LUGANO

Von Parkinson bis hin zur nächtlichen „Reinigung“: Auf der Jagd nach den verborgenen Geheimnissen des Gehirns

Freitag, 9. Juni 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Eine schlafmedizinische Ambulanz im Ospedale Civico in Lugano (Foto: Chiara Micci / Garbani)
Eine schlafmedizinische Ambulanz im Ospedale Civico in Lugano (Foto: Chiara Micci / Garbani)

Die Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Neurowissenschaften findet zum ersten Mal im Tessin statt. Die von der USI und dem EOC organisierte Tagung ist ein Beweis dafür, wie stark die Forschung in einem so wichtigen Bereich im Kanton gewachsen ist
von Elisa Buson

Gut geschlafen letzte Nacht? Diese Frage ist alles andere als banal, denn von der Qualität des Schlafs hängt die Gesundheit unseres Gehirns ab: Die Schlafqualität wirkt sich nicht nur auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns tagsüber aus, sondern auch auf die Geschwindigkeit, mit der es altert und im Laufe der Jahre erkrankt. Während der Nachtruhe findet nämlich zwischen den Neuronen – ähnlich wie in den Büros abends nach Feierabend – eine gründliche Reinigung statt. In diesem Fall werden jedoch weder Böden gereinigt noch Papierkörbe unter den Schreibtischen geleert, sondern die durch die Zellaktivität entstandenen Abfallmoleküle und Toxine beseitigt. Wie das genau vonstattengeht, ist allerdings noch nicht vollständig geklärt. Es handelt sich um eines der vielen faszinierenden Rätsel, die auf der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (SSN – Swiss Society for Neuroscience), die vom 9. bis 10. Juni zum ersten Mal im Tessin stattfinden wird, gelüftet werden sollen. Die von der Università della Svizzera italiana (USI) und dem Neurocentro della Svizzera italiana (EOC) in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg organisierte Veranstaltung wird auf dem Campus Est in der Via La Santa 1 rund 300 Forscher und Ärzte aus der ganzen Schweiz zusammenbringen. Für zwei Tage wird Lugano also zur Hauptstadt der Hirnforschung.

«Bis vor wenigen Jahren wäre eine solche Veranstaltung im Tessin noch undenkbar gewesen, doch heute ist das zum Glück anders», erklärt Salvatore Galati, Organisator der Veranstaltung, Leiter der Abteilung für Bewegungsstörungen am Neurocentro und Vorstandsmitglied der SSN. «In letzter Zeit haben wir im Bereich der Neurowissenschaften grosse Fortschritte erzielt und wissenschaftliche Leistungen erbracht, die es dem Kanton ermöglicht haben, sich als wettbewerbsfähige Region für qualitativ hochwertige Forschung zu etablieren. Die Gründung der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften an der USI im Jahr 2014 hat zweifellos einen wichtigen Impuls gegeben und uns jene Autorität verliehen, die es uns heute ermöglicht, diese Tagung zu organisieren.» Im Rahmen der mit Spannung erwarteten zweitägigen Veranstaltung wird dem Tessin als „Denkfabrik“ eine weitere wichtige Anerkennung ausgesprochen: Der aus der Leventina stammende Marco Celio, der über dreissig Jahre lang den Lehrstuhl für Histologie und Embryologie an der Universität Freiburg innehatte, wo er auch als Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät tätig war, wird zum Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Neurowissenschaften ernannt.

Auf der Tagung werden nicht nur Tessiner Forscherinnen und Forscher, sondern auch renommierte Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zu Wort kommen. Zu den prominentesten unter ihnen zählt die dänische Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard, die zusammen mit ihren Mitarbeitern von der University of Rochester (Vereinigte Staaten) vor zehn Jahren entdeckte, dass es im Gehirn ein System zum Abtransport und zur Beseitigung von Abfallstoffen gibt, das während des Schlafes am aktivsten ist. Nedergaard bezeichnete es als „glymphatisches System“ – zum einen wegen seiner grossen Ähnlichkeit mit dem lymphatischen System, mit dem es verbunden ist, und zum anderen wegen seiner entscheidenden Rolle im Hinblick auf die Funktion der Gliazellen, die zusammen mit den Neuronen das zentrale Nervensystem bilden. «Die Entdeckung des glymphatischen Systems hat der Hirnforschung völlig neue Möglichkeiten eröffnet», betont Galati. «Es ist noch zu früh, um die klinischen Auswirkungen dieser Entdeckung abzusehen. Sie wird uns jedoch mit Sicherheit helfen, die bislang unbekannten Mechanismen zahlreicher Krankheiten besser zu verstehen, die mit der Anhäufung toxischer Substanzen in Verbindung stehen, welche zu Neurodegeneration führen. Meine eigene Forschungsgruppe hat bereits gezeigt, dass es bei Parkinson-Patienten während des Schlafes zum Zeitpunkt der „Reinigung“ des Gehirns zu Anomalien im Elektroenzephalogramm kommt. Überdies versuchen in Zürich verschiedene Teams herauszufinden, ob bestimmte medikamentös bedingte Komplikationen möglicherweise auf Störungen des glymphatischen Systems zurückzuführen sind».

