herz

Raum für Gendermedizin: Nicht immer sind an Männern untersuchte Therapien für Frauen geeignet

Montag, 8. März 2021 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Derzeit läuft am Istituto Cardiocentro Ticino (Herzzentrum) eine von Susanna Grego und Elena Pasotti koordinierte Untersuchung. Nicht nur das Geschlecht, sondern auch die soziale Rolle muss für eine gezielte Abstimmung des Diagnose- und Therapieverlaufs berücksichtigt werden
von Valeria Camia

Seit circa drei Jahren ist im Tessin «Die Gendermedizin und die Wissenschaft der Unterschiede» aktiv, eine Initiative, die von Medizinern verschiedener Fachbereiche ins Leben gerufen wurde, vereint von dem Vorhaben, Kollegen und Patienten für ein eigentlich einfaches, aber nicht banales Konzept zu sensibilisieren: Die biologischen und genetisch bedingten Unterschiede (Geschlecht) sind nicht gleichzusetzen mit denen, welche durch die Gesellschaft selbst zugewiesen werden (Gender bzw. soziales Geschlecht). Diese Aufmerksamkeit für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und gender-spezifische Unterschiede wird erst seit kurzem auf breiter Ebene in der Medizin diskutiert und ist Gegenstand einer laufenden Untersuchung am Herzzentrum in Lugano, unter der Führung von Frau Doktor Susanna Grego und Frau Doktor Elena Pasotti, Klinikleiterin und Leiterin der Abteilung für Kardiologie.

«In der Diagnose und klinischen Forschung – so Frau Doktor Grego – wurde dasselbe Schema, das zur Erkennung der Symptome bei den Männern verwendet wurde, auch auf die Frauen angewandt. Heute wissen wir jedoch, dass die Krankheiten, auch Herzgefässerkrankungen, je nach Geschlecht unterschiedlich auftreten können. Und wir wissen auch, dass die soziale Rolle den Verlauf der Erkrankung beeinflusst. Am Herzzentrum haben wir mit der Erfassung und Auswertung statistischer Patientendaten mit besonderem Blick auf Geschlecht und Gender begonnen. Das ist nicht nur wichtig, um die Programme, das Serviceangebot und die Forschungsrichtung abzustimmen, sondern auch um korrekt, angemessen und individuell über die Therapien zu informieren und zu kommunizieren».

Frau Doktor Grego, können Sie uns näher erklären, wie Sie vorgehen?

«Gemeinsam mit Frau Doktor Pasotti haben wir mit einer präzisen Evaluierung des Zustroms von Frauen und Männern mit kardiologischen Problemen an unserem Zentrum begonnen mit dem Ziel, die Gender-Frage aus Sicht der Diagnose zu vereinheitlichen (und die Variable Gender sozusagen zu entfernen), um bestimmen zu können, ob die Herzprobleme bei einem Geschlecht überwiegen. Unser Territorium bietet durch die geografische Lage in einem geschlossenen Becken und einer auch numerisch wohl definierten Bevölkerung die Möglichkeit, den Ursprung von Herzinfarkten und anderer kardiologischer Probleme umfassend zu beobachten. In diesem Sinne möchten wir die Personen geschlechterspezifisch behandeln, was auch bedeutet, die unterschiedlichen Reaktionen auf Medikamente und die Verfahren im Allgemeinen bei Männern und Frauen zu berücksichtigen». 

Können wir noch einen Schritt zurückgehen und näher erklären, was man in der Gendermedizin genau unter «Geschlecht» und «Gender» versteht? Umgangssprachlich werden beide Begriffe nämlich häufig miteinander gleichgesetzt.

«Die „Gendermedizin“, wie sie in der Regel genannt wird, auch wenn ich den Anglizismus sex and gender medicine bevorzuge, ist eine Ausrichtung der Medizin, die sich mit den Unterschieden zwischen den biologischen Geschlechtern (sex) und den sozialen Geschlechtern (gender) befasst und wie diese beiden Einheiten, die das menschliche Wesen prägen, miteinander interagieren. Das Geschlecht definiert die Merkmale eines Lebewesens im Hinblick auf seine Geschlechtschromosomen. Alle Vorgänge in der medizinischen Forschung (an Geweben, Zellen, Tieren, Menschen) sind geschlechtsbezogen, befassen sich also mit den biologischen und genetischen Merkmalen der Person. Der Begriff „Gender“ hingegen ist viel komplexer: Er stammt aus dem Lateinischen, von Genus ab, und bezeichnet den Sinn der Herkunft, der Verwandtschaft, der Familie und konfiguriert derzeit allgemeiner „Mann“, „Frau“ und die gängigen Gender-Definitionen. Auf die Menschen angewandt, bezieht sich Gender auf die soziale Einbindung der Personen in dreifacher Hinsicht: wie man sich selbst in der Gesellschaft sieht (Geschlechtsidentität), wie die anderen uns sehen (Geschlechternorm) und wie wir uns mit den anderen in Beziehung setzen (Geschlechterrelation). Das Forschen und Behandeln mit Gender-Perspektive bedeutet also, eine Gleichbehandlung und paritätischen Zugang zur medizinischen Versorgung zu garantieren, damit er angemessen ist und die biologisch und genetisch bedingten Unterschiede (Geschlecht) ebenso berücksichtigt wie die sozial zugewiesenen Unterschiede (Gender)».

