Piora-Tal

“Lebendige” Evolution im Gewässer des geheimnisvollen Gebirgsees Cadagno

Montag, 6. September 2021 ca. 5 Minuten lesen In lingua italiana

In der Zeitschrift Nature Communications die Ergebnisse einer gemeinsamen Studie des Instituts für Mikrobiologie der SUPSI, des Bremer Max-Planck-Instituts und weiterer bedeutender Einrichtungen. Die besondere Beschaffenheit des Sees ähnelt dem der Ozeane vor 2 Milliarden Jahren
von Paolo Rossi Castelli

Wer hat in der langen Evolutionsgeschichte dafür gesorgt, dass das Leben, wie wir es heute auf der Erde kennen, möglich wird, indem der in der Atmosphäre und im Wasser vorkommende Stickstoff aufgenommen wurde (als der Planet noch leer war und die Ozeane allein mit Bakterien bevölkert waren) und der Stickstoff selbst in andere Stoffe umgewandelt wurde, die dann zu den Bausteinen des Lebens (den Proteinen und den Nukleinsäuren, also der DNA und RNA) wurden? «Man dachte immer - antwortet Mauro Tonolla, Leiter des Instituts für Mikrobiologie der SUPSI und Mitglied des Zentrums für Alpine Biologie in Piora - dass die Cyanobakterien (die sogenannten Blaualgen) diesen so wichtigen, ja entscheidenden Sprung ausführten und den Stickstoff in Ammonium und andere Moleküle umwandelten, die dann über Milliarden Jahre hinweg wiederum zur Entwicklung immer komplexerer Pflanzen und anderer Organismen, auch ausserhalb des Wassers, und schliesslich des Menschen geführt haben. Aber - so Tonolla weiter - eine Studie eines internationalen Teams, dem neben der SUPSI auch das Bremer Max-Planck-Institut (Deutschland), das Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs (EAWAG) und die ETH Zürich angehören, hat eine ganz neue Sichtweise ermöglicht: Wir verdanken das Leben sozusagen auch anderen, wirklich urzeitlichen Formen anaerober Bakterien, den sogenannten phototrophen Schwefel-Purpurbakterien, die von Sulfiden lebten, dabei Sulfat und nicht Sauerstoff erzeugen und die bereits vor den Cyanobakterien in der Lage waren, die grundlegende Umwandlung des Stickstoffs zu betreiben». Die Ergebnisse dieser Entdeckung wurden in der namhaften Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Bei den Cyanobakterien handelt es sich um sehr alte Einzeller, die als erste Lebewesen in der Lage waren, durch die Energie des Sonnenlichts Wassermoleküle und Kohlendioxid in Glucose (den auch für uns wesentlichen Zucker) umzuwandeln und dabei Sauerstoff freizusetzen (sie haben also nach den vorherrschenden Theorien vor drei Milliarden Jahren den Sauerstoff in der Atmosphäre gebildet). Und sie machten, wie wir bereits erwähnt haben, noch mehr, sie konnten Stickstoff binden und verliehen der Entwicklung hin zum “höheren” Leben einen weiteren entscheidenden Schub. Andernfalls wäre es bei dem einzelligen Zustand und nur im Wasser der Meere geblieben. An all dem waren aber - nach Erkenntnissen der schweizerischen und deutschen Forscher - auch die phototrophen Schwefel-Purpurbakterien massgeblich beteiligt. Also müssen wir auch diesen Mikroorganismen dankbar sein...

«Die Schwefel-Purpurbakterien - erklärt Nicola Storelli, einer der Verfasser der Veröffentlichung in Nature Communications, der als Forscher am Institut für Mikrobiologie der SUPSI arbeitet - könnten wesentlich zur Bindung von Stickstoff in den Ozeanen der urzeitlichen Welt beigetragen haben (vor 2,5 Milliarden bis 541 Millionen Jahren). Dazu verwendeten (und verwenden) sie das Enzym Molybdän-Eisen-Nitrogenase (MoFe, nif), das als das wirksamste gilt, das in der Natur vorkommt».

Wie aber konnten das unsere Forscher Milliarden Jahre später herausfinden? Dieses Unterfangen ist ihnen gelungen, weil sie über ein natürliches Labor der ganz besonderen Art verfügen, in den Tessiner Bergen: den Cadagnosee, im Piora-Tal, auf 1921 Metern Höhe, neben dem gut ausgerüsteten Zentrum für Alpine Biologie. «Der See besteht aus zwei unterschiedlichen, übereinandergelagerten Wasserschichten, die ihn zu einem einzigartigen und extrem wertvollen Ökosystem machen - erklärt Tonolla. - Die obere Schicht besteht aus kristallklarem Schmelzwasser und ist (buchstäblich) leichter, da sie arm an Mineralien ist, während die untere Schicht von Unterwasserquellen gespeist wird, die sie mit Mineralien wie Schwefel, Calcium, Carbonat, Magnesium anreichern und dem Wasser somit eine höhere Dichte verleihen». Aus verschiedenen Gründen kommt es zu keiner Vermischung der beiden Wasserschichten. «Die obere Schicht ist reich an Sauerstoff - so Raffaele Peduzzi, Präsident der Stiftung Zentrum für Alpine Biologie - aber es mangelt an Nährstoffen, während die untere Schicht sauerstofffrei (was man in der Fachsprache als anoxisch bezeichnet) und reich an Sulfiden ist. Die als Chemokline bezeichnete Grenzschicht zwischen der oberen und unteren Schicht enthält geringe Mengen Sauerstoff und Sulfide». Und hier wurden mit ganz besonders hoch entwickelten Geräten des Max-Planck-Instituts die Protagonisten der Entdeckung gefunden und untersucht, die phototrophen Schwefel-Purpurbakterien. Lange Zeit wurde angenommen, dass diese Mikroorganismen nicht in der Lage seien, Stickstoff zu binden, da sie dazu Molybdän benötigen, was im Cadagnosee aber nur in geringen Mengen vorkommt. «Wirklich erstaunlich - so Nicola Storelli weiter - war die Feststellung, dass dieses Enzym trotz der geringen Konzentration an Molybdän im Cadagnosee, genau wie im Ozean des Proterozoikums (der Ozean vor 2 Milliarden Jahren), dennoch aktiv war».

Diese Entdeckungen sind nicht nur für die Fachwelt wertvoll, sondern regen uns alle zum Nachdenken an, die wir zu häufig vergessen, wie lang und komplex der Weg des Lebens bis zum Menschen war. Ohne die “Arbeit” mikroskopischer Algen und urzeitlicher Bakterien, die um die Existenz kämpften, als es in der Atmosphäre noch keinen oder kaum Sauerstoff gab, wären auch wir heute nicht auf der Erde

In gewisser Hinsicht kann man diese Reise der Evolution nachverfolgen, wenn man sich von der der tiefsten Schicht bis zur Oberfläche des Cadagnosees begibt... Ein mikrobielles Eldorado, wie es Professor Tonolla nennt. Ein geheimnisvoller und wunderbarer See, der auch heute mit seinem ausserordentlichen Reichtum an Mikroorganismen das Leben bereichert. Das ist auch der Grund für den enormen Fischreichtum des Cadagnosees: 27 Kilogramm pro Hektar und Jahr (so lautet die Masseinheit). Bei weitem mehr als normale Seen, die auf dieser Höhe nur 6 oder 7 Kilo hervorbringen.

Tags:
Evolution
Warning: Undefined array key "role" in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 438
Mikrobiologie
Warning: Undefined array key "role" in /data/virtual/wwwscienza/public_html/news.php on line 438