«KONTAMINATIONEN»

Wissenschaft und Theater: Antike Verbindungen und ähnliche Methoden auf der Suche nach verborgener Wahrheit (und Affinität)

Freitag, 22. Januar 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Eine Szene aus «Macbeth, le cose nascoste». Copyright: LAC Foto Studio Pagi
Eine Szene aus «Macbeth, le cose nascoste». Copyright: LAC Foto Studio Pagi

Gespräch mit Carmelo Rifici, Erfinder und Regisseur von «Arti liberali» (Liberale Künste), ein vom LAC Lugano Arte Cultura und der RSI zunächst im Web, dann auch auf La2 präsentiertes Format, um die «Verbindungen» zwischen verschiedenen Welten wiederzufinden
von Paolo Rossi Castelli

Können Theater und Wissenschaft Affinitäten aufweisen? Auf den ersten Blick handelt es sich um sehr weit voneinander entfernte Welten, aber wenn man versucht, mit Respekt und Mut eine «Mischung» zu schaffen, entstehen unerwartete und interessante Verbindungen. Den Beweis liefert «Arti liberali» (Liberale Künste), ein vom LAC (Lugano Arte e Cultura) und La2 RSI zunächst im Web, dann im Fernsehen präsentiertes Format (die dritte Folge wurde am 22. Januar ausgestrahlt). Erfinder und Regisseur ist Carmelo Rifici, künstlerischer Leiter des LAC und Mann des Theaters. 

Wissenschaft und Theater: Was haben sie gemeinsam?
«Seit es Theater gibt, – antwortet Rifici – war es stets ein Ort des Wissens. Seit der Zeit der Griechen (die neben der heute üblichen dramaturgischen Dimension auch die rituelle Dimension pflegten) benötigte das Theater stets Instrumente der Untersuchung, um verstanden und „durchdrungen“ zu werden und es dem Publikum zu ermöglichen, die Welt zu lesen. Das Theater hat sich viele Wissensinstrumente zu eigen gemacht, darunter die Wissenschaft (als sie noch mystisch war und noch nicht Wissenschaft genannt wurde...). Sie diente der Überprüfung der Hypothesen».

Behaupten Sie, dass sich die Männer des Theaters dessen bedienten, was wir heute wissenschaftliche Methode nennen?
«In vielerlei Hinsicht ja, vor allem ab dem 17. Jahrhundert. Shakespeare selbst wandte eine Art wissenschaftliche Methode an: Er bewegte sich innerhalb dessen, was er beobachtete, suchte eine Lesart und überprüfte dann seine Interpretation durch den Kontakt mit dem Publikum. Auch heute ist das Theaterstück die Überprüfung einer Hypothese, der Wahrheit. Wenn die „Theatermaschine“ nicht funktioniert, liegt es am Misslingen der Überprüfung auf der Bühne».

Können Sie das näher erläutern?
«Die Bühne ist ein spezielles Vergrösserungsglas, das unendliche Möglichkeiten bietet und die Welt für den Zuschauer erweitert, sodass er sehen kann, was mit dem blossen Auge nicht erkennbar ist. Etwas, das an eines der Beispiele von Fabiola Gianotti erinnert, der Generaldirektorin des CERN in Genf, die bei der ersten Folge von „Arti liberali“ zu Gast war. Durch die Wissenschaft, wie sie es in etwa formuliert hat, betrachte ich die Realität auf andere Weise. Wenn ich ein Steak esse, denke ich an die Atome, aus denen es sich zusammensetzt, an die Räume zwischen einem Atom und dem anderen... Und ich füge hinzu, dass auch wir auf der Bühne nicht die materielle Wirklichkeit betrachten, sondern das, was zwischen den leeren Räumen zwischen einem Wort und dem anderen ist».

Hat die Wissenschaft das Theater beeinflusst?
«Ja, sehr sogar. Ohne die Entdeckung des Fernglases und des Mikroskops hätten sich bestimmte Dramaturgien gar nicht entwickelt. Auch in der jüngsten Zeit haben sich viele Autoren und Regisseure von den neuen Erkenntnissen durch wissenschaftliche Entdeckungen inspirieren lassen. Luca Ronconi, der mein Meister war, hat ein bedeutendes Stück über das Konzept von Raum und Zeit „Infinities“ geschaffen mit Texten, die von einem Wissenschaftler, dem Kosmologen John D. Barrow, stammen. Und vergessen wir nicht, dass eine der wichtigsten Regiearbeiten von Giorgio Strehler Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ war. Auch Anton Tschechow war ein Mann der Wissenschaft, ein Arzt».

In den drei Folgen von Arti liberali wurde viel über Mathematik gesprochen...
«Ja, wir sind von dieser Wissenschaft (der Mathematik), die es uns ermöglicht, Teil von etwas Grösserem zu sein, begeistert, beinahe besessen. Ausserdem ist Mathematik eng mit der Musik verbunden: Welche ist zuerst aufgetreten? Die Musik ist entstanden, um Sorgen, nicht notwendigerweise Schönheit, auszudrücken. Musik und Theater als Türöffner für wichtige existentielle Fragen».