Welche Folgen hat die lange Zeit vorherrschende Sicht der Ärzte, nach der die Frauen den Männern biologisch und physiologisch betrachtet im Wesentlichen gleichen?

«Bis zu den Neunziger Jahren wurden klinische Studien an homogenen männlichen Testgruppen vorgenommen – kaukasisch, ähnlicher Körperbau, vergleichbarer Background (Beschäftigung bei der Bahn oder beim Militär). Auf diese Weise aber hat die Forschung eine deutlich männliche Konnotation angenommen. Einerseits hat das Ignorieren weiblicher Testgruppen bei der Erprobung von Arzneimitteln vermieden, sich mit der Wirkung der Hormone und ihren Zyklen auseinanderzusetzen. Andererseits hat die Nicht-Berücksichtigung des Genders verhindert, dass man der Krankheit einen angemessenen Schweregrad zuordnet, und viele typisch weibliche medizinische Erscheinungen wurden als atypisch beschrieben, schlichtweg weil dieselben männlichen Aspekte für sie nicht zutreffend waren».

Was bedeutet es für die Kardiologie, dass Geschlecht und Gender nicht als wesentliche und separate Komponenten gesehen wurden?

«Im Bereich der Kardiologie kommt es zu häufig vor, dass die von den Frauen beschriebenen Symptome (wie der Brustschmerz oder die Müdigkeit) fälschlicherweise ohne eine präzise Diagnose für Gastritis oder sogar für Angstsyndrom und depressive Störungen gehalten werden, einzig und allein basierend auf Stereotypen, die das Ergebnis einer ungleichen Medizin sind. Das kommt vor allem bei jungen Frauen noch vor der Menopause vor, da man davon ausgeht, dass die Östrogene auf jeden Fall vor kardiovaskulären Erkrankungen schützen – auch wenn wir heute wissen, dass dem nicht wirklich so ist. Generell kann man sagen, dass die Östrogene die Frau in der Fortpflanzungsphase „schützen“, aber die Frau im sozialen Sinn des Begriffs kann Risikofaktoren (z.B. dem Rauchen) ausgesetzt sein oder sich diesen selbst aussetzen, gegen die selbst die Östrogene machtlos sind. Die kardiovaskulären Erkrankungen gelten noch immer vorwiegend als ein Männerproblem und die Frauen werden auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen einfach weniger untersucht. Die Folge ist, dass die Krankheit von einem Teil der Bevölkerung unterschätzt wird». 

Wie ändert sich die Kardiologie, wenn man Geschlecht und Gender berücksichtigt?

«Wenn wir die Daten ansehen, dann sterben vor allem Frauen an kardiovaskulären Erkrankungen. Aus der Perspektive der Gendermedizin müssen wir uns fragen, weshalb die Sterblichkeit bei Herzerkrankungen bei Frauen höher ist als bei Männern: Gibt es biologische, mit dem weiblichen Geschlecht zusammenhängende Ursachen oder Gender-Aspekte, die sich darauf auswirken, dass die Frauen zu spät ins Krankenhaus kommen? Wir wissen, dass Frauen später zum Arzt gehen, weil sie „traditionell“ ihren Fürsorgeaufgaben nachkommen, das heisst sie kümmern sich um die Familie, die Kinder, die zur Schule gebracht werden müssen, den Haushalt und so weiter. Zum Arzt gehen sie erst, nachdem diese (und andere) Haushaltspflichten erledigt wurden. Oder aber gibt es Gesellschaften, in denen die Patienten im Vergleich zu anderen Gesellschaften oder Territorien besonders häufig von Herzerkrankungen betroffen sind? Eine vor kurzem erschienene kanadische Studie zeigt, dass die Person, welche (unabhängig vom Geschlecht) der Fürsorgerolle im Haushalt nachkommt, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einer rezidiven (wiederholt auftretenden) kardiovaskulären Erkrankung leidet. Daraus kann man schlussfolgern, dass die Ärzte bei der Beurteilung der Schwere der Herzerkrankung nicht nur das Geschlecht, sondern auch das Gender berücksichtigen sollten, da Ungleichheiten in der Gesundheit eng mit anderen Ungleichheiten verbunden sind. 

Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern Das Foto vergrössern


Warning: Undefined variable $relatedCount in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 417
Lies auch dieses: Ein Marker für die Entdeckung (und Vermeidung) der Herzschäden durch das Coronavirus
Tags:
Cardiocentro (Herzzentrum)
Warning: Undefined array key "role" in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 436
Gendermedizin
Warning: Undefined array key "role" in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 436