Wenn der Schmerz kein Symptom, sondern eine richtige Krankheit ist
Eine von Paolo Maino und Eva Koetsier (EOC) sowie Marco Barbero (SUPSI) vorgenommene Revision der wissenschaftlichen Literatur wirft ein neues Licht auf das myofasziale Syndrom, ein Problem, das sich nur schwer interpretieren lässtvon Elisa Buson
«Herr Doktor, ich habe unerträgliche Schmerzen, die genau von hier ausgehen!» Ein typischer Satz für Menschen, die am myofaszialen Syndrom leiden, einem chronischen Schmerz mit Ursprung im Muskel-Skelettsystem, der typischerweise in Verbindung mit Beschwerden wie Nackenschmerzen, Lumbalgie und Arthrose einhergeht.
Das Besondere daran ist, dass es sich um ein an einem spezifischen Punkt lokalisiertes Problem handelt, das in den schwersten Fällen zu verbreiteten Schmerzen führen kann. Die Ärzte sprechen von einem sogenannten Trigger Point, der an jedem Muskel auftreten kann: In der Regel kommt er am Hals, in den Schultern, am Rücken zum Vorschein, kann aber in manchen Fällen auch die Beine betreffen. Ausgelöst wird die Entzündung normalerweise durch eine Überlastung des Muskels, wie sie häufig bei Sportlern oder Arbeitern mit schwerer körperlicher Tätigkeit vorkommt, ist aber auch bei Büroangestellten möglich, die den ganzen Tag am Computer sitzen.
Jahrelang haben sich die Experten gefragt, woher diese Störung tatsächlich kommt, aber nun spricht eine Schweizer Veröffentlichung das Schlusswort in dieser Debatte. Der myofasziale Schmerz ist nicht nur ein Symptom, sondern eine Krankheit für sich: Zu diesem Schluss kommt die in der Zeitschrift Current Opinion in Supportive and Palliative Care veröffentlichte Revision der Forschungsgruppe unter der Leitung von Paolo Maino, Leiter des Zentrums für Schmerztherapie des Ente ospedaliero cantonale (EOC), von Eva Koetsier, Oberärztin des Zentrums für Schmerztherapie, und Marco Barbero, Physiotherapeut und Professor am Labor für Rehabilitationsforschung 2rLab der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI).
«Wir haben Hunderte Studien gesammelt, die in den letzten zwanzig Jahren über den myofaszialen Schmerz veröffentlicht wurden – so Barbero. – Die Daten belegen, dass diese Hyperalgesie allein besteht, nicht einfach nur die Warnleuchte eines anderen Zustandes ist, und durch ihre typische Entzündung sogar selbst die Primärursache für Muskel- und Skelettschmerzen sein kann.
Die Revision war eine Gelegenheit, auch etwas Ordnung in die klinischen Studien zu bringen, die im Laufe der Zeit die Wirksamkeit verschiedener Behandlung untersucht haben. «Die Ergebnisse – so der Experte weiter – belegen die Nützlichkeit der Akupressur und des Muskel-Stretchings an der Stelle, wo der Schmerz auftritt, sowie des Dry Needlings, also die Stimulation mit sterilen Einweg-Nadeln, die denen der Akupunktur gleichen.»
Marco Barbero
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Nachdem diese ersten Antworten nun vorliegen, möchte die Forschung weitere finden. Es gibt nämlich über den myofaszialen Schmerz und generell über alle anderen Formen chronischer Schmerzen wie solche in Verbindung mit Arthrose, Neuralgien, Fibromyalgie, Diabetes, Traumata und Tumoren noch viel zu entdecken. Schätzungen zufolge sind in Europa knapp 80 Millionen Menschen betroffen. Der gemeinsame Nenner sind die anhaltenden Beschwerden, die länger als 3-6 Monate, manchmal sogar Jahre dauern, mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensqualität und die medizinischen Kosten.
FALSCHE INFORMATIONEN - «Wir wissen, dass der chronische Schmerz nur zum Teil durch den anatomischen Schaden verursacht wird», präzisiert Barbero. «Tatsächlich ist er das Ergebnis einer veränderten Verarbeitung der Informationen, die zum zentralen Nervensystem gelangen: Jetzt müssen wir noch klären, wie das geschieht und weshalb ihn physische Reha-Übungen modulieren können.»
