Langlebigkeit

Länger und gut leben? Man muss auf seinen Körper achten, aber auch das Sozialleben pflegen

Samstag, 26. August 2023 ca. 8 Minuten lesen In lingua italiana
(Foto Shutterstock)
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Zwei Foren mit internationalen Experten, bei Bios + (Bellinzona) und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, die sich mit dem wichtigen Thema des gesunden Alterns befassen. Weiterführende Studien in Tessiner Instituten
von Simone Pengue

 

In den frühen 1900er Jahren, also vor einem Jahrhundert, lag die durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz bei nur 50 Jahren. Heute liegt sie bei weit über 80 Jahren, wobei das Tessin mit 85,7 Jahren den höchsten Wert in Europa aufweist (laut dem europäischen Statistikamt Eurostat). Dieser an sich sicherlich positive Umstand birgt jedoch auch eine Grauzone, denn in vielen Fällen geht der Anstieg der Lebenserwartung in Wirklichkeit mit einer Zunahme der Leiden einher, die mit Krankheiten verbunden sind, die vor allem ab dem 70. Lebensjahr auftreten, wie Krebserkrankungen, neurodegenerative Krankheiten (Parkinson und Alzheimer), chronische Entzündungskrankheiten, die für die älteren Menschen, ihre Familien und auch für die öffentliche Hand grosse Schwierigkeiten mit sich bringen (nach verschiedenen Schätzungen konzentrieren sich 70-80 Prozent der Krankenversicherungsausgaben auf die letzten fünf Lebensjahre).

«Wir müssen biologische Prozesse stoppen, bevor sie zu Krebs und anderen altersbedingten Krankheiten führen», bestätigt Andrea Alimonti, Leiter der Forschungsgruppe Molekulare Onkologie am IOR in Bellinzona. «Nur so können wir die durchschnittliche Lebenserwartung und gleichzeitig die Lebensqualität verlängern und das Paradoxon überwinden, das immer deutlicher zutage tritt: In den reichsten Ländern ist es der Medizin gelungen, die durchschnittliche Lebenserwartung zu verlängern, aber in vielen Fällen hat sie dies durch die Chronifizierung von Krankheiten erreicht und damit das Leiden und die damit verbundenen Probleme verlängert. Wir müssen es besser machen und von der Behandlung der negativen Symptome, die durch das Altern und die damit verbundenen Krankheiten verursacht werden, zu den zugrunde liegenden Mechanismen übergehen».

Alimonti ist einer der Koordinatoren eines wissenschaftlichen Forums, das am 31. August in Bellinzona von der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung in Lugano und Bios + (dem Verband, der das IOR und das Institut für Biomedizinische Forschung (IRB) zusammenführt) zu eben diesen Themen veranstaltet wird. Die Konferenz mit dem Titel “New Frontiers in biological and environmental determinants of aging” (Neue Grenzen der biologischen und umweltbedingten Determinanten des Alterns) findet um 14.00 Uhr am Sitz von Bios + in der Via Francesco Chiesa 5 statt. An der Konferenz nehmen international anerkannte Experten wie Guido Kroemer, Professor an der medizinischen Fakultät der Universität Paris-Cité, Thomas Rando, Direktor des Broad Stem Cell Research Center an der Universität von Kalifornien (Los Angeles), und Andrew Steptoe, Leiter der Abteilung für Verhaltenswissenschaften und Gesundheit am Institut für Epidemiologie und Gesundheitswesen des University College London (UK), teil. Der Eintritt ist frei. Sie müssen sich lediglich online über die Website der IBSA Foundation oder von Bios+ anmelden.

Am darauffolgenden Tag, dem 1. September, nehmen Kroemer und Rando an einem zweiten Forum (“Culture and Longevity”), teil, diesmal in Zürich, das von der IBSA-Stiftung und der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) organisiert wird. Das Treffen findet um 13.30 Uhr an der Gloriastrasse 37, im Zentrum-Campus-Gebäude ETA, statt. Marc Schulz, Professor für Psychologie am Bryn Mawr College (USA), und Jessica Bone, Forscherin für Statistik/Epidemiologie am UCL Institute of Epidemiology and Health Care, werden ebenfalls sprechen.

DIE PSYCHOLOGISCHE EBENE - Während der beiden Foren werden nicht nur biologische Mechanismen diskutiert. Auch der psychologischen und sozialen Sphäre, die - wie eine zunehmende Zahl von Studien zeigt - bei der Entwicklung (oder Verlangsamung) von Alterungserscheinungen eine grosse Rolle spielt, wird viel Raum gewidmet.

Insbesondere Marc Schulz wird sich mit diesen Fragen befassen und die Ergebnisse der Harvard Study of Adult Development, vorstellen, ein Programm, an dem er als stellvertretender Direktor beteiligt ist. Diese Studie ist eine der beeindruckendsten, die jemals über den Zusammenhang zwischen geistiger und körperlicher Gesundheit durchgeführt wurde: Sie wurde 1938 begonnen und hat Tausende von Teilnehmern während ihres gesamten Lebens einbezogen (und tut es noch immer) und liefert wertvolle Informationen. «Die Harvard-Studie», so Schulz, «hat gezeigt, wie wichtig soziale Beziehungen sowohl für das Glück als auch für die allgemeine körperliche Gesundheit sind». Die Forscher beobachteten vor allem einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Qualität der sozialen Beziehungen um das fünfzigste Lebensjahr herum und der Lebensqualität jenseits der achtzig. Stabile und liebevolle Beziehungen führen zum Beispiel im Durchschnitt zu einer geringeren Abnahme der kognitiven Funktionen im späteren Leben.  

