Pionierforschung

Neue Grünflächen? Sie müssen überall geschaffen werden - sogar auf den Dächern von Gebäuden

Sonntag, 12. März 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
(Zeichnung von Marco Galli)
(Zeichnung von Marco Galli)

An der Akademie für Architektur in Mendrisio werden fortgeschrittene Studien zum sogenannten „Climate Urbanism“ durchgeführt, einer neuen Methode zur Planung der städtischen Umwelt unter Berücksichtigung der Klimakrise. Wir haben mit Professor Jonathan Sergison darüber gesprochen
von Elisa Buson

Das Klima ändert sich, und unsere Städte? Man braucht sich nur die Wetterberichte und Energierechnungen anzusehen, um zu verstehen, dass das Thema uns direkt betrifft und nicht mehr aufgeschoben werden kann. Das hinter uns liegende Jahr 2022 war mit einer Durchschnittstemperatur von 1,6 Grad über dem Normalwert das wärmste und sonnigste Jahr seit Messbeginn in der Schweiz. Die drei aussergewöhnlichen Hitzewellen des vergangenen Sommers führten zu einem Anstieg der Zahl der Besuche in der Notaufnahme: Es genügte nicht, die Klimaanlagen rund um die Uhr einzuschalten, was nicht nur die Treibhausgasemissionen, sondern auch die Stromrechnung erhöhte. Es ist abzusehen, dass sich dieses Szenario 2023 wiederholen wird, zumal die Strompreise für die Haushalte - wie zumindest von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom) prognostiziert - stark ansteigen werden. Der sogenannte „Climate Urbanism“, eine neue Methode zur Planung der städtischen Umwelt unter Berücksichtigung der Klimakrise, kann einen wichtigen Beitrag leisten, um diesen Dominoeffekt zu stoppen. An dieser Pionierforschung sind auch Experten des Instituts für Stadt- und Landschaftsplanung ISUP (Istituto di studi urbani e del paesaggio) der Akademie für Architektur der Università della Svizzera Italiana (USI) in Mendrisio beteiligt.

«Es ist offensichtlich, dass sich die Erderwärmung auf unsere Städte auswirkt», so Jonathan Sergison, ordentlicher Professor an der USI und Leiter des ISUP. «Jeder, der im Tessin lebt oder arbeitet, wird nicht nur festgestellt haben, dass die sommerlichen Temperaturen sehr hoch sind, sondern auch, dass die Hitze und Trockenheit erhebliche Auswirkungen auf die Landschaft haben: Es war ein Schock, zu sehen, wie sich die Blätter der Bäume bereits im Juli und August verfärbten. Diese Entwicklung ist nicht nur im Kanton, sondern in ganz Europa - einer der am stärksten vom Temperaturanstieg betroffenen Regionen der Welt - zu beobachten. Das Problem ist, dass unsere Städte nicht auf eine solche Entwicklung vorbereitet sind».

Architekten und Stadtplaner, die sich mit der Planung von Gebäuden und ganzen Stadtvierteln befassen, stehen somit vor einer nie dagewesenen Herausforderung. Der Bausektor ist nämlich für ein Drittel des weltweiten Energieverbrauchs sowie für nahezu 40 Prozent der direkten und indirekten Kohlendioxidemissionen verantwortlich, was ihn - wie auch die Internationale Energieagentur anmerkt - zu einem der Hauptverursacher des Klimawandels macht. «Wir müssen die Gebäude der Zukunft unter Berücksichtigung ihrer Umweltbilanz planen und Massnahmen zur Verbesserung der Qualität unserer Städte erarbeiten», erklärt Sergison.

Ein Blick auf das, was im Rest der Welt passiert, kann sowohl Anregungen als auch neue Ideen liefern, die auch im Tessin angewendet werden könnten. Aus diesem Grund hat das ISUP in den letzten Monaten ein internationales Symposium organisiert, an dem Experten aus unterschiedlichsten Ländern (von Italien bis Brasilien, von Frankreich bis Indonesien, von Israel bis Puerto Rico) darüber berichteten, wie ihre Städte auf diesen epochalen Wandel reagieren. Dieser Rahmen bot den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich nicht nur über vorbildliche Beispiele wie den berühmten begrünten Wohnkomplex „Bosco Verticale“ (dt. „Vertikaler Wald“) in Mailand auszutauschen, sondern auch über Probleme, die im „alten“ Europa weit verbreitet sind, wie z. B. die Schwierigkeiten, mit denen man in München im Rahmen einer wirklich intelligenten und nachhaltigen Gebäudesanierung konfrontiert ist. «Wir wollten dieses Fenster zur Welt öffnen, da wir sehr wohl von den Erfahrungen anderer Länder lernen können, auch wenn die Antwort auf den Klimawandel stets standortspezifisch ist: Das, was in der Wüste Israels getan wird, kann natürlich nicht ohne Weiteres in München oder in Bellinzona angewendet werden», betont Sergison. «Auch aus diesem Grund arbeitet Julian Raffetseder, ein junger Doktorand, an unserem Institut an einer konkreten Fallstudie der Grossstadt Wien, die in den kommenden Jahren mit einer Tropikalisierung des Klimas konfrontiert sein wird. Wir sind gespannt, im Rahmen dieser Forschungsarbeit herauszufinden, wie die Gebäude der Stadt Wien auf den sich bereits vollziehenden Wandel reagieren können. Wir haben das Glück, mit Professor Sascha Roesler eine Autorität auf dem Gebiet des Climate Urbanism an unserem Institut zu haben».

