onkologie

Wie das Tessin zu einemReferenzzentrum für dieErforschung von Lymphomen wurde

Freitag, 24. Juni 2022 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana

Interview mit Emanuele Zucca, einer zentralen Figur in der Erforschung von Tumoren des lymphatischen Systems. Die international anerkannten Regeln zur Diagnose von Non-Hodgkin-Lymphomen werden auch heute noch als Lugano-Kriterien bezeichnet
von Agnese Codignola

Emanuele Zucca trug nicht nur zur Charakterisierung eines besonderen Lymphomtyps bei, der heute allgemein anerkannt ist und mit spezifischen Therapien bekämpft wird, sondern gründete auch eine der Erforschung dieser Erkrankungen gewidmete internationale Gesellschaft. Seine mehr als 250 in Peer-Review-Zeitschriften (bzw. in von Experten begutachteten Zeitschriften) veröffentlichten wissenschaftlichen Studien ermöglichten es, die nicht zufällig als Lugano-Kriterien bezeichneten Diagnosekriterien für eine grosse Klasse von Lymphomen – die sogenannten Non-Hodgkin-Lymphome – festzulegen. Darüber hinaus lieferte Zucca eine genauere Definition der Rolle der PET (Positronen-Emissions-Tomographie) bei der Erstellung der Prognose von Lymphomen und koordinierte zahlreiche klinische Studien der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK). All dies ist unter anderem dem Zugang zu Fördermitteln in Höhe von rund sieben Millionen Franken für Forschungsprojekte zu verdanken.
Die Karriere des gebürtigen Italieners
Emanuele Zucca, der an der Universität Mailand Medizin studierte und sich dort anschliessend auf Onkologie spezialisierte, aber seit mehr als dreissig Jahren im Tessin lebt, lässt sich nur schwer in ein paar Zeilen zusammenfassen. Sie ist geradezu der Inbegriff dessen, was man erreichen kann, wenn man mit Leidenschaft ein Ziel verfolgt, dem man einen Grossteil der eigenen Tätigkeit widmet und zu dessen Erreichung man jeden einzelnen Aspekt erforscht – angefangen bei der Grundlagenforschung bis hin zu den klinischen Anwendungen der Forschungsergebnisse. 

Wie wichtig die durch Zuccas Engagement erzielten Fortschritte sind, wird deutlich, wenn man seine Karriere Schritt für Schritt zurückverfolgt. Nachdem Zucca mehrere Jahre im Ausland – insbesondere am VA Medical Center der University of Kentucky in Lexington (Vereinigte Staaten) und anschliessend am St. Bartholomew’s Hospital in London – verbracht hatte, kehrte er Mitte der 1990er Jahre in die Schweiz zurück, um in Bellinzona mit Franco Cavalli zusammenzuarbeiten. Hier widmete er sich insbesondere den genetischen Aspekten von Lymphomen und all jenen damals noch wenig bekannten selteneren Formen, die ausserhalb der Lymphknoten und anderen Regionen des lymphatischen Systems lokalisiert sind (den sogenannten extranodalen Lymphomen). «Zusammen mit der Forschungsgruppe versuchten wir, diesen Tumoren auf schwierigstem Terrain hinterherzujagen – erklärt Zucca –, nämlich auf jenem der wenigen neoplastischen Zellen, die nach Therapieende noch im Körper verweilen und für die sogenannte minimale Resterkrankung (Minimal Residual Disease) verantwortlich sind. Es handelt sich dabei um kranke Zellen, die in so geringer Zahl im Blut und Knochenmark verbleiben, dass sie unseren Diagnosesystemen oft entgehen, jedoch erneut zur Tumorausbreitung führen können: Wir wollten verstehen, wie es gelingt, sie unter Einsatz der damals innovativen molekularbiologischen Methoden zu identifizieren.»
Zucca erkannte schon bald, dass seine Tätigkeit am Onkologischen Institut der italienischen Schweiz (Istituto Oncologico della Svizzera Italiana, IOSI) sozusagen eine grosse zusätzliche Chance bot: nämlich die Möglichkeit, die Daten einer Vielzahl von Patientinnen und Patienten auf systematische und homogene Weise zu sammeln, um sie in eine wahre Fundgrube von Informationen zu verwandeln. Und so kam es, dass er eine der ersten speziellen Datenbanken ins Leben rief, die heute alle (anonymisierten) Informationen von mehr als 3.000 Patientinnen und Patienten mit malignen Lymphomen enthält: eine sehr grosse Zahl angesichts einer relativ seltenen Gruppe von Tumoren. Wie Zucca hinzufügt, konnte er eben dank der Patientendaten sein Augenmerk und das seiner Gruppe noch stärker auf das Mantelzell-Lymphom richten: Anfang der 1990er Jahre widerlegte er als einer der Ersten die damals vorherrschende Meinung, es handle sich um nicht allzu gefährliche, niedrigmaligne Erkrankungen. Mantelzell-Lymphome haben im Gegenteil leider oft eine ungünstige Prognose und erfordern einen aggressiven Behandlungsansatz.

