GENOMIK

Wie soll man die riesige Menge an DNA-Daten verwalten? Eine neue „Plattform“ schafft Abhilfe

Freitag, 12. August 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

BigOmics Analytics, ein Unternehmen, das als Spin-off des IOR gegründet wurde, um Forschungsgruppen ohne Bioinformatiker zu unterstützen, nimmt nun nach der „Inkubation“ am USI Startup Centre Fahrt auf
von Michela Perrone

«Anfangs war der Einsatz von Big Data (riesigen Datenmengen, Anm. d. Red.) auf sehr spezifische Bereiche wie Astronomie, Kernphysik und soziale Netzwerke beschränkt. Mittlerweile erstreckt er sich auch auf die medizinische Forschung. Allerdings sind Biologen und Mediziner im Gegensatz zu Physikern und Astronomen nicht sehr mathematikbegeistert. Genau hier knüpfen wir an!» Ivo Kwee ist Mitbegründer und technischer Leiter von BigOmics Analytics, einem Start-up, das als Spin-off (eigenständiges Unternehmen) des Onkologischen Forschungsinstituts (Istituto Oncologico di Ricerca, IOR) in Bellinzona gegründet wurde. Der aus Indonesien stammende und in den Niederlanden aufgewachsene Start-up-Mitbegründer kam im Jahr 2000 ins Tessin, um am Dalle Molle Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (Istituto Dalle Molle di Studi sull’Intelligenza Artificiale, IDSIA) als Postdoc zu arbeiten. Anschliessend wechselte er im Rahmen eines gemeinsamen Projekts zum IOR. Genau hier wurde er auf ein Problem in den Labors aufmerksam: «Die Forscher waren mit der Nutzung von Daten, die die Genomik (die Organisation und Struktur der in der DNA enthaltenen Gene) betrafen, kaum vertraut», erzählt Kwee. «Ihnen stand zwar eine Fundgrube an Informationen zur Verfügung, aber sie wussten oft gerade aufgrund der Fülle dieses Materials nicht, wie sie mit all diesen Daten umgehen sollten
Es verfügen nämlich nicht alle Forschungsgruppen über Bioinformatiker, die nicht nur grosse Datenmengen auswerten können, sondern auch Kenntnisse in Biologie besitzen. Kwees Idee war es, benutzerfreundliche IT-Tools für diese Zwecke bereitzustellen

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Für die personalisierte Medizin ist eine eingehende Analyse der Merkmale der einzelnen Patientinnen und Patienten von grundlegender Bedeutung, um herauszufinden, auf welche Medikamente oder Therapien sie am besten ansprechen. Zu diesem Zweck müssen grosse Datenmengen ausgewertet werden: «Wir sind in der Lage, innerhalb eines Tages 80 % der Informationen bereitzustellen, die die Fachärzte für ihre Beurteilungen benötigen», erklärt Kwee. «Ohne Plattformen wie unsere würden sie Monate brauchen, um die gleichen Ergebnisse zu erzielen.» Den Gründern zufolge würde BigOmics Analytics also Zeit- und Kosteneinsparungen gewährleisten.

Nachdem die Idee intern auf ihre Tauglichkeit geprüft worden war, beschloss Kwee, zusammen mit einem seiner Studenten, Murodzhon Akhmedov, ein Start-up-Unternehmen zu gründen: «Unsere Idee – erklärt er – war es, die Datenanalyse im Bereich der Genomik, der in jenen Jahren regelrecht explodierte, zu demokratisieren. Wir wollten sie für alle zugänglich machen. Die Daten werden zwar immer kostengünstiger zur Verfügung gestellt, aber um sie auswerten zu können, sind bestimmte Kompetenzen und Werkzeuge erforderlich.»

2017 ernteten die Gründer von BigOmics die erste wirkliche Anerkennung, als sie beim StartCup Ticino den dritten Platz erreichten, einem Wettbewerb (heute als „Boldbrain Startup Challenge“ bekannt), der den Zugang zu einem Beschleunigungsprogramm für innovative Geschäftsideen oder angehende Start-ups ermöglichte. Die institutionellen Partner des Wettbewerbs sind die Università della Svizzera italiana (USI) und die Fachhochschule Südschweiz (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana, SUPSI).
«Diesem Wettbewerb, der unsere Idee erstmals auf die Probe stellte, haben wir viel zu verdanken», so Kwee. «Mit den gewonnenen 20.000 Franken konnten wir einen Prototyp entwickeln, ohne den es äusserst schwierig ist, potenzielle Investoren zu überzeugen.» Darüber hinaus kam es 2018 dank StartCup Ticino zur offiziellen Gründung von BigOmics Analytics.

«Der zweite wichtige Schritt war die Aufnahme in das Programm Alchemist Accelerator – ein bedeutender Moment für diejenigen, die wie wir auf der Suche nach Investoren waren», fährt Kwee fort. Das Beschleunigungsprogramm mit Sitz in den Vereinigten Staaten richtet sich nämlich an Jungunternehmen, die lernen möchten, „Investitionsrunden“ (Treffen mit möglichen Geldgebern) durchzuführen. Gleichzeitig nahmen die Gründer von BigOmics am USI Startup Centre an einem Inkubationsprogramm teil und erhielten in den letzten Jahren Unterstützung von Innosuisse, der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung.

