnostische und therapeutische Potenzial des Digital Phenotyping, das den Einsatz digitaler Tools vorsieht, zu erforschen und anzuwenden. Ein Beispiel? Die digitalen Technologien ermöglichen es, die Prosodie bzw. den Tonfall einer Person zu analysieren, deren Reaktionsfähigkeit und Synchronisation mit dem Gegenüber Frühindikatoren für Leiden sein können. Ein umfassenderes Verständnis für die individuellen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten sowie für die daraus resultierenden Verhaltensweisen ist auch notwendig, um das Wort „Schizophrenie“ zu enttabuisieren und die landläufige Meinung zu widerlegen, eine Heilung sei unmöglich».