wissenschaftliche veröffentlichung

So revolutionär, so "unmöglich“: Das ist die Quantenmechanik

Sonntag, 8. Januar 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Claudio Calosi, Assistenzprofessor an der Universität Genf und Dozent an der USI (Foto von Eugenio Celesti)
Claudio Calosi, Assistenzprofessor an der Universität Genf und Dozent an der USI (Foto von Eugenio Celesti)

Drei Philosophen und ein Wissenschaftler befassten sich gemeinsam im „Litorale“ in Lugano mit der Theorie, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Art und Weise, die Realität zu beschreiben, veränderte und uns immer wieder überrascht
von Cesare Alfieri

In seinem Essay „Das Zeitalter der Extreme“ behauptet der grosse britische Historiker Eric Hobsbawm, dass das 20. Jahrhundert erst 1914 mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs beginnt. Vielleicht ist das auf historischer Ebene wahr, für die Physik beginnt das 20. Jahrhundert jedoch genau mit dem Jahr 1900, genauer gesagt am 14. Dezember, als Max Plancks Rede vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin einen Wendepunkt in der Geschichte des menschlichen Denkens markiert. Es ist der Beginn des Quantenzeitalters, bahnbrechende Jahrzehnte, in denen überregte und geniale Köpfe die grundlegenden Bausteine der Natur entdecken und uns sagen, dass wir, um sie zu verstehen, das Konzept des Verstehens selbst revolutionieren und die Bedeutung, die wir dem Wort „Realität“ geben, neu definieren müssen, in einem Dialog, der an der Grenze zwischen Physik und Philosophie verläuft.
Für diejenigen, die an den drei Treffen des Zyklus
Il mondo a caso?[Auf Zufall gegründete Welt?] zum Quantenuniversum teilgenommen haben, die das Litorale USI in den vergangenen Wochen in Zusammenarbeit mit dem Istituto di studi filosofici (ISFI - Institut für Philosophie) und der Theologischen Fakultät veranstaltet hat, ist das effektive Verständnis dessen, was real ist, jetzt wahrscheinlich viel komplexer und facettenreicher. An jedem der drei Abende diskutierten der Physiker Cesare Alfieri und ein jeweils anderer Wissenschaftsphilosoph mit einem aktiven Publikum, das neugierig darauf war, die Geheimnisse der Natur zu entdecken, wenn sie in der Winzigkeit des atomaren Massstabs erforscht wird.

Der Philosoph Federico Laudisa, ausserordentlicher Professor an der Universität Trient und erster Gast bei „Il mondo a caso?“, erzählte von der gigantischen intellektuellen Anstrengung der frühen Quantenjahre. Die ermutigende Gestaltung der glorreichen Physik des 19. Jahrhunderts ist nicht mehr in der Lage, die Welt zu beschreiben. Zum Beispiel kann sie nicht erklären, warum die Sonne gelb oder warum die brennende Glut im Kamin rot ist, oder auch warum der menschliche Körper Infrarotstrahlen aussendet. Es handelt sich um das Phänomen der Wärmestrahlung: Jedes Objekt sendet Energie in Form von elektromagnetischen Wellen aus, und die Farbe dieser Emission hängt von der Temperatur ab: Beispielsweise bei 310 K (Grad Kelvin, entspricht 37 Grad Celsius, denen des menschlichen Körpers) liegt die vorherrschende Farbe im Infrarotbereich, bei 5500 K (die Oberflächentemperatur der Sonne) ist sie gelb und bei 30000 K blau (sehr heisse Sterne sind tatsächlich blau). Dieses Phänomen blieb für die Physik des 19. Jahrhunderts ein Geheimnis, die stattdessen für jedes Objekt, unabhängig von seiner Temperatur, eine unendliche Energieemission jenseits des Ultravioletten annahm. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Theorie und experimenteller Realität ist Plancks Kummer.
Um den Widerspruch zu lösen ist Planck dazu gezwungen, eine Hypothese aufzustellen, die er selbst für sinnlos hält: Die elektromagnetische Energie – so meint er – muss quantisiert sein, das heisst aus nicht weiter zerlegbaren Bausteinen (eben aus Quanten) bestehen. Die Energie kann also nicht alle Werte annehmen, sondern nur solche, die einer ganzen Zahl von Grundeinheiten entsprechen. Es ist ein erstaunlicher Gedanke: So als ob ein Auto nicht alle Geschwindigkeiten haben könnte, sondern nur das Vielfache einer Grundgeschwindigkeit (sagen wir beispielsweise 10 Kilometer pro Stunde): Ich kann also nur bei 10 oder 20 oder 30 km/h, aber nicht bei 15 oder 25 km/h fahren. Nicht nur das, das Auto kann von 20 auf 30 km/h beschleunigen, muss das jedoch ohne Zwischengeschwindigkeiten tun! Nur wenn man diesen Wahnsinn akzeptiert, erhält man eine Formel, die die Wärmestrahlung für jede Temperatur perfekt beschreiben kann. Die neugeborene und bereits destabilisierende Quantentheorie markiert den ersten einer endlosen Reihe experimenteller Erfolge.

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Nach Planck folgt eine wirre Zeit, in der die Quantentheorie nur schwer ihre eigene Struktur findet und mit der klassischen Physik einhergeht, wie ein Gast, der sich nach und nach in den Gastgeber verwandelt. Ein Beispiel dafür ist das Bohrsche Atommodell, bei dem die Elektronen um den Atomkern kreisen (wie die Planeten um die Sonne), sich jedoch nur auf einigen festen und quantisierten Kreisbahnen bewegen dürfen.
Die Wende wird in den 20er Jahren stattfinden, wenn es einer Generation einfallsreicher und divergenter Zwanzigjähriger, wie man es nur in diesem Alter sein kann, gelingt, der Quantenmechanik ein formales Antlitz zu geben: Jordan, Pauli, Dirac und Heisenberg sind die Helden der Knabenphysik.

