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Wenn das Gehirn stoppt und das Bewusstsein erlischt: Wie viele Geheimnisse hinter dem Koma

Montag, 5. September 2022 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
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Konferenz in Lugano am 2. September im Auditorium USI von Professor Martin M. Monti (Universität Kalifornien). Das Treffen wurde von der Stiftung John Eccles organisiert. Neue Studien zu veränderten Bewusstseinszuständen
von Paolo Rossi Castelli

Was geschieht im Gehirn von Menschen, die ins Koma fallen und (zumindest scheint es so) das Bewusstsein für sich selbst und ihre Umgebung verlieren, nicht mehr auf Reize reagieren, mit geschlossenen Augen bewegungslos verharren und nicht mehr sprechen? Die Antworten der Wissenschaft sind notgedrungen noch immer unvollständig, da viele Bausteine, die die Gehirnfunktion begleiten, noch entdeckt werden müssen. Hören Komapatienten beispielsweise Geräusche und die Worte der Menschen an ihrer Seite? Selbst eine wichtige Institution wie der britische National Health Service (staatlicher Gesundheitsdienst) geht bei diesem Thema zurückhaltend vor und schreibt auf seiner Website: «Wenn Sie einen Freund oder eine geliebte Person im Koma besuchen, sagen Sie, wer Sie sind und sprechen Sie wie gewohnt über Ihren Tag. Bedenken Sie, dass alles was Sie sagen, gehört werden könnte. Zeigen Sie Ihre Liebe und Hilfe: Schon das Hinsetzen und Halten der Hand der Person im Koma oder das Streicheln ihrer Haut kann ein grosser Trost sein».

Diese interessanten, aber auch besorgniserregenden Themen werden im Mittelpunkt eines Treffens stehen,das am Freitag, den 2. September um 17:30 Uhr im Auditorium der Università della Svizzera italiana in Via Buffi 13 in Lugano von der Stiftung John Eccles unter der Schirmherrschaft der Fakultät für biomedizinische Wissenschaften der USI und der Stiftung Fondazione Sasso Corbaro organisiert wurde. Titel: „Koma und Wachkoma: Das Geheimnis der Bewusstseinsstörungen“. Nach den Begrüssungsworten von Fabrizio Barazzoni und Giovanni Pedrazzini wird Martin M. Monti, Professor an der University of California Los Angeles (UCLA) in den Abteilungen für Psychologie und Neurochirurgie, der sich mit diesem Thema befasst, sprechen. 

Also, „Geheimnis“ einer Komplexität, die des Gehirns, die das Gehirn selbst nur schwer entziffern kann und die nur anhand von externen Instrumenten gemessen und ausgelegt werden kann, um die elektrische Aktivität von ungefähr 85 Milliarden Neuronen (und 10.000 Milliarden Verbindungen, einigen Schätzungen zufolge) zu identifizieren, mit all ihren Grenzen, die mit der Empfindlichkeit der Instrumente selbst zusammenhängen.

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Martin M. Monti Das Foto vergrössern

«Es ist wahr gibt Monti zu dass unser Wissen über das, was im Gehirn geschieht, stark von den Geräten abhängt, die uns zur Verfügung stehen (und die sich von Jahr zu Jahr verbessern). Aber trotzdem konnten wir bis heute wichtige Ergebnisse erzielen. In den letzten 20-30 Jahren haben die Bildgebungstechniken, wie sie im technischen Jargon genannt werden, und insbesondere die funktionelle Magnetresonanztomographie (die es ermöglicht, in Echtzeit zu sehen, welche Gehirnbereiche aktiviert werden) unsere Vorstellungen über Koma und Bewusstseinsstörungen revolutioniert».

Was haben Sie im Einzelnen entdeckt?

«Zum Beispiel (und das ist sehr wichtig) konnten wir durch die Kombination verschiedener „Maschinen“ verstehen, ob ein bewusstloser Mensch im Koma, im Wachkoma oder in einem sogenannten „Zustand des minimalen Bewusstseins“ liegt. Bis vor einigen Jahrzehnten war das nur schwer und manchmal fast unmöglich zu verstehen, und oft wurde Koma mit Hirntod verwechselt, also mit dem vollständigen und dauerhaften Fehlen von Gehirntätigkeit. Heute ist es hingegen möglich, den Zustand des Patienten genau zu bestimmen. Und dies ermöglicht es natürlich, die therapeutischen Strategien besser zu kalibrieren».

Worin unterscheidet sich Koma von Hirntod?

«Es handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Zustände des Gehirns. Beim Koma verlieren die Nervenzellen einen sogar erheblichen Teil ihrer Funktionen, und das Gehirn ist gegenüber einem gesunden beispielsweise nur zu 40 % aktiv, aber nicht ausgeschaltet, wie es hingegen beim Hirntod der Fall ist».

Warum kommt es zum Koma?

«Bevor ich antworte, muss ich eine umfassendere Betrachtung anstellen: Das Gehirn ist ein äusserst komplexes Netzwerk, ein Netzwerk aus Schaltkreisen, die jeweils eine bestimmte Funktion haben. In einigen Fällen sind diese Funktionen „lokal“ und wenn sie verloren gehen, führt das zu gezielten Schädigungen, wie z. B.: Der Patient erkennt keine Gesichter mehr oder hat Sehstörungen oder verliert ein Teil des Gedächtnisses, behält jedoch das Bewusstsein. Werden hingegen einige besondere Gehirnbereiche beschädigt insbesondere der Thalamus und das retikuläre Aktivierungssystem und die Nervenimpulse zwischen diesen Bereichen und der Grosshirnrinde unterbrochen, geht das Bewusstsein verloren: Es ist, als ob der Orchesterleiter ausfällt und die „kollektive“ Musik unterbrochen wird».