In jenen Jahren begann der Onkologe, sich mit extranodalen Lymphomen zu befassen, die an den Schleimhäuten auftreten, den sogenannten MALT-Lymphomen (mucosa-associated lymphoid tissue). Das von Zucca geleitete Team trug unter anderem dazu bei, einen besonderen Aspekt dieser Art von Lymphomen zu definieren: den Zusammenhang mit chronischen Infektionen und insbesondere mit einer Infektion durch Helicobacter pylori, ein Bakterium, das eine chronische Gastritis verursacht und zur Entwicklung eines Magenlymphoms führen kann. «Nachdem wir als Erste bestätigt hatten, dass die Beseitigung der Infektion mit Antibiotika zu einer dauerhaften Rückbildung des Lymphoms führen kann – so Zucca weiter –, stellten wir uns die Frage, wie sich aus einer Entzündung ein Tumor entwickeln kann. Dank unserer Untersuchungen konnten wir herausfinden, dass sich das Lymphom über eine Reihe von genetischen Schritten entwickelt, zu deren Definition wir beigetragen haben. Wir waren nämlich die Ersten, die zeigen konnten, dass Lymphome aus Lymphozyten entstehen, die im Rahmen einer Immunantwort gegen Helicobacter pylori in den Magen gelangen. Unsere Arbeit wurde 1998 im renommierten New England Journal of Medicine veröffentlicht.» 

All diese Projekte führten in Kombination mit internationalen Kooperationen zu einem weiteren Schritt: der Gründung der International Extranodal Lymphoma Study Group (IELSG) im Jahr 1998, deren wissenschaftliche Leitung Zucca heute innehat. «Wenn man sich mit relativ seltenen Tumoren befasst – erläutert er –, besteht die Gefahr, dass keine statistisch ausreichenden Daten vorliegen, dass man unnötige Energie verschwendet, indem man Studien wiederholt, die bereits von anderen durchgeführt wurden, oder dass man wertvolle Informationen ausser Acht lässt, was durchaus passieren kann, da sich jedes Institut bestimmten Aspekten wie der Genetik oder der Biologie usw. widmet. Die Gründung einer internationalen Kooperationsgruppe ermöglicht es hingegen, das Engagement zu optimieren, unnötige Anstrengungen zu vermeiden und im Gegenteil sogar einen Synergieeffekt zu erzielen. Ausserdem hat man dadurch die Möglichkeit, sich mit unterschiedlichen Standpunkten aus verschiedenen Ländern auseinanderzusetzen und Synthesen (z. B. in Bezug auf Behandlungsprotokolle) zu erarbeiten, die den jeweils aktuellen Wissensstand repräsentieren. Die Forschungsgruppe hat beispielsweise Leitlinien für MALT-Lymphome der Hoden und des Zentralnervensystems erarbeitet.»

Zuccas gesamte Tätigkeit kann als translationale Forschung bezeichnet werden, ein Begriff, der in den letzten Jahren eingeführt wurde. Seine wichtigsten Entdeckungen sowie deren klinische Weiterentwicklung sind nämlich den Patientinnen und Patienten zu verdanken, die ihrerseits von den durch einen kontinuierlichen und gewinnbringenden Austausch erzielten diagnostischen und therapeutischen Fortschritten profitiert haben. Dieser gegenseitige Austausch wird heute unter anderem durch die Zusammenarbeit mit den Forschungslabors unter der Leitung von Francesco Bertoni und Davide Rossi am Onkologischen Forschungsinstitut (Istituto Oncologico di Ricerca, IOR) und, was den klinischen Bereich anbelangt, zusammen mit Anastasios Stathis am IOSI in Bellinzona fortgesetzt. 

Dank seines stets translationalen Ansatzes koordinierte Zucca zahlreiche klinische Studien der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung (SAKK), die ihn im Jahr 2010 für sein Engagement zum Leiter der Forschungsgruppe mit dem Schwerpunkt Lymphome ernannte. «Einer der aus den klinischen Studien der SAKK hervorgegangenen Beiträge, der mir besonders am Herzen liegt – erinnert sich Zucca – betrifft die Erforschung von Behandlungsstrategien, die ohne den Einsatz von Chemotherapie auskommen. Darüber hinaus haben wir uns in den letzten Jahren der Verbesserung der mathematischen Analyse von PET-Daten gewidmet, um eine genauere Prognosestellung zu gewährleisten.»

Des Weiteren hat Zucca den Namen der Stadt Lugano durch seine grossartige, auf internationaler Ebene geleistete Arbeit mit der aktuellen Stadieneinteilung der Lymphome verknüpft, die früher als Ann-Arbor-Klassifikation bekannt und nach der Stadt in Michigan benannt war, in der Ende des letzten Jahrhunderts die früheren Kriterien festgelegt wurden. Die jüngste Aktualisierung der Stadieneinteilung soll 2023 anlässlich des im Tessin stattfindenden internationalen Kongresses über Lymphome abgeschlossen werden. Dieses Event unterstreicht die wichtige Rolle der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern, in die Zucca so viel Energie gesteckt hat.

In den letzten Jahren hat sich im Tessin jedoch noch etwas anderes getan, das eine noch vielversprechendere Zukunft erahnen lässt. «Die neu gegründete medizinische Fakultät – so Zucca –, die im Zeichen des translationalen Ansatzes hoffentlich bald auf die Zusammenarbeit mit einem Universitätsspital zählen kann, verspricht eine weitere Entwicklung im Bereich der Erforschung von Lymphomen. Darüber hinaus wird der Austausch von Informationen, Ergebnissen und Therapien zwischen den Labors und den Behandlungszentren durch die Gründung von Bios +, dem Biomedizinischen Forschungszentrum der italienischen Schweiz (Bellinzona Institute of Science), das die Tätigkeit des Forschungsinstituts für Biomedizin (Istituto di Ricerca in Biomedicina, IRB) mit der des IOR verknüpft, weiter vorangetrieben.»
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Auf dem Foto oben, von Marian Duven, Professor Emanuele Zucca