SATW

Jagd auf Spitzentechnologien (und wie sie wachsen oder “sterben”)

Samstag, 16. Dezember 2023 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana
(Foto Shutterstock)
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Der "Technology Outlook 2023" der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften, der auch in Lugano vorgestellt wurde, zeigt eine Karte der innovativsten Forschungstrends im Tessin und im Rest der Eidgenossenschaft
von Simone Pengue

Die Zahl der Unternehmen mit Spitzentechnologie in der Schweiz ist kaum zu beziffern. Nicht zuletzt, weil laufend neue entstehen. Wer Investitionen tätigen oder politische Strategien ausarbeiten muss, läuft Gefahr, die Orientierung zu verlieren, aber in einem solchen Wettbewerbsumfeld sind Fehler nicht erlaubt. Um dies zu beheben, hat die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW)  unter dem Namen Technology Outlook 2023 einen Wegweiser zu den Technologien der Zukunft erstellt. Dieser Bericht über zukunftsweisende Technologien wurde in den letzten Wochen an drei “Vernissagen” vorgestellt, eine für jede der wichtigsten Landessprachen, und die italienische fand am 16. November auf dem Campus Ost der USI/SUPSI statt.

Bei dieser Gelegenheit konnte das Publikum einer Debatte zwischen den Professoren Luca Gambardella (USI-Pro-Rektor für Innovation) und Emanuele Carpanzano (SUPSI-Forschungsdirektor), USI-Ratspräsidentin Monica Duca Widmer und innovationsorientierten Unternehmern wie Giuseppe Perale (Executive Vice-President von IBI SA), Tiziano Serra (Gründer von mimiX Biotherapeutics) und Samantha Paoletti (Forschungsleiterin am CSEM) beiwohnen. Die Diskussion über den Beitrag, den Wirtschaft und Politik zur technologischen Entwicklung leisten können, zeigte, dass «Innovation am ehesten am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen entsteht», erklärte Monica Duca Widmer. «Die Politik», fügte sie hinzu, «muss den Forschenden die besten Rahmenbedingungen bieten, um ein wirklich innovationsfreundliches “Ökosystem” zu schaffen».

Die SATW ist in unserem Land das grösste Netzwerk, das Unternehmen, Hochschulen und Politik im Bereich der technologischen Innovation verbindet. Alle zwei Jahre beschreibt der Technology Outlook die Technologien, die in den nächsten drei bis fünf Jahren die Industriekonstellationen in der Schweiz bevölkern werden. Claudia Schärer, Leiterin des Bereichs Foresight bei der SATW und Leiterin des Projekts Technology Outlook, fasst die Rolle des Dokuments gegenüber Ticino Scienza mit den Worten zusammen, es sei «ein Reiseführer in die Welt der Technologien von morgen». In der Tat wird es nicht als Buch veröffentlicht, in dem die Technologien Seite für Seite angeordnet sind, sondern als interaktive Karte, mit der man sich im Schweizer Innovationsraum orientieren kann.

Der Technology Outlook ist online unter technology-outlook.ch auf Deutsch, Englisch und Französisch verfügbar, während auf Italienisch nur eine Kurzversion, das Management Summary, vorliegt. Wir von Ticino Scienza schätzen die derzeitigen Bemühungen, möglichst viele Sprachgemeinschaften zu erreichen, und wünschen uns, dass künftige Ausgaben des Technology Outlook auch eine vollständige Version auf Italienisch enthalten, um einen breiteren und umfassenderen Zugang zu ermöglichen.

In der Karte - oder besser gesagt im “Diagramm” - gibt es zwei Koordinaten: wirtschaftliche Bedeutung und Forschungskompetenz. «Die beiden Grössen sind miteinander verbunden: Ohne Forschung gibt es kein Produkt und damit keine Einnahmen, aber ohne Einnahmen kann man auch nicht forschen!», kommentiert Claudia Schärer. Unten links im Diagramm finden wir die Hoffnungen, d.h. die Bereiche, für die es noch keinen grossen Markt gibt, wie Biokunststoffe, Roboterchirurgie oder autonome Fahrzeuge. Weiter oben sehen wir die Nischenprodukte, bei denen es zwar ein hohes Mass an Know-how, aber noch keine grossen Absatzmengen gibt. Hier findet man z. B. die künstliche Photosynthese zur Erzeugung von Wasserstoff und Kohlenwasserstoffen aus der Sonne. Dem diametral gegenüber stehen die Erfolge, d. h. Sektoren, in denen die Forschung zwar noch nicht besonders weit entwickelt ist, die aber bereits beträchtliche Einnahmen generieren, wie z. B. die Quanten- und Post-Quantum-Kryptographie oder kohlenstoffarmer Beton. In der rechten oberen Ecke finden wir schliesslich die Stars, d. h. die Produkte, in die zwar viel Forschungsarbeit investiert wird, die aber gleichzeitig bereits beträchtliche Geldströme einbringen, wie z. B. die Photovoltaik, alternative Proteinquellen und Point-of-Care-Tests (diagnostische Tests, die direkt am Behandlungsort des Patienten durchgeführt werden).