An der Akademie für Architektur in Mendrisio gibt es zwar bereits einige Kurse, die sich mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Stadt, Klima und Architektur befassen, aber «in Zukunft wird das Thema im Rahmen unserer akademischen Aktivitäten immer präsenter sein, da die Studierenden erkannt haben, dass der Klimawandel die grösste Herausforderung ist, mit der sie sich als Architekten auseinandersetzen werden müssen», bemerkt der Leiter des ISUP. Auch aus diesem Grund werden die alten Zeichenmaschinen neuen Instrumenten wie den Big Data sowie digitalen Modellen weichen müssen: Dies zeigen die Aktivitäten des Observatoriums für Raumentwicklung OST (Osservatorio dello sviluppo territoriale), einer Forschungseinheit der Akademie für Architektur, die seit 2007 im Bereich der Raumbeobachtung und Geoinformation tätig ist. Das zur wissenschaftlichen Unterstützung der Aktivitäten der Abteilung für Raumentwicklung des Baudepartements gegründete (und durch einen vierjährigen Leistungsauftrag zwischen dem Kanton Tessin und der USI finanzierte) OST entwickelt Indikatoren, Methoden und GIS-Modelle für die Raumanalyse. All diese Elemente könnten sich im Hinblick auf eine klimafreundliche Neugestaltung des Tessins als äusserst nützlich erweisen. Doch nach welchen Leitlinien soll dieser Wandel erfolgen?

«Erstens müsste man die Ausdehnung der Städte über die aktuellen territorialen Grenzen hinaus begrenzen», erläutert Sergison. «Zweitens wäre es angesichts der übermässigen Abhängigkeit des Tessins von Autos mit fossilen Brennstoffen erforderlich, alternative Mobilitätssysteme näher in Betracht zu ziehen. Und drittens müsste man zum Schutz der wunderschönen Landschaft des Kantons die problematische Vorgehensweise überdenken, mit der in den letzten 30 Jahren in den städtischen Randgebieten grosse Bauwerke nach schlecht koordinierten städtebaulichen Plänen errichtet wurden.» Nach Auffassung des Architekten kann man sich genau in diesen Stadtteilen Veränderungen am leichtesten vorstellen.

Die Priorität muss darin bestehen, mehr Grünflächen zu schaffen, «unter anderem auf den Gebäuden selbst, wie zum Beispiel auf den Dächern: Bisher wurde ihr Potenzial höchstens zur Energieerzeugung mittels Solarzellen genutzt. Ich bin der Meinung, dass man sie begrünen sollte, um die Hitze besser zu bewältigen, CO2 zu absorbieren sowie Insekten, Vögeln und anderen Tierarten neue Lebensräume zu sichern», so Sergison weiter.

Dringender Handlungsbedarf besteht auch bei der Verbesserung der Energieeffizienz des Gebäudebestands. Dies bedeutet nicht nur, neue Gebäude nach den höchsten Standards zu errichten, wie der Experte bemerkt, «sondern vor allem, bestehende Gebäude zu erhalten und ihre Leistung zu verbessern. Angesichts der Tatsache, dass seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit mehr Gebäude errichtet wurden als in der gesamten Menschheitsgeschichte, haben wir als Architekten dafür zu sorgen, dass bestehende Bauwerke so weit wie möglich genutzt werden.» Grünes Licht also für Massnahmen wie Wärmedämmverbundsysteme zur Fassadendämmung sowie die Installation von Solarzellen und den Austausch alter Türen, Fenster und Heizkessel. «Es handelt sich um einfache Massnahmen, die allerdings nicht universell anwendbar sind - sowohl aus Gründen des Denkmalschutzes als auch aus Kostengründen. Was den letzten Aspekt betrifft - so Sergison abschliessend -, wären staatliche Massnahmen wünschenswert, wie z. B. der in Italien eingeführte „Superbonus“, der Haus- oder Wohnungseigentümern, die nicht über die nötigen Mittel verfügten, um ihre Immobilien zu renovieren und energetisch zu verbessern, als finanzielle Stütze diente. Meiner Meinung nach wäre dies eine gute Möglichkeit, öffentliche Gelder zu investieren, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Erderwärmung zu extremen Wetterereignissen führt, die weitaus kostenintensivere Schäden mit sich bringen können».