STATISTIK

Covid, wir sind auch von der Pandemie der Daten umgeben... So schützen wir uns

Freitag, 11. Dezember 2020 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Gespräch mit Antonietta Mira, Leiterin des Data Science Lab USI. Sie wurde in das Führungsgremium der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik berufen und hat vor kurzem mit dem Philosophen Armando Massarenti einen Essay veröffentlicht
von Michela Perrone

Dieses Jahr hatten wir alle direkt mit den Daten zu tun, manche zum ersten Mal im Leben. Bereits seit Monaten warten wir coronabedingt täglich auf die Meldungen der Zahlen der Infizierten und Patienten in stationärer Behandlung, wir versuchen zu verstehen, was es mit dem R-Wert auf sich hat, wir zählen den Anteil an Infizierten im Verhältnis zur Anzahl der genommenen Abstriche, und so… «Vor allem haben wir gelernt, dass die Daten nichts Abstraktes sind, sondern etwas über uns, unsere Gewohnheiten und Präferenzen aussagen. Die Zahlen rund um das Coronavirus sagen insbesondere etwas über die Leben unserer Liebsten aus». Antonietta Mira ist Professorin für Statistik an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Università della Svizzera italiana (USI) und Leiterin des Data Science Lab des Istituto di scienza computazionale (Institut für wissenschaftliches Rechnen ICS). Vor kurzem hat sie mit dem Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftsphilosophen Armando Massarenti das Buch La pandemia dei dati. Ecco il vaccino (Die Pandemie der Daten. Das ist der Impfstoff) (Mondadori editore) veröffentlicht, das sich genau mit diesen Themen befasst und versucht, uns zu zeigen, dass kritisches Denken uns wirksam vor den kognitiven Verrenkungen schützen kann, mit denen wir diese Daten häufig interpretieren. 

«Normalerweise ist Ungewissheit etwas Beunruhigendes – erklärt die Expertin. – Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass sie für uns einen Wettbewerbsvorteil bedeuten, unsere Stärke werden kann, wenn wir sie auf angemessene Weise mit den Instrumenten der Wahrscheinlichkeit quantifizieren». Phänomene, über die wir gar keine Kontrolle haben, können wir nicht steuern, aber wir können sie verstehen und uns der sie umgebenden Komplexität nähern, wenn wir auch die Aspekte einbeziehen, die uns weniger intuitiv erscheinen.

«Um zuverlässige Vorhersagen zu treffen, brauchen wir gute Daten und realistische Modelle – so Mira weiter. – Erstere fehlen uns im Falle der aktuellen Pandemie leider: Wir haben Zahlen, die durch ihre Modalität der Erfassung sogar innerhalb eines Landes voneinander abweichen. Das muss man sich vor Augen halten. Der Statistiker ist es gewohnt, mit Daten zu arbeiten, die Fehler oder Verzögerungen enthalten und verfügt über Instrumente, mit denen er manche dieser Verzerrungen korrigieren oder zumindest angemessen berücksichtigen kann». Ausserdem werden die Daten häufig nur in aggregierter Form übermittelt und geteilt, auch unter den Wissenschaftlern, die sie dann auswerten. Zwei von den Experten angewandte Strategien, die aber auch von jedem Bürger umgesetzt werden, um sich vor der Pandemie der Daten zu schützen: «Zum einen müssen wir uns der Ungleichheit der Daten und somit ihrer Grenzen bewusst sein – erläutert Mira. – Und zum anderen können wir uns „kollaterale“ Informationen suchen, die uns helfen, die Wirklichkeit besser zu interpretieren». 

Bleiben wir beim Beispiel des Coronavirus: Sind die Daten zwischen den verschiedenen europäischen Ländern (oder den Kantonen bzw. Regionen eines Staates) nicht vergleichbar, muss man nach Zahlen suchen, die es sind. Ein Beispiel? «Die sogenannte excess mortality rate, die Übersterblichkeit, also die Sterblichkeitsrate für alle Ursachen in einem gewissen Zeitraum. Dies hat aus statistischer Sicht zwei Vorteile: Es handelt sich um einheitliche Daten in den verschiedenen Gebieten und ermöglicht auch einen Vergleich mit der Vergangenheit, weil sie unabhängig von der aktuellen Pandemie sind». Und indem wir die Unterschiede zu den vergangenen Jahren betrachten, können wir die aktuellen Trends herauslesen: Eben die, die durch das neue Virus bedingt sind. 