Die Technologien bewegen sich innerhalb dieses konzeptionellen Raums von einer Ausgabe des Technologieausblicks zur nächsten. «Quanten- und Post-Quanten-Kryptographie, alternative Proteinquellen und Point-of-Care-Tests», sagt Claudia Schärer, «sind im Vergleich zu 2019 auf die rechte Seite des Diagramms gesprungen, was auf eine Zunahme ihrer wirtschaftlichen Bedeutung hinweist». In den kommenden Ausgaben werden also viele “Stars” verschwinden, weil sie ausreichend ausgereift und marktreif sein werden, während andere, die jetzt noch zu unreif sind, um in die industrielle Welt einzutreten, unter den “Hoffnungsträgern” erscheinen werden.

Um in den Bericht aufgenommen zu werden, müssen die Technologien nach internationalen Standards zwischen dem Technologiereifegrad 4, d.h. “laborvalidierte Technologie”, und dem Reifegrad 7, der der “Vorstellung eines Prototypsystems in einer betrieblichen Umgebung” entspricht, liegen.     

Um die Innovationen zu bestimmen, auf die sie sich konzentrieren wollen, begannen Claudia Schärer und die beiden anderen Mitautoren, Stefan Scheidegger und Christian Holzner, ihre Arbeit anderthalb Jahre im Voraus, indem sie Kommentare von öffentlichen und privaten Stellen sammelten und analysierten, die eine Art “Vorhut” der SATW bilden. Insbesondere für die Ausgabe 2023 stützten sie sich auf Interviews mit 183 Experten aus 89 Institutionen.

Auf diese Weise konnten Claudia Schärer und ihr Team zu jeder Innovation im Diagramm eine ausführliche Beschreibung verfassen, so dass die Informationen auch für Nicht-Experten auf Knopfdruck verfügbar sind. Der Technologieausblick wird in die Hände derjenigen gelangen, die in Universitäten, kleinen und mittleren Unternehmen und Gemeinden strategische Entscheidungen zu treffen haben. Kurzum, diejenigen, die heute die Weichen für die kommenden Jahre stellen und Ressourcen und Aufmerksamkeit auf die vielversprechendsten Gebiete lenken müssen.

Der Technology Outlook macht aber nicht an den Landesgrenzen halt, sondern versucht auch zu beobachten, wohin die Augen der Länder um uns herum gerichtet sind. Die SATW analysiert zum Beispiel die Nachrichten auf X (ehemals Twitter), um herauszufinden, über welche Themen Universitäten in Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien und der angelsächsischen Welt (UK und USA) am meisten twittern. Die Umfrage hat gezeigt, dass diese sechs Länder (und die Schweiz) das Interesse an digitalen Themen verlieren, während Energie ein Thema ist, das fast allen am Herzen liegt, und Biowissenschaften hingegen die Stichprobe spaltet.


Das Erfolgsgeheimnis der Schweiz, so Claudia Schärer, sei ein kleines Umfeld mit einer Fülle von produktiven Forschern in jedem Wissenschaftszweig, was «zur Bildung von interdisziplinären Teams zwischen Hochschulen, Krankenhäusern und Unternehmen beiträgt», präzisiert sie. Vergleiche zwischen verschiedenen Bereichen, wie Medizin und Informatik oder Drohnen und Landwirtschaft, fallen leicht. Gleichzeitig stellt jedoch der Ausschluss aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon eine ernsthafte Bedrohung für die Schweizer Führungsrolle dar, da er nicht nur den Zugang zu Geldern, sondern auch zahlreiche grenzüberschreitende Kooperationen verhindert.

Was unseren Kanton betrifft, so assoziiert Claudia Schärer ihn vor allem mit künstlicher Intelligenz, Robotik und Biotechnologie. «Ich glaube», sagt sie, «dass seine Zukunft hier liegen wird». Die Leiterin der SATW-Foresight-Abteilung weist darauf hin, dass der Technologieausblick nicht auf bestimmte Regionen, sondern auf die Schweiz als Ganzes abzielt, und schliesst sich denjenigen an, die die Zusammenarbeit mit dem benachbarten Italien, wie in Basel, mit Frankreich und Deutschland und in Genf mit Frankreich, als einen der Wege zum Erfolg im Tessin bezeichnen.