Weiterführende Studien

So kann künstliche Intelligenzden Stromverbrauch einer Stadt"live" steuern

Montag, 25. September 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
Cesare Alippi (Foto von Chiara Micci / Garbani)
Cesare Alippi (Foto von Chiara Micci / Garbani)

Interview mit Cesare Alippi, dem neuen wissenschaftlichen Direktor des IDSIA (neben Marco Zaffalon und Jürgen Schimdhuber). Am 26. September hält er seine Antrittsvorlesung während der Feierlichkeiten zum 35-jährigen Bestehen des Instituts Dalle Molle
von Simone Pengue

Es gibt heute (fast) niemanden mehr in der Schweiz, der nicht schon einmal von künstlicher Intelligenz (abgekürzt KI) gehört hat. Zwischen ChatGPT und selbstfahrenden Fahrzeugen ist sie unbestreitbar Teil des Alltagsgesprächs. Doch nur wenige “Laien wissen, dass eines der Herzen der europäischen Forschung über künstliche Intelligenz in Lugano schlägt, am Istituto Dalle Molle (IDSIA), und dass hier auch wichtige Studien über die “grüne” Wende der Technologie durchgeführt werden, dank dem Labor von Cesare Alippi, ordentlicher Professor an der Fakultät für Informatik der USI sowie Prorektor für Internationalisierung und seit letztem Mai auch wissenschaftlicher Direktor des IDSIA. Seine Ernennung wird am 26. September mit einer Antrittsvorlesung im Rahmen der Veranstaltung zum 35-jährigen Bestehen des Instituts gefeiert. Das IDSIA, das aus der Weitsicht des italienischen Unternehmers Angelo Dalle Molle als nur Filmregisseure und Schriftsteller wie Stanley Kubrick, Isaac Asimov und Dino Buzzati über künstliche Intelligenz sprachen, “unterstützt” von den berühmten Science-Fiction-Serien der 1970er und 1980er Jahre wie Star Wars und Battlestar Galactica, hat in Wirklichkeit drei wissenschaftliche Direktoren: Neben Cesare Alippi sind das Marco Zaffalon, wissenschaftlicher Direktor ab 2019 (und Leiter der Imprecise Probability Group), und Jürgen Schimdhuber, ein KI-Pionier und Autor wichtiger Spracherkennungsalgorithmen. Alippi kommt von der USI, während Zaffalon und Schmidhuber von der SUPSI kommen. Die Wahl des derzeitigen Direktors Andrea Rizzoli, der das Ruder von Luca Gambardella, übernommen hat, der das IDSIA zwanzig Jahre lang leitete, wird es ermöglichen, den beiden Institutionen USI und SUPSI, die das IDSIA auf dem Campus Ost in Lugano beherbergen und verwalten, mehr Raum in der wissenschaftlichen Ausrichtung zu geben.

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Cesare Alippi hat zahlreiche akademische Erfolge, auch auf internationaler Ebene, errungen. Der Kompass, der seine Forschung leitet, ist der atavistische Wunsch, die Zukunft mit Hilfe von Zahlen und Prozessoren vorherzusagen. In seiner "lectio", am 26. September wird er sich mit diesen Themen befassen und dabei betonen, dass «der Mensch historisch gesehen schon immer daran interessiert war, die Schleier von der Zukunft zu entfernen». In diesem Sinne haben Alippi und seine Gruppe vor kurzem gemeinsam mit dem Technologiekonzern Siemens Computersysteme entwickelt, um den Energieverbrauch der 14.500 Einwohner zählenden Stadt Arbon (Thurgau) vorherzusagen. Die Schätzung des Energiebedarfs wird von den Versorgungsunternehmen verwendet, um sicherzustellen, dass der Strom für die Verbraucher verfügbar ist, indem sie ihn im Voraus von den Erzeugern kaufen. Ein Fehler bei dieser Schätzung hat erhebliche Auswirkungen auf den Energiepreis, und der Versorger muss zwangsläufig die Kosten für den Endverbraucher erhöhen.

Ursprünglich ging man an das Problem heran, indem man den Gesamtverbrauch der gesamten Stadt durch die Anzahl der Nutzer teilte, um den Durchschnittsverbrauch eines Haushalts zu erhalten. Man stellt jedoch schnell fest, dass die Realität viel komplizierter ist. So wird beispielsweise im Sommer aufgrund der Klimaanlagen mehr Strom verbraucht, oder eine grosse Familie hat einen höheren Verbrauch als eine einzelne Person, die häufig ausgeht. Deshalb wurden in den letzten Jahrzehnten die komplizierten mathematischen Formeln der theoretischen Modelle grob an diese Beobachtungen angepasst. Multiplikationen und Divisionen können jedoch nur schwer mit der immer kleiner werdenden Fehlermarge des heutigen Energiemarktes mithalten. Aus diesem Grund hat sich Siemens an Alippi gewandt, um künstliche Intelligenz ins Spiel zu bringen. Die aktuellen Zähler, die in der Pilotstadt Arbon in den Haushalten installiert sind, sind so genannte“smart meter” die den Energieverbrauch im Minutentakt ablesen. Diese anonym gesammelten Daten werden von einer künstlichen Intelligenz verarbeitet, die auf der Grundlage historischer Daten neue Modelle zur Vorhersage des Verbrauchs der Nutzer entwickelt.

