Innovative Verfahren

Rekonstruktion der Wirbel: 500 Eingriffe und eine positive Bilanz für die Technik ’made in EOC’

Freitag, 20. Oktober 2023 ca. 4 Minuten lesen In lingua italiana
Alessandro Cianfoni, Leiter der Neuroradiologie am Regionalspital Lugano (Foto: Loreta Daulte)
Alessandro Cianfoni, Leiter der Neuroradiologie am Regionalspital Lugano (Foto: Loreta Daulte)

Viel weniger invasiv als herkömmliche Systeme, ermöglicht sie die Verstärkung beschädigter Wirbel von innen. Allerdings erstatten die Krankenkassen die Kosten nicht in ausreichendem Masse. Dazu der Erfinder Alessandro Cianfoni
von Michela Perrone

Wirbelbrüche stellen eine grosse klinische Herausforderung dar, vor allem wenn Patienten mit Osteoporose oder Wirbelknochenneoplasien betroffen sind. In diesen Fällen ist der Wirbel geschwächt und gibt strukturell nach, so dass in einigen Fällen eine Operation zur Stabilisierung der Wirbelsäule erforderlich ist. Zu den neuen Techniken zur Behandlung dieser komplexen Frakturen gehört die Wirbelsäulentechnik SAIF (Stent-Screw-Assisted Internal Fixation), ein innovativer Ansatz mit äusserst vielversprechenden Ergebnissen.

Diese am Ente Ospedaliero Cantonale (EOC) entwickelte Technik zielt darauf ab, den Wirbel mittels einer Prothese im Inneren des Wirbels selbst zu rekonstruieren, die die Belastung der Wirbelsäule besser tragen und ihre Beweglichkeit erhalten kann. Im Gegensatz dazu steht der Ansatz der klassischen Chirurgie, bei der – wie Alessandro Cianfoni, Leiter der Neuroradiologie am EOC, erklärt - «der beschädigte Wirbel mit einer starren Metallbrücke an anderen Knochenelementen befestigt wird, was die Beweglichkeit einschränkt und einen grösseren Eingriff bedeutet». Oft ist ein chirurgischer 360°-Ansatz erforderlich, um den Wirbelkörper zu entfernen und zu ersetzen. «Das klassische Verfahren ist ziemlich invasiv», fährt Cianfoni fort, «mit einer erheblichen Komplikationsrate, vor allem bei anfälligen Patienten, wie älteren oder krebskranken Menschen. Die Alternative, um die Belastung der Wirbelsäule zu vermeiden, besteht darin, die Patienten für einen langen Zeitraum ins Bett zu legen. Wir wissen jedoch, dass dies bei empfindlichen Patienten schwerwiegende Folgen haben kann, und eine solche Massnahme garantiert nicht unbedingt die Genesung».

Um eine Lösung für dieses Problem zu finden, hat Cianfoni die SAIF-Technik entwickelt: «Wir können sagen, dass wir eine Art knöchernenStahlbeton” verwenden», erklärt er. «Durch zwei kleine 5 mm lange Hautschnitte führen wir Kanülen, die ähnlich gross wie Nadeln sind, in die gebrochenen Wirbelkörper ein». In den Kanülen wird das transportiert, was für den Aufbau des Gerüsts benötigt wird: kleine Metallzylinder, die, sobald sie sich im verletzten Wirbel befinden, geöffnet werden und ein Gerüst bilden. Dieser “Käfig” wird dann mit kleinen Schrauben verbunden und mit Knochenzement, einem Harz mit knochenähnlichen Eigenschaften, gefüllt.

«Der Wirbel wird von innen rekonstruiert, so dass eine stabile und funktionelle Struktur entsteht, die in der Lage ist, die Belastung einer geschädigten Knochenstruktur zu tragen, ohne die Beweglichkeit einzuschränken», fährt Cianfoni fort. «In der Regel kann der Patient nach ein paar Stunden wieder gehen». Der Eingriff wird tageschirurgisch oder mit einem kurzen Krankenhausaufenthalt in der Neurochirurgie durchgeführt.

Das Verfahren wird seit einigen Jahren angewandt, und es ist nun möglich, eine erste Bilanz zu ziehen: «Seit wir 2019 die Ergebnisse der ersten Studien zu dieser Technik veröffentlicht haben, wurden mehr als 500 Patienten auf diese Weise behandelt», so der Chefarzt. «Es handelt sich um ein Verfahren mit einem Komplikationsrisiko von etwas mehr als 1 Prozent: Blutungen, Infektionen oder Auslaufen von Zement aus dem Wirbel. In den ersten Minuten hat das Harz nämlich die Konsistenz von Zahnpasta und kann aus einem stark angegriffenen Wirbel auslaufen».

Wirbelsäulenoperationen sind besonders heikel, da die Wirbelsäule nicht nur das Gewicht des Körpers trägt, sondern auch das Rückenmark schützt, das für das reibungslose Funktionieren des Nervensystems sorgt.

Die in Fachkreisen sehr erfolgreiche Technik wird inzwischen auch in anderen Krankenhäusern in der Schweiz und in Frankreich angewandt und hat das Interesse anderer europäischer und amerikanischer Zentren geweckt. Trotz der beträchtlichen Vorteile der SAIF-Technik konnte jedoch noch kein entsprechender Kostenerstattungscode vereinbart werden: «Es handelt sich um ein Nischenverfahren», sagt Cianfoni, «das zwar etwa ein Zehntel der Kosten einer herkömmlichen Operation kostet, aber teurer ist als eine herkömmliche Zementoplastik, d. h. eine Verstärkung des Wirbels allein durch Injektion von Knochenzement (bei der nicht das gesamte für SAIF erforderliche Material verwendet wird). Ausserdem erfordert eine Zementplastik weniger Zeit und Fachwissen als die am EOC entwickelte Technik. Der wirtschaftliche Aspekt», so Cianfoni weiter, «spricht eindeutig gegen ihre Anwendung, da das Krankenhaus bzw. der Arzt selbst die nicht anerkannten Kosten zu tragen hat».
Bei der Tageschirurgie wird das Material in der Schweiz von der Krankenkasse bezahlt. Allerdings wird der Chirurg für einen solchen Eingriff so bezahlt, als würde er eine intramuskuläre Injektion vornehmen... «Leider», so Cianfoni abschliessend, «handelt es sich um einen Teufelskreis: Die Technik wird nicht angewandt, weil sie zu teuer ist, so dass sie sich nicht verbreitet. Aber gleichzeitig ist es selten, dass ein Gesundheitssystem einen Erstattungscode für ein Verfahren bereitstellt, das in einigen wenigen Zentren durchgeführt wird».