lingua madre

Francesco Morace: Die globale Welt hilft der «lokalen» Identität

Mittwoch, 26. Mai 2021 ca. 6 Minuten lesen In lingua italiana

von Valeria Camia

Wenn wir ein fünf- oder sechsjähriges Kind nach dem wichtigsten Körperteil fragen, das antwortet es wahrscheinlich das Herz. Der Herzschlacht verleiht uns Leben – wäre wohl die Antwort. Wenn wir einem Jugendlichen die gleiche Frage stellen, dann bekämen wir wahrscheinliche eine umfassendere Aussage: Zu den wichtigsten Organen würde auch die Lunge gezählt, deren Funktion ja de facto grundlegend für die Gesundheit des Herzens ist. Und genau dieses Bild der Beziehung zwischen Herz und Lunge, übertragen auf eine weitere Vorstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen, spielt eine wesentlichen Rolle im Denken von Francesco Morace, Soziologe, Protagonist der auf der Webseite des LAC (Lugano Arte Cultura) veröffentlichten vierten Videokonferenz über die Sprache im Rahmen des Projekts Lingua Madre (Muttersprache) in Kooperation mit Ticino Scienza. Dabei handelt es sich um keine medizinische Abhandlung, sondern um Moraces Reflexion, die das Verhältnis zwischen den lokalen Wirklichkeiten und der globalen Welt umfasst und die uns erläutert, weshalb es keinen Grund gibt, «uns vor einer Überschreitung der Grenzen zu fürchten, wenn wir unsere Wurzeln kennen. Sie sind unser Herzschlag und folglich etwas ausgesprochen Persönliches und Individuelles.»

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Francesco Morace, in Ihrem Buch «Il bello del mondo» (Egea) gibt es ein Konzept, das immer aufgegriffen wird, den genius loci, den Sie mit dem Herzschlag vergleichen und als Ausgangspunkt nehmen, um die Globalisierung neu zu bewerten, ohne sie in Widerspruch mit dem Lokalen zu setzen. Erzählen Sie uns davon.
«Den genius loci, ein lateinischer Ausdruck, der das Talent (genius) des Ortes (loci) und seine einzigartige, typische Natur bezeichnet, können wir uns als unseren Herzschlag vorstellen: Das, was uns Leben verleiht. Mit dem genius loci sind unsere Wurzeln verbunden und durch ihn lassen sich Länder, Regionen, Orte, Nationen, aber auch Unternehmen und Produkte, jeweils mit ihrer eigenen spezifischen Identität und Geschichte, definieren. Die Verbundenheit mit dem Territorium des genius loci wird häufig in Widerspruch mit dem Phänomen der Globalisierung gesetzt, die Grenzen und statische geografische oder kulturelle Definitionen öffnet oder vielmehr aufhebt. Wenn wir uns transnationale Phänomene aber wie den Rhythmus der Atmung vorstellen, dann sind das Lokale und das Globale keine gegensätzlichen Konzepte mehr, sondern beide Bestandteil unseres Biorhythmus. Man könnte sagen, dass unsere Identität ein laufendes Wechselspiel zwischen Herzschlag und Atmung ist: Das Blut, das zu unserem Herzen läuft, reichert sich durch die Atmung mit Sauerstoff an, und die Luft, die wir atmen, kommt von aussen. Projiziert man diese Metapher nun auf die globalen Phänomene, dann bieten sie eine wichtige Unterstützung für den Kreislauf dessen, was uns ausmacht, unseres genius loci».

Allerdings teilen sicherlich nicht alle die Sichtweise, dass unsere einmaligen und unnachahmlichen Eigenschaften dann überzeugend werden, wenn sie in einen weltweiten Kontext gesetzt und mit anderen Erfahrungen vermischt werden. Was antworten Sie denen, die in der Öffnung der Grenzen eine Gefahr für den genius loci sehen?
«Ich denke, dass wir nur dann wirklich Gefahr laufen, unsere Identität zu verlieren, wenn wir uns der Welt öffnen, ohne zu wissen „wer wir sind“. Der unabdingbare Ausgangspunkt für jede Reise ist das Lokale, der Ort des Herzens: Wenn wir beispielsweise unsere Geschichte und unsere Sprache kennen, können wir uns der Welt öffnen und uns Teil einer globalen Realität fühlen, die dennoch „hier“ ist – wie uns die Coronapandemie lehrt. Wer leben möchte, kann nicht auf die Atmung verzichten, genauso wie wir auf die Öffnung nach aussen nicht verzichten können. Und ausserdem muss das Verhältnis mit dem Anderen nicht immer konfliktbehaftet sein: Ich und der Andere können lernen, gemeinsam zu atmen, und bleiben doch zwei verschiedene Personen. Ein englischsprachiger Spruch lautet: „Think globally, act locally“ (global denken, lokal handeln); Ich kehre diesen Spruch um in „Think locally, act globally“, also gehen wir von unserem Denken aus, das lokal verwurzelt ist, das unserer Heimat und unseren Erfahrungen entspringt, um es dann durch unser Handeln nach aussen zu tragen. Wie gesagt, zuerst müssen wir den genius loci kennen, um ihn dann im globalen Spiel einzusetzen, indem wir reisen und uns nicht hinter Zäunen und Mauern verschliessen».

Woran erkennt man den genius loci? Erlernt man ihn, und wenn ja von wem?
«Die Bildung in der Schule und die weiterführende Bildung an Hochschulen und Universitäten, spielen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung und Valorisierung des Profils der Orte sowie ihrer historischen und geografischen Einordnung. Hinzu kommt die Erziehung – und noch mehr das Erlernen – der Einzigartigkeit des genius loci im täglichen Leben. Das betrifft den Einzelnen und berührt in der Regel auch die Welt der Betriebe und der Vereine (denken wir beispielsweise an die vielen Vereine der „italiani nel mondo“ (Italiener weltweit)): Wir alle sind dazu aufgerufen, zu verdeutlichen, wie der lokale Herzschlag die energetischen Voraussetzungen für ein beachtliches Wachstum und das Leben in einem globalen Kontext, in kontinuierlichem Austausch mit den anderen Herzschlägen, beinhaltet».

Kann man also sagen, dass die lokale Identität gerade durch die Globalisierung zum Ausdruck kommt, die Barrieren aufhebt und verschiedenen Herzschlägen die Möglichkeit bietet, sich zu erkennen und wiederzuerkennen?
«Ja, denn jeder Einzelne existiert nur in Verhältnissen und Verbindungen, ob real oder virtuell, im Netz, über digitale Geräte, in Räumen, wo wir uns zu erkennen geben und die anderen erkennen. Damit aber dieses Zusammentreffen mit dem Anderen Sinn macht, braucht es eine stabile Basis. Denn die Wiedererkennung allein reicht nicht. Es braucht Wechselseitigkeit, das heisst die Fähigkeit, mit dem Anderen Meinungen und Erfahrungen auf Augenhöhe auszutauschen, damit daraus ein offener Dialog mit dem Gegenüber werden kann. Und zum Schluss kommt die Anerkennung ins Spiel, die Dankbarkeit gegenüber dem Anderen, der mir verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt hat, all das ist eine persönliche Bereicherung. Die Herausforderung der Zukunft spielt sich also zwischen der Notwendigkeit des immer lokalen Herzschlags und der Herausforderung der Atmung ab, die von der Öffnung nach aussen lebt, um gute Luft – also Wiedererkennung, Wechselseitigkeit und Anerkennung – einzusaugen».