WISSENSCHAFT UND KUNST

«Die künstliche Intelligenz? Vielleicht kann sie künstlerische Produkte schaffen (aber keine Kunst ...)»

Donnerstag, 8. Juli 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

Siebter Termin des LAC Lugano aus der Reihe «La Scienza a regola d’arte» (dt. Die Wissenschaft nach den Regeln der Kunst). Wir haben mit Marc Bauer gesprochen, der mit Luca Gambardella, Experte für Künstliche Intelligenz und Prorektor der USI, diskutiert hat
von Valeria Camia

Er arbeitet meist mit Graphit und Bleistift, fast ausschliesslich in monochromatischem Schwarz-Weiss; Er schafft Zeichnungen, welche die Idee der persönlichen und kollektiven Erinnerung erkunden. Dabei versucht er, für sich (und, durch Erweiterung des Horizonts, für den Betrachter) die Komplexität der Geschichte zu erfassen. Die Rede ist von Marc Bauer, einem Schweizer Künstler, der in Berlin und Zürich lebt, aber am 8. Juli nach Lugano gekommen ist als Teilnehmer am siebten Termin der Reihe «La Scienza a regola d’Arte», ausgetragen von der IBSA Foundation für wissenschaftliche Forschung und dem Museo d’arte della Svizzera italiana im LAC (Lugano Arte e Cultura). Bauer hat mit dem Wissenschaftler Luca Maria Gambardella diskutiert, der 25 Jahre das Dalle-Molle-Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz geleitet hat und heute Prorektor für Innovation der Università della Svizzera italiana ist. Eine interessante Paarung, denn auch wenn allgemein das Konzept «entweder Wissenschaftler oder Künstler» vorherrscht, so hat uns die Geschichte doch oft gelehrt, dass diese Disziplinen sehr wohl miteinander vereinbar sind: Man denke allein an Leonardo da Vinci, diesen herausragenden Künstler, der zugleich aber auch in den Wissenschaften sehr bewandert war. Und damit nicht genug. «Heute – meint Bauer – kommt ein neuer Aspekt zu dem Verhältnis des Künstlers zur Technologie hinzu: Die zentrale Frage der Wissenschaft lautet, was wir von den Maschinen lernen können. Derzeit wissen wir noch wenig darüber, wie die Maschinen lernen. Eine Frage, die mich besonders fasziniert, denn ich glaube, dass sie der Kreativität des Künstlers interessante Türen öffnen könnte, indem er sich von der Art und Weise inspirieren lässt, wie die Maschinen ihre künstlerischen Produkte schaffen.»

Künstlerische Produkte … Marc Bauer, sind Sie der Ansicht, dass auch die durch künstliche Intelligenz geleitete Technologie Kunst schaffen kann? 

«Ich glaube, dass Kunst etwas ist, das Emotionen hervorrufen und uns in die Lage versetzen kann, unsere Erfahrungen, unsere Vergangenheit und persönlichen Visionen auf das zu projizieren, was wir sehen. Gewiss kann heute auch eine Maschine zeichnen, indem sie lernt, welche Themen und Sujets ikonischer sind als andere, und somit Bilder schaffen, die schön anzusehen sind: Bilder, die man meiner Meinung nach als künstlerische Produkte betrachten kann (wie könnte man sie schliesslich alternativ bezeichnen?). Die Frage ist für mich doch eine andere: Ist das künstlerische Produkt einer Maschine ein wahres Stück Kunst? Es ist ein bisschen wie im Bereich der Schriftstellerei: Eine Maschine könnte ein Buch schreiben, und vielleicht würde beim Lesen niemand bemerken, dass es von einem Rechner „verfasst“ wurde. Könnte das Buch aber ein literarisches Meisterwerk werden? Ich bin mir da nicht so sicher. Das ist bzw. wäre der Fall, würde es die Absicht verfolgen, Emotionen hervorzurufen und wäre es nicht nur das Ergebnis einer zufälligen Folge von In- und Outputs, egal, wie gelungen es auch sein mag. Wie bereits gesagt, ich bin gespannt, wie die künstliche Intelligenz neue Ideen in die Produktion künstlerischer Darstellung bringt, aber ich bin mir nicht so sicher, dass sie die Kunst mit neuen Bedeutungen bereichern kann.»