DAS WISSENSCHAFTLICHE ENGAGEMENT- Neben ihrer regen populärwissenschaftlichen Aktivität arbeitet Antonietta Mira an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten, was zeigt, dass die Statistik überall vertreten ist, von der Medizin bis hin zu Bankvorgängen.

Ebenfalls zum Thema Covid-19 koordiniert die Expertin, die Anfang November in das Führungsgremium der Schweizerischen Gesellschaft für Statistik berufen wurde, die Tessiner Einheit von Periscope, ein im Rahmen des europäischen Programms Horizon 2020 finanziertes Projekt, das die Auswirkungen der Pandemie auf Gesellschaft, Wirtschaft und Verhalten untersucht, um Europa resistenter zu machen und auf künftige Risiken besser vorzubereiten. «Wir durchleben gerade eine Phase grosser Ungewissheit – betont Mira. – Dennoch ist es aus der Perspektive der Wahrscheinlichkeit nicht wie das Werfen eines Würfels. Was hinsichtlich des Coronavirus in Zukunft geschieht, hängt zumindest teilweise von dem ab, was in der Vergangenheit war». 

Beispiele für Wahrscheinlichkeits-Ereignisse «ohne Gedächtnis» sind hingegen Roulette oder das Lottospiel. In diesen Fällen haben frühere Farben oder in der Vergangenheit gezogene Zahlen keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der künftigen.

Periscope wird mit knapp 10 Millionen Euro finanziert und umfasst 32 europäische Einrichtungen unter der Koordination der Universität Pavia. Das Projekt ist im November angelaufen und wird drei Jahre dauern. «Es ist ein wichtiges Instrument, – erklärt Mira – da es sich nicht auf die pharmakologischen Lösungen beschränkt, sondern auch die Strategien und die Auswirkungen auf das System überdenkt».

Ein Projekt mit unmittelbareren Ergebnissen treibt die Expertin der USI seit ein paar Jahren in Zusammenarbeit mit dem Cardiocentro in Lugano, der Fondazione Ticino Cuore und der Federazione Cantonale Ticinese dei Servizi Autoambulanze voran. «Es handelt sich um ein territoriales Mapping des Herzrisikos – sagt Mira – unter anderem zur Optimierung der Verteilung der Defibrillatoren, die zur Lebensrettung von Herzinfarktpatienten ausserhalb des Krankenhauses eine wesentliche Rolle spielen». Das Projekt wurde 2017 gestartet und sieht zwei Forschungslinien vor: Die erste hat durch die Auswertung der Notrufe eine Rekonstruktion der Herzinfarkte ausserhalb der Krankenhäuser ermöglicht und lieferte Daten für eine optimale Positionierung der Defibrillatoren. «Der Faktor Zeit spielt beim Infarkt eine massgebliche Rolle: Ein schnelles Einschreiten ist erforderlich in der Hoffnung, dass der Patient aus neurologischer Sicht keine zu schweren Folgen davonträgt», erläutert die Statistikerin.

Die zweite Forschungslinie zielt auf das Erstellen einer Ressourcen-Map ab: Basierend auf Merkmalen der ansässigen Bevölkerung wie Alter, Geschlecht, usw. kann man herausfinden, wie die zur Verfügung stehenden Mittel, zum Beispiel die Ambulanzen, bestmöglich positioniert werden. 

«Es handelt sich um ein sehr aussagekräftiges Projekt, da die Daten gut gesammelt wurden und somit sehr zuverlässig sind – bestätigt Mira. – Dazu haben auch die Studenten und Mitarbeiter der USI einen enormen Beitrag geleistet, die an der Geolokalisierung der eingehenden Notrufe mitgewirkt waren, als das Datenerfassungssystem noch nicht vollständig digitalisiert war». 

Antonietta Mira ist eine Ausnahmeerscheinung in der akademischen Welt: Sie zählt zu den sehr wenigen Professorinnen, die sich an der USI mit quantitativen Themen befassen. «Eigentlich – sagt sie – ist die Frauenquote gar nicht so schlecht: In meiner Studiengruppe haben wir viele sehr gute Doktorandinnen oder weibliche Post-Docs. Je weiter es auf der Karriereleiter allerdings nach oben geht, desto geringer wird der Frauenanteil und die Konkurrenz wird rein männlich».

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