Das Problem der Beziehungen zu anderen Menschen (Freundschaften, familiäre und berufliche Beziehungen) ist besonders in den letzten Lebensjahren von Bedeutung, wenn, wie mehrere Studien zeigen, ein sehr hoher Prozentsatz der älteren Menschen - zwischen 25 und 50 Prozent - angibt, dass sie sich einsam fühlen. «Das Risiko medizinischer Probleme aufgrund von Einsamkeit ist vergleichbar mit dem von Rauchen und Fettleibigkeit», erklärt Schulz. Und das Fehlen von guten Beziehungen führt im “vierten Lebensalter” zu noch schwerwiegenderen Problemen, aber dieser Zusammenhang wird nicht immer in seinen gefährlichsten Aspekten erkannt. Daher ist ein echter Mentalitätssprung erforderlich: «Es ist notwendig», so Schulz, «dass jeder von uns den Beziehungen Raum und Energie widmet, und zwar mit einem ähnlichen Engagement, wie wir es bereits für die körperliche Gesundheit aufbringen, indem wir versuchen zu verstehen, was funktioniert und was nicht, und dann hart daran arbeiten, neue Beziehungen aufzubauen und alte, geschwächte zu erneuern». Aber auch die gesamte Gemeinschaft muss aktiv werden: «Wenn wir den Menschen helfen wollen, besser zu altern», fügt Schulz hinzu, «müssen wir uns mit gesellschaftlichen Fragen befassen und die Städte (Gemeinschaft und Arbeit) so organisieren, dass die Menschen mehr zusammen sein können».  

PRÄVENTION - Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Art und Weise, wie wir den Alltag in psychologischer und kognitiver Hinsicht bewältigen, mit Freundschaften und anderen sozialen Kontakten, die so erfüllend wie möglich sind, einer der entscheidenden Faktoren dafür zu sein scheint, wie es uns später im Leben ergehen wird. Aber natürlich bleiben auch alle Diskurse im Zusammenhang mit einer eher medizinischenPrävention zur Eindämmung von Krankheiten offen, die sich auf die Ernährung (die, um nur von Krebs zu sprechen, einigen Schätzungen zufolge in etwa 30 % der Fälle eine Rolle spielt), auf körperliche Bewegung, auf den Verzicht auf Risikofaktoren wie Zigaretten, Alkohol und andere Substanzen sowie auf eine Reihe von Präventivuntersuchungen beziehen. All dies im Hinblick auf einen globalen Ansatz, denn das Altern ist ein komplexes Phänomen, das auf eine vernetzte Weise angegangen werden muss. «Die Foren zielen genau darauf ab, einen Treffpunkt und den Beginn einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Fachleuten des Gesundheitswesens, Forschern und Spezialisten aus verschiedenen Bereichen zu schaffen», erklärt Silvia Misiti, Direktorin der IBSA Foundation, «damit die Langlebigkeitsmedizin als eine etablierte klinische und akademische Disziplin angesehen wird, die in der Lage ist, neue Perspektiven zum Thema Altern zu eröffnen».  

MUSKELREGENERATION - Im Rahmen der Foren werden auch einige Pionierforschungen vorgestellt, insbesondere im Hinblick auf die Muskelregeneration. Thomas Rando wird erklären, wie die äussere Umgebung oder unsere täglichen Gewohnheiten ihre Aktivität beeinflussen können. «Muskeln ersetzen ihre eigenen Zellen nicht sehr oft», erklärt Rando, «aber sie sind in der Lage, Schäden schnell zu reparieren, wenn es nötig ist, dank der Stammzellen». Diese Regenerationsfähigkeit ist bei Menschen, die sich gut trainieren (d. h. regelmässig und effektiv Sport treiben), besonders ausgeprägt, was für ältere Menschen besonders wichtig ist. Aber auch eine gute Ernährung kann dazu beitragen (ein weiteres sensibles Thema für Menschen im dritten und vierten Lebensalter, die in vielen Fällen ein schwieriges Verhältnis zum Essen haben). Eine lange Reihe von Studien, die das Team von Rando an Labortieren durchgeführt hat, hat gezeigt, dass die Stammzellen bei vollständigem Fasten oder zumindest bei einer minimalen Diät keine Reparationsleistung mehr erbringen, weil sie in eine Art Überlebensmodus (Resilienz) übergehen. «Sobald die Ernährung wieder aufgenommen wird», fährt Rando fort, «sind die regenerativen Eigenschaften der Stammzellen im Vergleich zum Normalzustand verstärkt. Und darauf läuft es immer hinaus: Ernährung und Bewegung... ».   

AUF DEM WEG ZU EINEM ZENTRUM VON NATIONALER BEDEUTUNG - Doch zurück zu den Foren. «Das Altern ist ein wichtiges Thema für die Schweizer Gesellschaft», sagt Andrea Alimonti. «Die beiden Foren sollen Gelegenheit bieten, das Thema und die neuesten Erkenntnisse nicht nur aus der Sicht der Forschung, sondern auch aus der klinischen Perspektive zu beleuchten. So läuft beispielsweise am Ente Ospedaliero Cantonale derzeit eine Studie, um die Wirksamkeit eines neuen natürlichen Medikaments zu testen, das die Alterung bei Erwachsenen verlangsamen kann. Das Tessin kann ein Kandidat sein, um in Zukunft ein Zentrum von nationaler Bedeutung für die Verflechtung von Alterung, Krebs und Immunologie sowie deren Behandlung zu werden. Dies wird die Herausforderung der nächsten Jahrzehnte sein».   

(Dieser Artikel wurde für die Kolumne Ticino Scienza der Tageszeitung LaRegione aus Bellinzona geschrieben)