Ein weiterer hochgeschätzter Gast der Tagung ist Gilles Laurent, Leiter der Abteilung Neuronale Systeme am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Laurent wird seine jüngste, kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie vorstellen, die ungeahnte Parallelen zwischen dem Gehirn von Reptilien und dem von Menschen aufzeigt: Sie belegt, dass die Gehirnhälften der streifenköpfigen Bartagame Pogona vitticeps (die wie beim Menschen symmetrisch sind) während des Schlafes (der genau wie beim Menschen in eine REM- und eine Non-REM-Phase gegliedert ist) miteinander konkurrieren können. Anschliessend wird der Experte auf das faszinierende Phänomen der Mimese von Kopffüssern eingehen, die dank komplexer Mechanismen, die über das Nervensystem gesteuert werden, schnell ihre Farbe wechseln. «Die Tatsache, dass auf der Tagung nicht nur Studien am Menschen, sondern auch solche an Tieren präsentiert werden, stellt einen grossen Mehrwert dar», betont Galati. «Es ist sehr wichtig, auch weiterhin einen Fokus auf die Grundlagenforschung zu legen, da Studien, für die es heute noch keine praktische Anwendung zu geben scheint, in Zukunft neue Möglichkeiten in der Klinik eröffnen könnten».

Die Neugier wird der rote Faden der gesamten Tagung sein, deren Themen von der Reinigung des Gehirns im Schlaf über die Neurodegeneration bis hin zu Anpassungsmechanismen und Verhaltensweisen wie emotionalem Hunger reichen. Auch für Doktoranden und junge Forschende ist die Tagung eine hervorragende Gelegenheit, sich weiterzubilden und auf dem neuesten Stand zu bleiben. Die Schweizerische Gesellschaft für Neurowissenschaften hat beschlossen, ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken und ein eigenes Symposium zu organisieren. Das Symposium beginnt am Donnerstag, gefolgt von einer Veranstaltung des ALBA Network zum Thema Gleichstellung der Geschlechter und Inklusion in der Forschung. «Junge Menschen bringen innovative Ideen ein: Sie sind die Zukunft der Forschung», fährt Galati fort. «Deshalb haben wir speziell für sie ein breites Angebot an Fortbildungsworkshops organisiert, in denen es darum geht, wie man klinische und präklinische Studien plant, Forschungsergebnisse veröffentlicht, Förderanträge stellt und Projektvorschläge so gestaltet, dass sie vom Schweizerischen Nationalfonds genehmigt werden. Darüber hinaus werden sie die Möglichkeit haben, die Ergebnisse ihrer Forschungsprojekte in der Postersektion zu präsentieren. Es handelt sich um eine ausgezeichnete Gelegenheit, andere Forscherinnen und Forscher kennenzulernen und sich selbst bekannt zu machen».

Zudem bietet die Tagung der SSN einen Blick über die Grenzen hinaus, und zwar mit dem ersten gemeinsamen Forum der Neurowissenschaften für das Tessin und Italien. «In dieser Ausgabe werden namhafte Vertreter des Labors von Giacomo Rizzolatti zu Gast sein, um über das wissenschaftliche Erbe dieses renommierten italienischen Neurowissenschaftlers zu sprechen, der weltweit für die Entdeckung der Spiegelneuronen bekannt ist, die nicht nur beim Lernen durch Nachahmung, sondern auch im Hinblick auf die Empathie eine entscheidende Rolle spielen. Wir hoffen – so Galati, – dass dies das erste in einer langen Reihe von Foren sein wird, die darauf abzielen, die Verbindungen zum Wissenschaftsstandort Italien, der hochqualifiziert ist und uns sehr nahesteht, zu stärken».

Die Vernetzung ist im Übrigen nicht nur das Ziel des Forums mit Italien, sondern der gesamten Tagung der SSN. «Im Rahmen dieser Veranstaltung möchten wir Grenzthemen diskutieren, die den Anstoss für neue Ideen und neue Forschungsprojekte geben könnten», so der Organisator. «Die Präsenztagung ermöglicht es den Forscherinnen und Forschern, sich persönlich zu treffen sowie Meinungen und Ansichten auszutauschen, wodurch die Grundlage für neue Kooperationen zwischen verschiedenen Laboren und Instituten geschaffen wird. Einigkeit macht bekanntlich stark und gibt den Forschenden die Möglichkeit, Fragestellungen mit einem multidisziplinären Ansatz anzugehen und so die Chancen bei Ausschreibungen für Fördermittel zu erhöhen». 

In der letzten Vorbereitungsphase wachsen daher die Erwartungen an die Veranstaltung, die nicht nur der USI und dem EOC, sondern auch dem Kanton Tessin – der sich innerhalb der Schweizer Neurowissenschaften als universitärer Forschungsstandort etablieren wird – als wichtiges „Schaufenster“ dienen soll», fügt Galati hinzu. «Wir erhoffen uns, dass wir mit dieser Veranstaltung neue junge Talente anziehen, die sich für die Forschung interessieren und ihren akademischen Grad an unserer Doktoratsschule erlangen möchten, an der derzeit bereits rund 70 Studierende eingeschrieben sind».

(Dieser Artikel wurde für die Rubrik Ticino Scienzageschrieben, die in der Tageszeitung LaRegione von Bellinzona veröffentlicht wird)