SCHLAGANFALLTHERAPIEN

Das in Zusammenarbeit mit dem Inselspital Bern gegründete Stroke Center in Lugano hat ein Spitzenniveau erreicht

Samstag, 9. April 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Zusammen mit Alessandro Cianfoni, Chefarzt für Neuroradiologie am Neurocentro (EOC), und Jan Gralla, Leiter des Berner Stroke Centers, lassen wir die einzelnen Etappen der Allianz zwischen den beiden Krankenhäusern Revue passieren
von Valeria Camia

Bei einem zerebrovaskulären Infarkt (auch Schlaganfall oder Stroke genannt) zählt jede Sekunde. Im wahrsten Sinne des Wortes. Der Zugang zum Rettungsdienst sowie zu einer frühzeitigen Behandlung sind entscheidend für die Prognose. Im Tessin kann man im Hinblick auf die Behandlung schwerer zerebraler Ischämien und Hämorrhagien von einem «Vorher» und «Nachher» sprechen. Das «Vorher» sah bis 2008 ein Szenario vor, in dem Schlaganfallpatienten als absolute Notfälle in Universitätskliniken der Deutschschweiz verlegt werden mussten, da es damals im Kanton das Neurocentro della Svizzera Italiana (2009 von Professor Claudio Bassetti gegründet) des Tessiner Spitalverbunds Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) noch nicht gab. Der Transport von Schlaganfallpatienten in die Deutschschweiz war jedoch nicht nur mit hohen Kosten, sondern auch mit erheblichen Risiken für die Patientinnen und Patienten selbst verbunden: Krankenwagen brauchten oft zu lange, und Hubschrauber fliegen bekanntlich nicht bei schlechtem Wetter. Daraufhin schuf das Neurocentro die notwendigen Voraussetzungen für die Einrichtung eines Stroke Centers, das heute zu den acht Schweizer Zentren zählt, die den Auftrag und die Genehmigung haben, Schlaganfälle auch invasiv (d. h. nicht nur mit Medikamenten) unter Einsatz neuartiger Techniken der interventionellen Neuroradiologie zu behandeln. 

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Aus dem Nichts heraus ein Stroke Center aufzubauen, stellt jedoch ein äusserst schwieriges Unterfangen dar, für dessen Gelingen sich die Allianz mit dem Inselspital Bern, das sich bereits damals durch eine der auf diesem Gebiet innovativsten Einrichtungen der Schweiz auszeichnete, als entscheidend erwies. «Es wurde beschlossen, dass das Inselspital als Wegweiser fungieren sollte – so Professor Alessandro Cianfoni, Chefarzt der Neuroradiologie des Neurocentro, am EOC –, und zwar einerseits durch die Präsenz einiger Berner Fachärzte in Lugano, und andererseits durch die Ausbildung unserer Ärzte am Inselspital. Darüber hinaus haben wir den Personalbestand des Stroke Centers um einen hervorragenden Facharzt der Universitätsklinik Mailand, Maurizio Isalberti, ergänzt, der jetzt am Neurocentro die Leitung der Abteilung für interventionelle Neuroradiologie innehat.»
Innerhalb weniger Jahre erlangte das Luganeser Team vollständige Unabhängigkeit. Die Zusammenarbeit zwischen dem Tessin und dem Inselspital ist dennoch nach wie vor sehr intensiv und kontinuierlich und festigte sogar die persönliche Freundschaft zwischen Cianfoni und Professor Jan Gralla, dem Leiter des Berner Zentrums. Aber damit nicht genug: «Auch in umgekehrter Richtung hat sich eine Möglichkeit der Zusammenarbeit eröffnet, und zwar im Bereich der minimalinvasiven Wirbelsäulenchirurgie, in welchem wir in Lugano besonders weit fortgeschritten sind», erklärt Cianfoni. 

Nun aber zurück zur Notfallbehandlung von Schlaganfallpatienten und zu den Anfängen der Allianz mit der Abteilung von Professor Gralla, die 2014 – einige Jahre, nachdem das Neurocentro versucht hatte, das Stroke Center mit einem eigens dafür zusammengestellten Team aufzubauen – besiegelt wurde. «Ich kam zwei Wochen vor Beginn der Zusammenarbeit mit dem EOC, genauer gesagt zwei Wochen vor dem 1. Januar 2014, nach Lugano», so Gralla. Ich kann mich erinnern, dass ich mich in einer unweit des Krankenhauses gelegenen Wohnung eingemietet hatte. Mir war sofort bewusst, dass meine Kolleginnen und Kollegen in den jeweiligen medizinischen Disziplinen zwar hoch qualifiziert waren, aber auch, dass es notwendig war, ein Team aufzustellen, um die Zusammenarbeit zwischen Ärzten mit unterschiedlichen Aufgaben – z. B. Anästhesisten, Neurologen, Neurochirurgen und natürlich Neuroradiologen – zu ermöglichen. Wir haben sogar eine Art „Arbeitsprotokoll“ erstellt, das zu befolgen ist. Ich kann mich noch an den ersten Patienten erinnern, den wir behandelt haben», fährt Gralla fort. «Es war der 14. Januar, um 4 Uhr morgens. In den darauffolgenden Monaten kehrte ich mehrere Male, nämlich alle zwei Wochen, nach Lugano zurück. Ausser mir kamen noch weitere Kolleginnen und Kollegen aus Bern ins Tessin, wo sie für mehr als zwei Jahre etwa die Hälfte ihrer Arbeitszeit am Neurocentro verbrachten.»

