Fortschrittliche Technologien

Aus Locarno kommen nun
auch die „Wetter“-Vorhersagen
zur Sonnenoberfläche

Mittwoch, 18. Januar 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
Ein spektakuläres Bild der NASA, das einen koronalen Massenauswurf zeigt, das heisst, einen „Ausstoss“ von Materie (hauptsächlich aus Elektronen und Protonen) aus dem äussersten Teil der Sonne, der Korona genannt wird, in die Heliosphäre (© NASA/GSFC/SDO)
Ein spektakuläres Bild der NASA, das einen koronalen Massenauswurf zeigt, das heisst, einen „Ausstoss“ von Materie (hauptsächlich aus Elektronen und Protonen) aus dem äussersten Teil der Sonne, der Korona genannt wird, in die Heliosphäre (© NASA/GSFC/SDO)

Die Projekte für das Jahr 2023 von IRSOL, der USI angegliedert, das in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Instituten aus 18 Ländern an wichtigen internationalen Initiativen teilnimmt. Interview mit der Direktorin Svetlana Berdyugina
von Elisa Buson

„Für das Wochenende werden wechselhafte Bedingungen mit sporadischen Schauern kosmischer Strahlung und Sonnenwind mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 340 Kilometern pro Sekunde erwartet. Mögliche Verstärkung des Magnetfelds des Sonnenflecks AR3165 mit mittelstarken Sonnenflares und daraus resultierenden Funkausfällen“. Wer weiss, ob wir in Zukunft auch diese Art von Vorhersagen, die des Weltraumwetters, in der Zeitung lesen werden, mit Angaben zu Teilchenströmen, Magnetfeldern und Strahlungen, die ständig von der Sonne, der Milchstrasse und den anderen Galaxien erzeugt werden und welche am Ende die Erde treffen und unser tägliches Leben beeinflussen.
«In der Tat gibt es bereits Weltraumwetterdienste mit Berichten, die von Weltraumagenturen, Fluggesellschaften, Satelliten- und Stromnetzbetreibern sowie Telekommunikationsdiensten täglich konsultiert werden», erklärt die Astrophysikerin
Svetlana Berdyugina, wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Sonnenforschung „Aldo e Cele Daccò“ in Locarno IRSOL, der Università della Svizzera Italiana (USI)angegliedert. Es ist wichtig, zu wissen, was ausserhalb unserer Atmosphäre geschieht, da «die Energieteilchen, aus denen der Sonnenwind und die kosmischen Strahlen bestehen so Berdyugina mit dem Magnetfeld der Erde interagieren und es stören. Diese als geomagnetische Stürme bekannten Störungen können spektakuläre Polarlichter hervorrufen, aber auch ernsthafte Probleme verursachen: In der Tat induzieren sie Ströme in leitenden Materialien. Daher kann alles, was den Durchgang von elektrischem Strom ermöglicht, auf irgendeine Weise gestört oder sogar beschädigt werden». Die Sensoren der Internationalen Raumstation sind ebenso gefährdet wie die Stromleitungen unserer Städte, die Kommunikation über Funk oder Satellit sowie die GPS-Dienste von Smartphones oder Navigationsgeräten von Autos. Sogar die Computer der Linienflugzeuge können verrücktspielen oder ausfallen, während die Menschen an Bord von Raumfahrzeugen und Weltraummissionen Gefahr laufen, einer alles andere als gesunden zusätzlichen Strahlendosis ausgesetzt zu werden.

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Svetlana Berdyugina Das Foto vergrössern

Diese Störungen vorhersagen zu können ist zwar von grundlegender Bedeutung, jedoch nicht einfach, weil wir noch immer kein detailliertes Verständnis der physikalischen Phänomene haben, welche die Sonnenaktivität, den wahren Deus ex machina des Weltraumwetters, antreiben. «Dank der Beobachtung der Sonnenatmosphäre – fährt Berdyugina fort – können wir vorhersagen, was in unmittelbarer Zukunft passieren wird, während wir grössere Schwierigkeiten haben, mittelfristige Vorhersagen über Tage oder Wochen zu machen. Was langfristige Vorhersagen betrifft, wissen wir jedoch, dass die Sonnenaktivität einem regelmässigen Zyklus von ungefähr 11 Jahren folgt. Der aktuelle Zyklus wird in zwei Jahren seinen Höhepunkt erreichen, daher können wir beispielsweise sagen, dass für 2023 eine Intensivierung der Sonnenaktivität prognostiziert wird, mit einer Zunahme der Komplexität des Magnetfelds und der Wahrscheinlichkeit von Sonneneruptionen mit Ausstössen geladener Teilchen in den Weltraum, wir sind jedoch nicht in der Lage, ihre Intensität, ihren Zeitpunkt und somit ihre Gefährlichkeit vorherzusagen».