Wie bei der sagenhaften Suche nach den Nilquellen verfolgen die Experten den Verlauf des Schmerzreizes zurück, um herauszufinden, wo er entspringt, um dann immer effizientere «Staumauern» zu bauen, um ihn einzudämmen. Auch durch extrem hochentwickelte Tools wie die Neuromodulation, eine Technik, die das zentrale oder periphere Nervensystem mit schwachen, vollkommen harmlosen elektrischen Strömen stimuliert, um das Gehirn zu «täuschen».
Paolo Mainos Team am Zentrum für Schmerztherapie des EOC gehört zu den Vorreitern dieser Behandlung. «Der Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig bekannt – erklärt der Experte –, aber am wahrscheinlichsten ist die Hypothese, dass der elektrische Reiz vor dem Schmerzreiz zum Gehirn gelangt, um zu verhindern, dass dieser greift und um die schmerzhemmenden Wege zu aktivieren, die vom Gehirn aus in die Peripherie des Körpers verlaufen.»
Als besonders wirksam erweist sich diese Behandlung gegen den neuropathischen brennenden Schmerz: Er wird durch Verletzungen der Nerven (zum Beispiel infolge von Traumata, chirurgischen Eingriffen oder vernachlässigten Wurzelkompressionen) verursacht und tritt als permanentes Gefühl von Brennen, Stechen oder Stromschlägen aus, die normalerweise ein Bein oder ein Arm betreffen. «Der neuropathische Schmerz ist schwer zu behandeln: Generell verwendet man Antiepileptika und Antidepressiva, aber bei vielen Patienten sind diese unwirksam», betont Maino.
In solchen Fällen kann man die Neuromodulation in Betracht ziehen, für die Elektroden hinter dem Rückenmark angebracht werden. «Es ist eine minimal-invasive Technik, bei der man auf Höhe der Lendenwirbel eine kleine Elektrode einsetzt, die von der Grösse her der bei Geburten verwendeten PDA ähnelt: Diese lässt man dann bis nahe des achten Brustwirbels nach oben wandern und schliesst ähnlich wie beim Herzschrittmacher einen Stimulator an.
Zunächst befinden sich der Stimulator und die Elektrode extern, damit der Patient die Wirkung in einer mindestens zwei-wöchigen Probephase testen kann. Liegt die Schmerzminderung bei über 50 %, wird der Schrittmacher knapp oberhalb des Gluteus subkutan implantiert. – Wie bei jedem Eingriff ist das Infektionsrisiko am häufigsten, die Wahrscheinlichkeit von Nervenschäden hingegen ist sehr gering, wenn das Verfahren korrekt vorgenommen wird, da die Elektroden unter radiologischer Kontrolle positioniert werden.»
EINE LEICHTE VIBRATION - Wird die Stimulation aktiviert, nimmt der Patient eine angenehme Vibration wahr, die das Schmerzgefühl im betroffenen Bereich ausräumt oder deutlich lindert. Circa 85 % der Patienten, die dem Test unterzogen werden, reagieren positiv und berichten von einer deutlichen Schmerzsenkung.
«Bei Patienten mit Schmerzen, die von einer peripheren Nervenverletzung abhängen, werden die Elektroden nicht hinter dem Rückenmark, sondern direkt auf den hinteren Spinalwurzelganglien angebracht, die man auf den Nerven findet, die aus dem Rückenmark austreten.», erklärt Maino. 2013 hat sein Team die Technik erstmals in der Schweiz und weltweit zum zweiten Mal mit der Verwendung von vier Elektroden eingeführt. «Indem wir direkt an den Ganglien ansetzen – so Maino –, gelingt es uns, den Schmerz in 80 % der Fälle auszuräumen, wobei die Stimulation so gering ist, dass der Patient sie überhaupt nicht wahrnimmt.»
Die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten ist so gross, dass die Forscher die Behandlung bereits auch für andere chronische Schmerzen wie z.B. die peripheren Neuropathien testen. Nach den ersten Tierversuchen, die in Kooperation mit einem Labor der Universität Maastricht in den Niederlanden durchgeführt wurden, hat Mainos Team vor vier Jahren eine Pilotstudie an einer kleinen Gruppe Patienten gestartet, darunter auch einige von diabetischer Neuropathie Betroffene. Es lässt sich noch schwer vorhersehen, wie viele Patienten den Schmerz in Zukunft ganz einfach auf Knopfdruck abschalten können, aber scheinbar nimmt deren Anzahl zu: Die Forschung, so der Experte, befasst sich bereits mit der Möglichkeit, die Neuromodulation «auch für die Behandlung der nozizeptiven Schmerzen wie z.B. der gewöhnlichen „mechanischen“ Rückenschmerzen zu verwenden.»