Bereits seit 2016 agiert das Stroke Center in Lugano in voller Unabhängigkeit. «Wenn man heute im südlich der Alpen gelegenen Kanton einen Schlaganfall erleidet, kann man sicher sein, dass man die bestmögliche medizinische Versorgung erhält», bestätigt Gralla. Die Kolleginnen und Kollegen aus Lugano wenden sich weiterhin nur bei sehr komplexen Fällen an uns, wobei sie die Patienten mit der Unterstützung unseres Teams direkt im Tessin behandeln (viel seltener werden die Patienten in unserem Institut betreut). Unsere Zusammenarbeit betrifft auch die Forschung: Gemeinsam haben wir verschiedene Studien durchgeführt, die in renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Schliesslich möchte ich darauf hinweisen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Zentren Bern und Lugano nicht nur mit einem gewissermassen von Norden nach Süden gerichteten Austausch von „Expertise“, Kenntnissen und Techniken einhergeht. «Professor Cianfoni, Experte für Wirbelsäulenchirurgie, hält zum Beispiel am Inselspital für Medizinstudierende Kurse zu diesem Thema ab und steht unseren Ärzten bei hochkomplexen Eingriffen mit Beratung und Unterstützung zur Seite», bestätigt Gralla.

Kurz gesagt, kann man von einer zweifellos erfolgreichen Zusammenarbeit sprechen... «Selbstverständlich – betont Gralla –, das belegen auch die Zahlen. Als wir begannen, abzuwägen, ob es Sinn mache, sich für ein Kompetenzzentrum für neurovaskuläre Erkrankungen im Tessin zu engagieren, rechneten wir damit, dass etwa 20-30 Patienten pro Jahr die Art von Eingriffen benötigen würden, die in Bern bereits durchgeführt wurden. Heute werden im Neurocentro jedes Jahr mehr als 80 Schlaganfälle mittels invasiver Techniken, der sogenannten mechanischen Thrombektomie, behandelt. Das Neurocentro della Svizzera Italiana ist mittlerweile vollständig in das Schweizer Netzwerk spezialisierter Zentren für zerebrovaskuläre Erkrankungen integriert und somit in der ganzen Schweiz anerkannt. Es verfügt nicht nur über eine Abteilung für vaskuläre Neurochirurgie, sondern auch über eine hoch qualifizierte Abteilung für interventionelle Neuroradiologie. Beide Abteilungen sind sowohl für die Behandlung zerebraler Ischämien als auch im Hinblick auf den Auftrag des EOC, eine hochspezialisierte medizinische Versorgung für zerebrale Hämorrhagien – wie Aneurysmen und Gefässfehlbildungen – zu gewährleisten, von grundlegender Bedeutung.»

Im Stroke Center des Neurocentro werden nicht nur Schlaganfälle, sondern eine Reihe weiterer Erkrankungen behandelt, die alle extrem heikel sind. Sie erfordern eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachkräften, die Tag und Nacht innerhalb weniger Minuten einsatzbereit sind, da die Nervenzellen etwaigen Schäden (insbesondere einer geringen Sauerstoffzufuhr, wie es bei den meisten Schlaganfällen der Fall ist) nur für eine minimale Zeitspanne standhalten. In diesem Bereich wurden enorme Fortschritte erzielt. «Bis vor 30 oder 40 Jahren – erklärt Cianfoni – wurden Schlaganfallpatienten lediglich „stabilisiert“, d. h. man versuchte, die Vitalfunktionen zu sichern. Es gab jedoch keine Möglichkeit, den Thrombus aufzulösen oder zu entfernen (beim sogenannten ischämischen Schlaganfall) oder die Blutung zu stoppen (hämorrhagischer Schlaganfall). Heute verfügen wir hingegen über hochwirksame Medikamente zur Auflösung von Thromben sowie über interventionelle Techniken, die es ermöglichen, gegebenenfalls mit haarfeinen Sonden bis zum Gehirn vorzudringen, um den Thrombus „einzufangen“ bzw. zu entfernen oder die Blutung zu stoppen.» 

Die Zukunft hält noch einige Verbesserungen und mögliche Innovationen bereit. «Wir versuchen – erklärt Gralla –, nicht nur die Materialien, sondern auch die Techniken effektiver, schneller und sicherer zu gestalten, um sie für eine immer grössere Anzahl von Schlaganfällen anwenden zu können:  So setzen wir zum Beispiel auf die Entwicklung von Techniken, die es ermöglichen, selbst die entferntesten und dünnsten Hirngefässe zu erreichen. Am Horizont zeichnen sich ausserdem chirurgische Robotersysteme sowie die Entwicklung von Medikamenten zur optimalen Kombination mit invasiven Techniken ab», fügt Gralla abschliessend hinzu. «Das Team aus Lugano ist zusammen mit dem Team des Inselspitals (im Rahmen unserer konstruktiven Zusammenarbeit) sowie führenden internationalen Zentren an verschiedenen innovativen Forschungsprojekten beteiligt.»