Musik-Effekt in Seniorenheimen: Freude, aber auch Forschung

Projekt «Art for Ages», koordiniert von Paolo Paolantonio (Konservatorium Lugano), in Zusammenarbeit mit dem Seniorenkompetenzzentrum und dem Royal College of Music in London. Beteiligt sind 60 Bewohner aus Tessiner Seniorenheimenvon Elisa Buson
Angela, 83 Lenze, hat keine Zweifel: «Wenn man Lieder hört oder selber singt, dann fühlt man sich jünger, lebendiger». Auch Ingrid ist mit ihren stolzen 95 Jahren der Meinung, «dass es dem Geist gut tut: Für mich bedeutet Musik Leben!». Carla hingegen, mit 75 Jahren ein «junges Mädchen», meint, dass «man sich beim Musizieren besser kennenlernt, man hat eine gemeinsame Verbundenheit». Und Angela, Ingrid und Carla wissen, wovon sie reden, gehören sie doch zu den Bewohnern von vier Seniorenheimen, die von den Noten von «Art for Ages» verwöhnt und verzaubert wurden. Ein Forschungsprojekt, das speziell darauf ausgerichtet ist, die Musik zu den besonders schwachen Senioren zu bringen. Das Projekt wurde im Rahmen des Siebten Forschungsschwerpunktes der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) durch die Unterstützung der Gebert Rüf Stiftung von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Konservatoriums der Italienischen Schweiz und des Seniorenkompetenzzentrums, gemeinsam mit dem Royal College of Music in London, verwirklicht.
Die Ergebnisse waren so positiv, dass sie «bald Gegenstand einer wissenschaftlichen Veröffentlichung sein werden», wie Paolo Paolantonio, Kontrabassist und Forscher am Konservatorium sowie Doktorand am Royal College of Music, erläutert. Zwischen Proben, Auftritten und Unterricht befasst sich Paolantonio seit Jahren mit der Planung und Gestaltung sogenannter «Community Music» Aktivitäten, um die Musik von der Bühne herab und mitten unter die Leute zu bringen. Sein Motto? Wenn du aus sozio-ökonomischen oder gesundheitlichen Gründen nicht als Zuhörer zu mir kommen kannst, dann komme ich und spiele ich bei dir.
Das Projekt «Art for Ages» Schau in die Galerie (3 foto)
«Mit „Art for Ages“ haben wir rund sechzig Bewohner aus vier Seniorenheimen im Alter von 72 bis 95 ins Boot geholt», erzählt der Forscher. Von 2015 bis 2017 hatten sie die Möglichkeit, wöchentlich Besuch von Studenten des Konservatoriums mit ihren Instrumenten zu erhalten, um gemeinsam zu singen und zu spielen. Diese Treffen haben nichts mit Konzerten im herkömmlichen Sinn zu tun, da sie der Interaktion zwischen Musikern und Senioren viel Raum geben. Es handelt sich nicht um Musikunterricht, da das Erlangen und Überprüfen spezifischer Kompetenzen nicht das Hauptziel ist. Und auch nicht um Musiktherapie, da die angebotenen Aktivitäten nicht auf den therapeutischen, sondern den ästhetischen Wert des angebotenen
Repertoires ausgelegt sind.
«Den Ausgang machte die klassische Musik, aber wir haben auch Jazz, Liedermacher, Musik aus aller Welt aufgenommen, um alle anzusprechen und zu involvieren», erklärt Paolantonio, der die begeisterten Kommentare der Teilnehmer persönlich sammelte.
«Die Erfahrung hat sich positiv auf das Wohlbefinden ausgewirkt und Freude, Dankbarkeit und Erwartungen hervorgerufen, da die Musik als etwas Wertvolles und Interessantes angesehen wird, ungeachtet des musikalischen und kulturellen Backgrounds des Einzelnen», betont der Forscher. Durch Refrains und Melodien wurden in den Teilnehmern persönliche Erinnerungen geweckt, vor allem aber haben sie sich mit ihrer eigenen Identität und ihren Erlebnissen auseinandergesetzt. «Manche Musikbegeisterte hatten die Möglichkeit, die Emotionen der Konzerte aufleben zu lassen, die sie früher immer besucht haben, andere hingegen, die vielleicht nur wenig mit Musik zu tun hatten, konnten sich an Ausschnitte des Familienlebens zurückerinnern, zum Beispiel an Lieder, die ihnen die Mama vorsang, als sie noch kleine waren».