In welchem Teil des Gehirns befinden sich diese Bereiche?

«Der Thalamus ist eine Art Kammer (vielleicht haben ihn die alten Anatomen deshalb so genannt) im zentralen Teil des Gehirns. In Wahrheit gibt es sozusagen zwei Thalami, einen in jeder Hirnhälfte, die miteinander verbunden sind. Sie haben die Form kleiner Eier und liegen in der Nähe der Gehirnbereiche, die die Atmung und andere grundlegende Funktionen regeln».

Wann kommt es zum Bewusstseinsstopp?

«Aufgrund der Blockade eines oder mehrerer Blutgefässe (nach einem Schlaganfall oder anderen Ursachen), die die Sauerstoff- und Glukoseversorgung der inneren Bereiche des Gehirns behindern, kann es zum Koma kommen. In anderen Fällen wird das Koma durch die Folgen schwerer Verkehrsunfälle, Ersticken oder Ertrinken verursacht. Andere Ursachen für Koma können Alkohol- und Drogenvergiftung, Gehirntumore, oder zu hohe (Hyperglykämie) oder zu niedrige (Hypoglykämie) Blutzuckerwerte bei Patienten mit Diabetes sein. Aber auch unter anderen Umständen kann es zum Koma kommen».

Wie weiss man in diesen Situationen, ob und inwieweit ein Mensch bei Bewusstsein ist?

«Es ist in der Tat sehr schwierig, da manchmal sogar der Patient im Wachkoma spontane Bewegungen ausführt (er streckt sich, gähnt), es ist jedoch zu verstehen, ob diese Bewegungen beabsichtigt („Verhaltensweisen“) oder nur Reflexe sind. Es gibt eine Reihe von Protokollen, um dies zu überprüfen. Beispielsweise wird der Patient gebeten, den Blick auf einen bestimmten Gegenstand im Raum zu richten oder einen Fuss zu bewegen und ihn dann erneut zu bewegen. Aber dank der funktionellen Magnetresonanztomographie haben wir (vor nicht allzu langer Zeit) erkannt, dass einige Patienten obwohl sie ihre Augen und Füsse nicht bewegen in der Lage sind, an etwas zu denken, wenn wir sie darum bitten: Wir sehen das auf den MRT-Monitoren! Es handelt sich um Menschen, die scheinbar bewusstlos sind, in Wirklichkeit jedoch ein gewisses, wenn auch minimales Mass an Bewusstsein haben. Es ist sehr selten, aber es passiert».

Wie viele Krankenhäuser sind in der Lage, solch ausgeklügelte Tests durchzuführen?

«Es handelt sich zwar nicht um Standarduntersuchungen, aber die fortschrittlichsten Krankenhäuser sind in der Lage, sie durchzuführen. Die erste Anwendung dieser Tests begann 2006 in England, in Cambridge. In Wahrheit handelt es sich um Techniken, die komplex zu erstellen und analysieren sind. Wir suchen nach anderen einfacheren Methoden».

Wie lange kann ein Koma dauern?

«In der Regel dauert es nicht länger als zwei oder drei Wochen. Einige Patienten erlangen danach das Bewusstsein zurück und nehmen langsam auch die anderen Funktionen wieder auf, die in einigen Fällen vollständig oder von mehr oder weniger schweren Behinderungen begleitet sein können. Leider gibt es jedoch auch Patienten, die vom Koma ins Wachkoma übergehen, also in den Zustand, in dem der Organismus die lebenswichtigen Funktionen erhält, aber ohne Bewusstsein, auch über Jahre (verlassen sie diesen Zustand, haben sie schwere Schädigungen und gewinnen wenig Autonomie zurück). Des Weiteren gehen einige, sehr wenige, Patienten vom Koma in einen Zustand des minimalen Bewusstseins über».

Welche Therapien werden angewendet, um den Patienten zu helfen, das Bewusstsein wiederzuerlangen?

«Die Behandlungen hängen natürlich von den verschiedenen Ursachen ab, die das Koma ausgelöst haben, und zielen darauf ab, den Patienten zu stabilisieren und Atmung und Blutkreislauf aufrechtzuerhalten. In einigen Fällen wird auch ein Medikament verabreicht, Amantadin (fachsprachlich ein Dopaminergikum), das in der Lage zu sein scheint, Patienten wieder in einen Bewusstseinszustand zu verhelfen. An der Universität Kalifornien führen wir auch Experimente zu einer neuen Technik mit fokussiertem Ultraschall mit geringer Intensität durch: Stark vereinfacht kann ich sagen, dass es sich um Schallwellen handelt, die in der Lage sind, Energie in das Gehirn zu „injizieren“, als ob sie Elektroden wären. Die ersten Untersuchungen zu diesem System wurden im Jahr 2016 veröffentlicht und derzeit läuft eine neue Studie. Wir haben gesehen, dass diese Technik in bestimmten Situationen den Thalamus wieder in Gang setzten kann. Warum funktioniert es? Wir wissen es noch nicht genau. Aber das ist Wissenschaft...».