Die wichtigste Innovation, die Cesare Alippi und sein Forschungsteam hervorgebracht haben, ist die Vernetzung der Verbraucher untereinander. «Wenn wir uns in einem sozialen Gefüge befinden, ist eines der Schlüsselelemente das Gefüge selbst, d. h. die Menschen beeinflussen sich gegenseitig, haben Bindungen und Verbindungen, z. B. Freundschaften und berufliche Interaktionen», erklärt Professor Alippi. Durch den Vergleich von Daten verschiedener Nutzer kann die künstliche Intelligenz ihr Vorhersagesystem verfeinern. Alippi erklärt begeistert: « Wenn man diese Abhängigkeiten zwischen den Daten ausnutzt, stellt man fest, dass die Modelle, die dann den Konsum am nächsten Tag vorhersagen können, sehr viel genauer sind». Die Studien, die unter Wahrung des Datenschutzes durchgeführt werden, zielen ausschliesslich auf die Schätzung des kollektiven Verbrauchs ab und werden dazu beitragen, die Effizienz von intelligenten Städten (smart cities) zu verbessern.

SONNENKOLLEKTOREN - Auf der anderen Seite der Energiekette ist es ebenso wichtig, die Produktivität der Ressourcen im Voraus berechnen zu können, vor allem wenn diese von externen Akteuren abhängig sind, wie im Fall der Sonnenkollektoren. Wenn man weniger Energie produziert als auf dem Markt verkauft wird, ist man gezwungen, sie zuzukaufen, meist aus nicht erneuerbaren Quellen. Wird hingegen mehr produziert als erwartet, führt dies zu Umsatzeinbussen und damit zu einem wirtschaftlichen Verlust. «Ein Erzeuger kann je nach seiner eigenen Einschätzung eine angemessene Menge an erneuerbarer Energie auf dem Markt anbieten», fasst Alippi zusammen. «Gleichzeitig kann dadurch der Verbrauch fossiler Energie reduziert werden». Aus diesem Grund hat sich das multinationale Energiehandelsunternehmen DXT Commodities mit Sitz in Lugano an Cesare Alippi gewandt, um das Problem mit Hilfe von künstlicher Intelligenz anzugehen. Auch dies geschieht mit Hilfe des maschinellen Lernens, das oft mit dem englischen Begriff“machine learning”. bezeichnet wird. Die Maschine vergleicht grosse Mengen historischer Daten von Wetterstationen und Sonnenkollektoren, um festzustellen, wie viel Energie an einem Tag auf der Grundlage des vorangegangenen Zeitraums produziert wurde. Sobald die mathematische Beziehung zwischen diesen Variablen feststeht, kann der Computer das Gelernte anwenden und auf der Grundlage der verfügbaren Wetter- und Elektronikvariablen die Leistung der Sonnenkollektoren für jeden Tag vorhersagen. «All diese Forschungen zielen darauf ab, die Marktdurchdringung des Unternehmens zu verbessern, haben aber auch wichtige Auswirkungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit» so der Forscher.

SCHÄDLINGSBEKÄMPFUNG - Grün ist aber nicht nur die Energie, sondern auch die Landwirtschaft. In Zusammenarbeit mit Agroscope, einer eidgenössischen Forschungsanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, hat sich Cesare Alippi dem Kampf gegen den Popillia Japonica angeschlossen, einen kleinen Käfer aus Japan, der seit 2014 die Kulturen im Tessin und in Norditalien bedroht, vor allem die Reben. Behörden und Landwirte müssen dringend seine Verbreitung verstehen, um Eindämmungsstrategien umsetzen zu können. Bei dem vor einigen Monaten erfolgreich abgeschlossenen Projekt wurde der Käfer mit Pheromonen und Licht in kleine Fallen gelockt, die über das gesamte Gebiet verteilt waren. Versteckte Kameras in den Fallen übermitteln die Bilder an einen Computer, der dank einer vom IDSIA-Team entwickelten Software schnell und zuverlässig die Form des Insekts erkennt. «Anschliessend wird das Vorkommen des Tieres kartiert und es können Vorhersagemodelle über seine Verbreitung in der Schweiz in das System eingespeist werden, um dann gezielte Interventionsmassnahmen zu aktivieren. Aber das war die Aufgabe von Agroscope, wir haben uns auf die Bildanalyse konzentriert», sagt der neu ernannte wissenschaftliche Leiter.

GRUNDLAGENFORSCHUNG - Mit diesen erfolgreichen Projekten sind die wissenschaftlichen Interessen von Cesare Alippi nicht erschöpft. Er investiert viel Energie in Projekte der Grundlagenforschung, wie es der natürlichen Neigung des Fachbereichs Informatik der USI entspricht. Zwei weitere wichtige Forschungsbereiche betreffen die Nutzung künstlicher Intelligenz in physikalischen Geräten wie Maschinen und die theoretischen Modelle für maschinelles Lernen im Falle eines sich im Laufe der Zeit verändernden Prozesses. Die von Cesare Alippi entwickelten Algorithmen lernen die Gesetze von Natur und Technik aus zahlreichen Beispielen, ohne dass wir genau wissen, wie. Der Lernprozess ist dem eines Kindes, das beobachtet, lernt und wiederholt, verblüffend ähnlich. Auch wenn viele Aspekte der künstlichen Intelligenz aufgrund ihrer unausweichlichen "Macht", beängstigend sind, müssen wir bedenken, dass es an uns, der Gesellschaft, liegt, sie zum Guten zu erziehen. Diese Projekte zur ökologischen Nachhaltigkeit sind ein elegantes Beispiel dafür, wie dies durch die Verbindung wirtschaftlicher und sozialer Interessen erreicht werden kann.