Sie haben bedeutende Auszeichnungen erhalten, wie den GASAG Kunstpreis 2020 und den Prix Meret Oppenheim 2020, den wichtigsten Kunstpreis der Schweiz. Wie hat dieser Werdegang begonnen?

«Ich habe etwas gebraucht, um die Kunst als Beruf zu begreifen, denn Zeichnen war für mich die natürlichste Sache der Welt. Seit ich klein war, schuf ich anhand von Zeichnungen Geschichten aus dem, was ich erlebt oder gelesen hatte, aus meinen Erinnerungen. Meine Eltern fanden das toll, also war ich zufrieden ...»

Man erwartet, dass Ihre Kunstwerke unmittelbar sind, so, als würden sie die natürliche Vertrautheit reflektieren, die Sie seit Kindesbeinen im Umgang mit dem Bleistift haben ...

«Ich werde oft gefragt, wie ich zu zeichnen beginne. Tatsächlich steckt hinter jeder Zeichnung, abgesehen von der Intuition, die ich aus meiner Umgebung ziehe (ein Song, ein Buch, ein politisches Ereignis, eine Emotion), viel Recherche und Dokumentation über das Thema, das ich als Gegenstand für mein Kunstwerk gewählt habe. Erst, wenn ich glaube, genug gelernt zu haben, denke ich darüber nach, wie mein Beitrag zu diesem Thema aussehen könnte: Dann tauche ich ein in meine Arbeit, versuche, mich von meiner aktuellen Situation zu abstrahieren und mich mit den Ideen aus dem angeeigneten Wissen zu umgeben. Schritt für Schritt beginne ich, Punkte und Linien zu vereinen, der Zeichnung Sinn zu geben und ein eigenes Narrativ zu verleihen. Erst dann konzentriere ich mich auf die Details und spezifischeren Elemente. Die Inspiration für die Bilder, die sich in meinem Geist formen, beziehe ich, wie bereits gesagt, aus Filmen, Prosa, Poesie, aber auch aus meiner persönlichen Geschichte, die ich in mir trage.»

Können Sie uns ein Beispiel dafür nennen, wie die persönliche Erinnerung im kreativen Prozess eine Rolle spielt?

«Nehmen wir meinen Grossvater väterlicherseits, den ich nie kennengelernt habe. Ich habe oft darüber nachgedacht, was für ein Mann er war, und dabei die Erzählungen meines Vaters mit Bildern aus alten Familienalben verknüpft. So begann ich, seine Geschichte zu zeichnen, die ja auch meine Geschichte ist, und darüber nachzudenken, wie die Tatsache, unter gewissen Umständen und zu einer gewissen historischen Zeit geboren zu sein, unser Sein ebenso beeinflusst wie die Geschehnisse in der Welt, auch wenn sie scheinbar weit von uns entfernt sind. Vergangenheit und Gegenwart stecken in all meinen Zeichnungen. Die Linien, mit denen ich das Werk begonnen habe, lasse ich ganz bewusst sichtbar: Ich mag es, dass man erkennen kann, wie sich die Idee entwickelt hat, dass die fertige Zeichnung eine eigene Geschichte und Erinnerung hat.»

Ist die Tatsache, dass Sie in Schwarz-Weiss zeichnen und somit an alte Fotografien der Vergangenheit erinnern, ein Zeichen für Ihr Interesse an der Erinnerung?

«Zum Teil. Ich finde Farben nicht besonders ästhetisch und gleichzeitig zu kräftig, um Bedeutungen zu vermitteln. Wenn wir uns beispielsweise einen Raum vorstellen, dann macht das einen enormen Unterschied, ob wir ihn in grün, gelb oder rot sehen. Die Farbe ändert und beeinflusst die Interpretationen der Bilder, stört die Erinnerungen, die wir an sie haben – so, als würden wir ins blendende Sonnenlicht blicken. Ausserdem kann ich bei der Arbeit mit dem Bleistift in Schwarz-Weiss jene Kontraste kreieren, die in der Lage sind, den Faden der Erinnerung zu aktivieren, ohne dabei meiner Meinung nach Farbzusätze zu benötigen.»

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