DIE UNSCHÄRFERELATION – Insbesondere Werner Heisenberg hat sowohl in der Physik als auch in der Philosophie eine explosive Eingebung. Der junge Deutsche erkennt, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind, also undefiniert bleiben. So wird es unmöglich, die Bewegung Punkt für Punkt, Moment für Moment zu verfolgen: Das ist die berühmte Unschärferelation. Um auf den Vergleich mit dem Auto zurückzukommen, wäre es, als ob es nicht legitim wäre, mit Sicherheit zu sagen, dass sich das Auto genau am Kilometer 76 der Autobahn befindet und mit genau 100 km/h in Richtung Norden fährt. Die Unschärferelation beraubt Wörter wie Geschwindigkeit, Ort oder Trajektorie der Bedeutung, die wir ihnen in unserem Alltag geben und reduziert sie auf menschliche, allzu menschliche Konzepte. Wir benutzen diese Wörter, um die Bewegungen unserer Welt zu beschreiben, um makroskopischen Objekten zu „folgen“, aber vielleicht gehören sie nicht zur grundlegenden Grammatik der Natur – stellte der Philosoph Cristian Mariani, Forscher an der Università della Svizzera italiana, beim zweiten Treffen von „Il mondo a caso?“ fest.

Das Elektron als einen Planeten zu betrachten, der in einem Atom um den Kern kreist ist daher falsch, weil es bedeuten würde, mit den Worten unseres Alltags eine Welt zu beschreiben, in der sie keine Bedeutung haben. 

Genau deshalb ist die Quantenphysik so schwierig: Sie macht es unmöglich, sich ein „einfaches“ geistiges Bild davon zu machen, was tatsächlich auf atomarer Ebene vor sich geht.

IMMER NEUE HERAUSFORDERUNGEN – Seit der Zeit Heisenbergs verblüffen die Beweise der Quantenphysik immer wieder. Insbesondere die Verschränkungen von Teilchen (entanglement auf Englisch) sind eine der unverständlichsten Konsequenzen der Theorie. Verschiedene Teilchen werden zu einem Ganzen, und dieses Ganze bietet eine monistische Beschreibung (d. h. reduzierbar auf ein einziges Prinzip) der Natur, die grundlegender ist als die Teile, aus denen es besteht – bestätigte der Philosoph Claudio Calosi, Assistenzprofessor an der Universität Genf und Dozent an der USI, am letzten Abend von „Il mondo a caso?“. In verschränkten Zuständen hat eine Aktion, die an einem Teilchen ausgeführt wird, unmittelbare Auswirkungen auf sein verschränktes Teilchen, selbst wenn sich die beiden an entgegengesetzten Enden der Galaxie befinden.

Vergleichen wir die Teilchen mit einem Paar Socken, die in zwei verschiedene Schubladen gelegt werden. Wir kennen die Farbe der Socken nicht, wissen nur, dass beide die gleiche Farbe haben und dass das Sockenpaar wahrscheinlich zu 50 % schwarz und zu 50 % blau ist: Die Socken sind in einem verschränkten Zustand. Öffnen wir nun die Schublade 1, mit dem Bewusstsein, dass nur der Zufall entscheiden wird, welche Farbe wir vorfinden werden. Nehmen wir an, eine schwarze Socke gefunden zu haben; mit dieser Entdeckung zwingen wir auch die Socke in der Schublade 2 im selben Moment die gleiche Farbe anzunehmen. Achtung: Die Quantenphysik sagt, dass die Socke in der Schublade 2 vor dem Öffnen der Schublade 1 weder blau noch schwarz, und ihre Farbe undefiniert war. Erst das Ansehen der ersten Socke zwingt die zweite dazu, die gleiche Farbe anzunehmen! Die Ungläubigsten (und dazu gehörte auch Einstein!) könnten einwerfen, dass die Socke in der anderen Schublade von Anfang an schwarz war, aber das ist nicht der Fall: Die wissenschaftliche Gemeinschaft wollte 2022 dem Physikertrio Aspect-Clauser-Zeilinger den Nobelpreis verleihen, gerade weil es bewiesen hat, dass die quantistische Socke in der Schublade 2 nicht schwarz war, bevor der Betrachter die andere verschränkte Socke angesehen hat (um genauer zu sein und die Experimente von Aspect-Clauser-Zeilinger wiederzufinden, sollten wir das Wort Socke durch „Photon“ und Farbe durch „Polarisation“ ersetzen). Der Zauber der Verschränkung ist erstaunlich, aber fragil: Nach dem Ansehen verschwindet er und die beiden Socken sind nicht mehr verschränkt.

Was scheint nach dem Einblick, den uns „Il mondo a caso?“ in die subatomare Natur geboten hat zu verbleiben? Nach der Quantenphysik ist unsere Fähigkeit, die Welt zu erkunden beschränkt, unsere Fähigkeit, sie zu definieren, verschwommen, unsere Neugier zerstört das, was wir uns ansehen wollten. Die Welt der Quanten verbirgt sich in den intimsten Falten einer uns verschlossenen Realität, die eventuell gar nicht existiert.

Grenzen und Einschränkungen werden durch dieselbe Theorie auferlegt, die uns mehr als jede andere zur technologischen Beherrschung der Natur geführt hat: Ein weiteres Paradoxon unter den vielen der Quantenmechanik.