Die Suche nach einer Antwort auf alle diese Fragen ist eines der Ziele von IRSOL. Dem Institut in Locarno ist es in etwas mehr als 60 Jahren Geschichte gelungen, ein Zentrum weltweiter Exzellenz für die Erforschung der Sonnenphysik zu werden, insbesondere für die Untersuchung des Magnetismus der Sonne durch die Spektropolarimetrie (die Disziplin, welche die Schwingungseigenschaften des Lichts bei der Ausdehnung untersucht). Ein Ergebnis, das dem Engagement und der Hingabe seiner Forscher (derzeit ein Dutzend) und seinen hochpräzisen Instrumenten, wie dem ZIMPOL-Polarimeter (Zurich Imaging POLarimeter) zu verdanken ist, «die es ermöglichen, Probleme der Sonnenphysik zu lösen, so wie es nirgendwo sonst auf der Welt möglich ist», betont Berdyugina. Genau aus diesem Grund hat sie das Tessin gewählt, um ihre Studien zu vertiefen und ihren langen internationalen Lebenslauf zu bereichern, der sie neben den verschiedenen Aufgaben auch als Forscherin am Institut für Astrobiologie der NASA und Dozentin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich auszeichnet. «Ich habe vor zwanzig Jahren begonnen, mit IRSOL zusammenzuarbeiten – erzählt Berdyugina – weil ich Theorien und Modelle entwickelt habe, die ich nur hier überprüfen und anwenden kann, und jetzt bin ich sehr glücklich, dessen wissenschaftliche Direktorin geworden zu sein und die Nachfolge von Michele Bianda angetreten zu haben: Es ist schön, in einer so freundlichen und kooperativen Atmosphäre zu arbeiten». 

Für das nächste Jahr sind viele Projekte im Gange. Vor allem werden Präzisionsmessungen zur Untersuchung der Magnetfelder durchgeführt, sowohl an Sonneneruptionen als auch an der Sonnenoberfläche im Ruhezustand. «Letztere Magnetfelder sind schwächer – erklärt Berdyugina – wirken sich jedoch auf ein viel grösseres Volumen aus: Sie enthalten also eine grosse Menge Energie und können miteinander interagieren, was zu einer Verstärkung des Magnetfelds auf lokaler Ebene führt. Unser Ziel ist es zu verstehen, wie sie sich entwickeln, bis sie Eruptionen auslösen». Damit wird sich ein junger Doktorand in Wissenschaftlichem Rechnen der USI beschäftigen, während parallel dazu die Zusammenarbeit mit der Fakultät für Informatikwissenschaften derselben Universität fortgesetzt wird, um Methoden der angewandten Mathematik einzusetzen und theoretische Modelle zu verbessern. «Es wird auch Raum geben, um im Bereich der künstlichen Intelligenz zu arbeiten – verrät die wissenschaftliche Direktorin des IRSOL. – Zum Beispiel, um numerische Simulationen durchzuführen und neue Datenerfassungs- und Analysewerkzeuge zu entwickeln». Auch die Zusammenarbeit mit dem Departement für innovative Technologien der SUPSI wird fortgesetzt, um neue und fortschrittliche digitale Sensoren zu entwickeln, mit denen das ZIMPOL-Polarimeter perfektioniert wird, um es noch schneller und effizienter zu machen. 

2023 wird auch ein entscheidendes Jahr für die Stärkung internationaler Zusammenarbeiten sein, angefangen bei der Beteiligung am Konsortium, das 26 Forschungsinstitute aus 18 Ländern vereint, um das grösste Sonnenteleskop Europas, das European Solar Telescope (EST) zu bauen. Das Instrument wird voraussichtlich innerhalb der nächsten zehn Jahre in Betrieb genommen werden und mit einem Hauptspiegel von vier Metern Durchmesser zusammen mit dem DKIST-Teleskop in den USA einen enormen Qualitätssprung in der Beobachtung der Sonne ermöglichen. Der eigentliche Bau der Infrastruktur wird in drei oder vier Jahren auf den Kanarischen Inseln beginnen, erklärt Berdyugina, und die kommenden Jahre werden für die Beschaffung von Finanzierungen entscheidend sein. Die USI wird zusammen mit dem IRSOL die Schweiz vertreten und sowohl in Bezug auf die Instrumentierung (dank der Erfahrung im Bereich der hochpräzisen Polarimetrie) als auch in Bezug auf die numerische und theoretische Datenanalyse zum Projekt beitragen.

Es gibt viel zu tun, aber am IRSOL findet man trotzdem Zeit, neue Verbreitungsprojekte zu entwickeln, um die neuesten Entdeckungen über unseren Stern und seine Geheimnisse mit der Öffentlichkeit zu teilen. Alle Astronomie-Begeisterten und Neugierigen, die mehr darüber erfahren möchten, sollten sich den Termin im nächsten Herbst vormerken, wenn das IRSOL im Ideatorio der USI in Cadro eine grosse Ausstellung im Rahmen eines Verbreitungsprojekts über die Sonne ausrichtet, das vom Programm Agorà des Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird. «Wir arbeiten intensiv mit der USI zusammen, um diese Ausstellung bestens vorzubereiten. Ich empfehle jedem, sie zu besuchen – schliesst Berdyugina ab – weil es eine einzigartige Gelegenheit sein wird, mehr über die Sonne und den faszinierenden Beruf des Sonnenphysikers zu erfahren».

(Dieser Artikel wurde für die Rubrik Ticino Scienza geschrieben, die in der Tageszeitung LaRegione di Bellinzona veröffentlicht wird)