PERSONALISIERTE MEDIZIN

Gastroenterologie EOC-USI: Eine nagelneue Abteilung, eine neue Herausforderung

Freitag, 18. September 2020 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Andrea De Gottardi, neuer Chefarzt, beschreibt die klinische Aktivität und die Forschungstätigkeit, die im Bereich der Erkrankungen von Magen, Darm und Leber aufgenommen wird: Fortschrittliche Diagnostik und Techniken
von Agnese Codignola

«Wir haben grosses Glück, dass wir ein wichtiges Unterfangen für das Tessiner Gesundheitswesen praktisch aus dem Nichts aufbauen dürfen. Es bedeutet eine Riesenmenge Arbeit, vor allem aber können wir von Anfang an jedes Glied in der Kette so gestalten, dass es für die Grundsätze, an denen wir uns orientieren, und für Lehren der modernsten Medizin funktional ist». So wird die neue Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie des EOC von ihrem Chefarzt Andrea De Gottardi präsentiert, der zugleich auch mit denselben Fächern ordentlicher Professor an der neuen Fakultät für biomedizinische Wissenschaften der Università della Svizzera italiana ist.

De Gottardi ist gebürtiger Tessiner, der in Europa studiert hat. Nach dem Medizinstudium in Lausanne und Heidelberg hat er seine Fachausbildung für innere Medizin und Pharmakologie am Inselspital Bern sowie für Gastroenterologie und Hepatologie in Genf und Barcelona vollendet, um dann für rund zehn Jahre nach Bern zurückzukehren. Jetzt macht er aus seiner Begeisterung keinen Hehl, insbesondere wegen der vielen Neuerungen rund um die neue Fakultät der USI und alles weitere, was sich daraus kaskadenartig ergeben hat: Eine neue Abteilung, internationale Kooperationen, Studenten, Doktoranden, Forschungsprojekte, der Anspruch, ebenso gute Medizin zu bieten wie andere geschichtsträchtigere und konsolidiertere Zentren.

Genauer gesagt lässt sich die Tätigkeit von De Gottardi und seinem Team in drei eng miteinander verknüpfte Bereiche gliedern: Klinik, Forschung und Didaktik. «Aus klinischer Sicht – erklärt er – deckt die Abteilung alle Hauptsparten der Gastroenterologie und Hepatologie ab, angefangen bei der diagnostischen und eingreifenden Endoskopie des oberen und unteren Verdauungstrakts und bei der Behandlung chronischer entzündlicher Krankheiten des Darms durch Immunmodulation. Aber wir arbeiten auch im Bereich der Hepatologie mit den Hauptkrankheiten der Leber und der Behandlung von Patienten nach einer Transplantation. Und schliesslich befassen wir uns mit der funktionalen Gastroenterologie. Im Team – so De Gottardi weiter – gibt es auf jedes dieser Fachgebiete spezialisierte Ärzte und Pflegekräfte, um das Maximum zu geben, das die Medizin heute interdisziplinär zu bieten hat, wobei die Abteilungen für Medizin, Chirurgie, Nephrologie, Onkologie, Anästhesie und Intensivmedizin eng miteinander verknüpft sind».

Schau in die Galerie Schau in die Galerie Andrea De Gottardi, Chefarzt der neuen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie des Ente Ospedaliero Cantonale sowie ordentlicher Professor an der Università della Svizzera italiana Schau in die Galerie (3 foto)

In einer neuen Abteilung arbeiten zu können, so De Gottardi, bedeutet zugleich eine natürliche Kontinuität mit der klinischen Forschung, denn das, was man untersucht, kann gegebenenfalls an den Patienten nachgewiesen werden. Das betrifft beispielsweise die immer grösser werdende Rolle der künstlichen Intelligenz. «Bisher – so De Gottardi – hing das Ergebnis einer Darmspiegelung ausschliesslich von der Genauigkeit des Arztes ab, der die Untersuchung durchführte. Heute aber wissen wir, dass es zusätzlich zur kritischen Interpretation der Ergebnisse durch den Arzt hilfreich sein kann, für noch präzisere Diagnose auf Anwendungen zurückzugreifen, die beispielsweise Darmpolypen erkennen. Verknüpft man die Computerergebnisse mit unseren Interpretationen, gelangt man zweifelsohne zu noch zufriedenstellenderen Ergebnissen für den Patienten».