Gleichzeitig haben sich die Treffen als Gelegenheit des Lernens erwiesen: Zum Erlernen eines Instruments trotz der körperlichen Behinderung, zum Entdecken neuer Komponisten und Stücke, für ein tieferes Verständnis des Gehörten. Ausserdem hat das Programm die zwischenmenschlichen Beziehungen gefördert: «Wir haben eine verstärkte Interaktion zwischen den Bewohnern der Seniorenheime beobachtet. Für sie waren die musikalischen Treffen Anlass, sich kennenzulernen, sich zusammenzufinden und sich zu unterhalten», betont Paolantonio. «Zudem waren die Treffen generationenübergreifend, wobei die Studenten des Konservatoriums nicht nur als hochgradige Künstler wahrgenommen wurden, sondern auch als nette Menschen, die den Senioren Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Es war in vielerlei Hinsicht ein wahrer Austausch und demnächst veröffentlichen wir eine Studie, welche die positiven Auswirkungen auch auf das Wohlbefinden der Studenten, die an diesem Projekt mitgewirkt haben, aufzeigt».
Diese so positiven Schwingungen haben Paolantonio veranlasst, ein neues Programm für Seniorenheime namens «Musica e parole» auf den Weg zu bringen, wo der Fokus auf dem Hören liegt. «Die Studenten sprechen, spielen und interagieren mit den Bewohnern, begleiten sie auf die Entdeckung ihres Instruments und ihrer Stücke und erzählen ausserdem von ihrem Alltag als Musiker. Anschliessend haben die Senioren Raum für Fragen, Kommentare, Austausch von Gefühlen und Erinnerungen, die beim Zuhören geweckt wurden», erklärt der Forscher. «Den Auftakt zu diesem Projekt machte 2018 eine Einrichtung in Lugano, und in weniger als zwei Jahren haben wir es auf verschiedenen Einrichtungen im ganzen Kanton ausgeweitet, von der Mendrisio-Gegend bis ins Leventina-Tal, und eine immer grössere Anzahl Studenten des Konservatoriums eingebunden. Sowohl in „Musica e parole“ als auch in „Art for Ages“ haben wir von jeder Struktur eine ausgezeichnete Unterstützung erhalten und die konstante Zusammenarbeit mit allen Mitarbeitern war ganz toll».
Allerdings wurde dieser Erfolg durch den abrupten, coronabedingten Stopp gefährdet. Zur Überwindung der Schwierigkeiten, die mit der forcierten Isolation einhergingen, «haben wir von Mai bis Juli die Nutzung der Videokommunikations-Plattform Zoom getestet, um mit einer Senioreneinrichtung Online-Treffen abzuhalten: Jeder interessierte Bewohner bekam ein Tablet, konnte zuhören und mit den Musikern interagieren. Klar, es war ein Kompromiss, der aber auch Vorteile offenbart hat: Zum einen konnten auch bettlägerige Senioren teilnehmen, und wir konnten auch im Ausland lebende, ehemalige Studenten mit ins Boot holen». Zwei Vorteile, die wir auch für die Zeit nach der Krise nicht aus den Augen verlieren sollten, betont Paolantonio. «Der menschliche Kontakt und das Live-Zuhören sind sicherlich das bevorzugte Format, aber ich denke, dass uns die Technologie in Zukunft behilflich sein kann, um die Musik in mehrere Einrichtungen zugleich zu bringen und Events zu erschwinglichen Kosten zu veranstalten, die andernfalls undenkbar gewesen wären». Sie wird eine Chance sein, neues Lächeln zu schenken und den Musikern ihre verdiente Rolle in der Gesellschaft zurückzugeben.