Francesco Bertoni, stellvertretender Direktor des IOR und Gruppenleiter der Lymphoma Genomics Group, hat jahrelang mit Kwee zusammengearbeitet: «Wir befassten uns lange Zeit mit Genomik – erzählt Bertoni –, und konzentrierten uns anschliessend immer mehr auf die Transkriptomanalyse, d. h. wir versuchten zu verstehen, wie Medikamente die Genexpression von Lymphomzellen verändern und welche Faktoren das Ansprechen auf Medikamente vorhersagen können. Irgendwann begann Ivo, interessante Methoden zur Integration all dieser Daten zu erarbeiten. Diese Idee hatte unserer Meinung nach Potenzial, und so unterstützten wir die Gründung eines Spin-offs des Instituts.» Der Vorteil der Eingliederung in eine gut strukturierte Institution wie das IOR besteht darin, dass «Menschen mit guten Ideen dank unserer anfänglichen Unterstützung wachsen und ihre Projekte vorantreiben können», erklärt Bertoni. «Genau dies war bei BigOmics der Fall.»

WIE MAN DEN ERFOLG MISST – Das USI Startup Centre hat die Aufgabe, aufstrebende Unternehmerinnen und Unternehmer bei ihren ersten Schritten zu begleiten: «Oft betrachten wir es in Wahrheit sogar als Erfolg, Menschen von ihren Ideen abzubringen...», so Umberto Bondi, Senior Project Manager & Coach am USI Startup Centre. «Angesichts eines Teams, das zwar eine gute Idee hat, aber nicht in der Lage ist, einen soliden Geschäftsplan aufzustellen, ist es zum Beispiel besser, von dem Vorhaben abzulassen, bevor man riskiert, Zeit und Geld zu verschwenden.» Das Risiko des Scheiterns ist für Start-ups in der Tat sehr hoch: Investoren, die in 10 Unternehmen dieser Art investieren, wissen, dass 4 davon alles verlieren werden, weitere 4 das investierte Kapital zurückzahlen werden können und nur 2 in der Lage sein werden, Gewinne zu garantieren. «In diesem Sinne ist BigOmics für uns ein erfolgreiches Unternehmen», fügt Bondi hinzu. 

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht BigOmics kurz vor Abschluss des Begleitprogramms am USI Startup Centre: «Neben dem Coaching bieten wir auch einen Überblick über das Ökosystem des Tessins, der Schweiz und der Alpen – so Bondi weiter –, um die Spielregeln zu erläutern. Es ist zum Beispiel sehr wichtig, über die anfallenden Steuern im Bilde zu sein und generell zu wissen, wie man potenzielle Investoren anspricht. Diese Aspekte mögen banal erscheinen, sind es aber keineswegs.»

Ein weiterer Aspekt, auf den das USI Startup Centre ein besonderes Augenmerk legt, ist die Zusammensetzung des Teams: «Sich um die Inkubation von Start-ups zu kümmern bedeutet auch, den Studierenden der Università della Svizzera italiana die Möglichkeit zu bieten, mit dieser Art von Unternehmen, die sich von gut strukturierten Unternehmen grundlegend unterscheidet, in Berührung zu kommen», bemerkt Bondi. «Damit ein Unternehmen gut funktioniert, müssen bestimmte Funktionen besetzt werden. BigOmics ist auch in dieser Hinsicht beispielhaft, da es eine Studentin der USI eingestellt hat, die sich nun um die Kommunikations- und Marketingaspekte kümmert. Auch das ist für uns ein Erfolg.»      

Heute bzw. gegen Ende des Begleitprogramms ist es BigOmics «gelungen, erhebliche Fördermittel zu erhalten, ein komplettes Team aufzustellen und die kritische Schwelle der ersten fünf Kunden zu überschreiten», so Bondi. Bisher konnte das Start-up eine Reihe von Finanzierungsrunden in Höhe von insgesamt 2,7 Millionen Franken abschliessen, die für den weiteren Ausbau des Teams und die Verbesserung der von dem Unternehmen entwickelten Plattformen vorgesehen sind. Derzeit besteht das BigOmics-Team neben den beiden Mitbegründern Kwee und Akhmedov aus Axel Martinelli (Leiter der Bereichs Biologie) und Gabriela Scorici (Marketingspezialistin).
«Im Moment – räumt Kwee ein – besteht die wahre Herausforderung darin, qualifizierte Leute zu finden, die bereit sind, ins Tessin zu ziehen, um unser Team im kaufmännischen Bereich zu unterstützen: Wir bieten ein funktionierendes Produkt mit Mehrwert, doch viele Forscherinnen und Forscher haben noch nie etwas von uns gehört. Es muss uns gelingen, sie zu erreichen.»