Und das ist noch nicht alles. Ein weiterer, vielversprechender Bereich sind die Geräte, die der Patient zur Überwachung der biologischen Parameter trägt, die sogenannten Wearables wie Uhren oder Tracking-Geräte, die nicht nur Sportler häufig verwenden. De Gottardi fährt fort: «Für jeden von uns gibt es verschiedene Parameter, welche den allgemeinen Zustand beschreiben, wie Herzschlag, Temperatur, Bewegungen, sowie andere, spezifischere Parameter. Auf diese Weise können wir Kurven zeichnen, die den normalen Verlauf abbilden und die anhand von Abweichen Aufschluss über krankhafte Situationen geben. Für die Datenerfassung vertraut die Medizin immer häufiger auch auf solche Geräte, da sie im Vergleich zu denselben Messungen, die ab und zu in der Praxis vorgenommen werden, eine engmaschigere und zuverlässigere Überwachung darstellen und von den Patienten gut angenommen werden, da sie ihre Gewohnheiten nicht ändern und für die Messungen keine Zeit opfern müssen. All das kann auch bei Personen hilfreich sein, die an chronischen Zuständen leiden und bei denen mit Komplikationen zu rechnen ist, da es uns zu einem sehr frühen Zeitpunkt, noch bevor der Patient Symptome entwickelt, das Erkennen von Gefahrensignalen, d.h. Abweichungen vom üblichen Verlauf, ermöglicht».

Und schliesslich wird die Bereitschaft der Kranken durch die Möglichkeit zur Teilnahme an klinischen Studien mit experimentellen Protokollen für innovative Therapie in enger Zusammenarbeit mit der Clinical Trial Unit des EOC valorisiert.

Zu dieser intensiven Forschungstätigkeit kommt noch die Laborarbeit, für die es im Forschungsinstitut für Biomedizin (IRB) in Bellinzona einen eigenen Bereich gibt, der in der ersten Jahreshälfte von 2021 fertiggestellt sein wird. «Im Labor – so De Gottardi – konzentrieren wir uns auf ein Thema, das heute einen zentralen Teil der Forschung einnimmt, die Darmflora, und insbesondere die Zusammenhänge zwischen Mikrobiom, Darm und Leber, auch unter Überprüfung der Diagnosemöglichkeiten in Zusammenhang mit der Dysbiose (das Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Bakterienpopulationen, Anm. d. Red.)».

Und dann gibt es noch das Unterrichten, das De Gottardi besonders am Herzen liegt, denn die jungen Leute bringen Energie und die innovativsten, interessantesten Ideen mit. Diesbezüglich erklärt er: «Derzeit bekommen wir Studenten, die ihren Bachelor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich absolviert haben, sowie einige Master-Studenten und Doktoranden. Ich bin überzeugt, dass uns die jungen Leute bei der Bewältigung unserer Herausforderung eine grosse Hilfe sind».

Mit dieser Herausforderung ist die Umsetzung der Medizin nach dem Prinzip der 4 P, also personalisiert, prädiktiv, präventiv und partizipativ gemeint. Er selbst erläutert, was damit gemeint ist. «Seit einigen Jahrzehnten und bis vor wenigen Jahren – erklärt er – basierten die Fortschritte der klinischen Medizin auf den Nachweisen der Wirksamkeit, also auf der Tatsache, dass eine gewisse Massnahme oder Therapie nur dann angewandt werden konnte, wenn ihre Wirkung in Studien nachgewiesen wurde, an denen viele Patienten teilnahmen, die hinsichtlich Alter, Geschlecht, Zustand usw. ähnliche Bedingungen erfüllten.

Dieser Grundsatz gilt sich nach wie vor, aber er hat auch seine Grenzen aufgezeigt, denn wenn die Patienten zum Arzt gehen, hat jeder seine eigenen somatischen und genetischen Besonderheiten. Ausserdem wurde das persönliche Umfeld sowie die Beziehung zwischen Arzt und Patienten zu wenig berücksichtigt. Deshalb hat man begonnen, die personalisierte Medizin (das erste P) einzuführen und man versucht, immer mehr in diese Richtung zu gehen. Das zweite P bezieht sich auf die prädiktive Fähigkeit, die wir heute haben, zum Beispiel durch die einfache Durchführung von Gentests an den einzelnen Personen oder, wie bereits erwähnt, durch die Hilfe der künstlichen Intelligenz. Daraus – so De Gottardi weiter – ergibt sich dann das dritte P, die Prävention, denn für viele Krankheiten gibt es heute Therapien oder auch nur Verhaltensweisen, mit denen sich die Erkrankung verhindern bzw. das Fortschreiten stoppen lässt. Und schliesslich das vierte, von den Patienten intensiv gefühlte, aber auch den Ärzten wichtige P: Die Partizipation. Heute informieren sich die Menschen selbstständig und haben gelernt, mit den behandelnden Ärzten ein viel dialektischeres Verhältnis zu pflegen. Das hat die Beziehung stimulierender und gewinnbringender gemacht als noch vor wenigen Jahren, als der Arzt aufgrund seines Wissens eine Art Machtposition innehatte. Es kann zu Ausschweifungen und Verzerrungen führen, aber insgesamt ist das Verhältnis viel ausgewogener und konstruktiver».

Die Tessiner Gastroenterologie durchlebt gerade einen wichtigen, anregenden Moment, von dem alle BürgerInnen profitieren werden. Im Zeichen der 4 P.

Auf dem grossen Foto oben (Agentur Shutterstock): Die Zotten, welche die Innenwand des Dünndarms bilden.

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