Eine Definition der Mathematik?
«Ich kann erneut mit den Worten von Fabiola Gianotti antworten: Die Mathematik ist die Sprache der Natur und der Wissenschaft, aber auch ein intellektuelles Spiel. Sie ist schön und faszinierend, sofern sie auf interessante und einfache Weise erklärt wird».

Das führt uns zurück zum Thema der Liberalen Künste, die im Mittelalter die unterschiedlichen Arten von Wissen nicht trennten. 
«Die liberalen Künste waren die Studienfächer der freien Männer, der Aristokratie und des Klerus, im Unterschied zu den mechanischen Künsten, die zum Unterrichten eines Berufs dienten. Dante Alighieri war ein Literat, aber auch ein Experte in Chemie, Astronomie... Wissenschaft, Mathematik, Literatur und Kunst waren perfekt miteinander verwoben: Weniger, um Antworten zu geben, sondern vielmehr, um Fragen zu stellen». 

Wie kann man den Bruch überwinden, der heute hingegen zwischen humanistischen und wissenschaftlichen Fächern besteht?
«Die Schule spielt eine wichtige Rolle und könnte zur Verringerung der Kluft zwischen den Geisteswissenschaften und der Mathematik, der Biologie oder der Physik viel beitragen. Selbstverständlich muss man dem Einzelnen eine Ordnung der Kompetenzen geben und neigt dabei dazu, die verschiedenen Disziplinen zu trennen. So werden Buchstaben und Zahlen bereits ab der ersten Klasse getrennt, aber das ist ein Fehler. In den Theaterakademien werden diese Unterscheidungen aufgehoben und man lehrt von Anfang an, dass die gesprochene und die symbolische Sprache eng miteinander verbunden sind. Und auch das Fernsehen könnte einiges leisten, da viele Menschen nach wie vor daraus ihr Wissen beziehen (als Möglichkeit, der Wirklichkeit Bedeutung zu geben). Das Fernsehen präsentiert uns die Wissenschaftler ausschliesslich als Personen, die uns von Krankheiten heilen sollen. All das sollte sich ändern».

Oftmals verwenden die Wissenschaftler aber auch eine schwer verständliche Sprache.
«Es ist schwierig, hochkomplexe Konzepte zu vereinfachen, ohne sie zu simplifizieren. In vielen Fällen hat die Wissenschaft mit derartigen Problemen zu tun. Ich traue mich aber zu behaupten, dass es manchmal vielleicht richtig ist, eine gewisse Unverständlichkeit zu wahren, denn auch wenn eine komplexe Sprache nicht von allen verstanden wird, so schafft sie doch weniger Missverständnisse. Auch Pier Paolo Pasolini äusserte sich mit folgenden Worten zum Theater: „Nur das wirklich komplexe Theater ist ein wirklich demokratisches Theater“. Ein plakativer Spruch, in dem aber etwas Wahres steckt. Den Beweis erhielt ich, als ich im Griechischen Theater in Syrakus „Den bekränzten Hippolytos“ von Euripides in der Übersetzung von Edoardo Sanguineti auf die Bühne brachte. Es war sehr schwer zu spielen und für das Publikum schwer zu folgen (dachten wir zumindest). Dabei ist es bei den Zuschauern mit grosser Wucht angekommen und die Aufführung wurde zu einem Kassenschlager. Scheinbar war der Code trotz aller Komplexität genau richtig».

Andererseits finden manche Wissenschaftler die Literaten schwer verständlich. Charles Darwin, um ein Genie zu nennen, hielt die Werke von Shakespeare (ein anderes Genie) für langweilig
«Dem kann man auch nicht widersprechen... Für das Publikum sind sie oft ein harter Brocken. Shakespeare war auf verschiedene Aspekte ganz fixiert, vor allem auf das Verhältnis zwischen Sprache und Macht. Wenn man seinen Texten nicht eine geheime Interpretation entnimmt, können sie tatsächlich langweilig wirken. Ab einen gewissen Punkt in der Geschichte (vor allem nach der industriellen Revolution) gefielen die alten Handlungen von Shakespeare immer weniger, die Schauspieler kürzten sie und stellten sie um... Es brauchte 2 Weltkriege und das 20. Jahrhundert, um eine Wiederentdeckung von Shakespeare einzuleiten. Nach der Holocaust-Katastrophe ist die Vorstellung der Pyramide der Sprache (die autokratische Vorstellung, dass die Sprache Wahrheit ist) in sich zusammengebrochen. Das Vertrauen in das Wort ging verloren und es begann die Suche nach der Wahrheit jenseits der Sprache. Das war der Beginn der Suche nach Shakespeares tiefen und geheimen Bedeutungen. Auch Darwin hätte das geschätzt...».

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