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Die Macht der Worte gegen die Einsamkeit und die Angst vor dem Coronavirus

Donnerstag, 16. Juli 2020 ca. 7 Minuten lesen In lingua italiana

Erfolgreicher Abschluss des Projekts der Stadt Lugano, das während des Lockdowns die Strassen und Plätze der Stadt mit violetten und orangefarbenen Plakaten bestückt hat. Fünfundvierzig Schriftsteller und Dichter haben eine Phrase gespendet
von Paolo Rossi Castelli

Orangefarbene Plakate mit violetter Schrift. Violette Plakate mit orangefarbener Schrift. Die Bürger, die mitten im totalen Lockdown, als ganz Lugano geschlossen und verlassen war, auch in den entlegensten Winkeln ihres Viertels auf diese mysteriösen «Präsenzen» stiessen, verstanden nicht auf Anhieb, worum es sich handelte. Es waren Phrasen, die von Emotionen, Hoffnungen, Fragmenten aus Träumen, Überlegungen über das Leben sprachen. Es waren «Parole che curano» (dt. heilsame Worte) seitens der Künstler der Stadt, um die Leute zu beruhigen, die sich vor dem Coronavirus fürchteten, um zu zeigen, dass die Institutionen zugegen waren und um im Geiste und mit dem Herzen den Dialog mit jenen zu suchen, die sich in dieser nie dagewesenen Notlage befanden. Ein interessantes und besonderes Projekt, das offiziell am 30. Juni zu Ende ging, wenngleich die ein oder andere orangefarbene oder violette Phrase an den Strassen und Plätzen Luganos noch zu finden ist.

«Die Kampagne wurde in der ersten Woche nach Beginn des Lockdowns gestartet – erklärt Luigi Di Corato, Leiter des Kulturamts der Stadt Lugano. – Wir haben 45 Tessiner (oder zumindest im Tessin wirkende) und Schweizer Schriftsteller, Dichter, Bühnenautoren gefragt, eine Phrase zu verfassen, die Hoffnung und Zusammenhalt vermittelt: Einfach positive Gefühle gegenüber der Zukunft und den Mitmenschen. Alle waren schnell und mit Begeisterung dabei. In drei Wochen waren die Plakate fertig. Eine weitere Woche wurde für den Druck benötigt.»

Das Projekt «Parole che curano» (dt. heilsame Worte) war Teil der grösseren institutionellen Kampagne («Lugano, la città ti è vicina», dt. Lugano, die Stadt steht dir bei), die das Rathaus angesichts des Coronavirus ins Rollen gebracht hat. Das Kulturamt hat die Schriftsteller und Dichter kontaktiert und die Phrasen ausgewählt, die in allen Vierteln verbreitet werden sollten. Das Kommunikationsamt hingegen war für die raffinierte Graphik zuständig. Und das LAC war schliesslich an der Suche nach Bühnenautoren beteiligt. «Die reale Präsenz dieser Worte, der Literatur, im gesamten Territorium – so Roberto Badaracco, Leiter des Departements für Kultur, Sport und Veranstaltungen – war auch für uns ganz wichtig, um den Menschen in einer so schweren Zeit wie der Coronakrise beistehen zu können. Also haben wir entschlossen, aussagekräftige Phrasen zu finden, die Hoffnung, neuen Lebensmut und eine positive Zukunftshaltung geben konnten.»

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Als der Lockdown begann, war Lugano wie alle anderen Tessiner Orte mit Plakaten übersät, die Dutzende Veranstaltungen unterschiedlicher Art (Konzerte, Ausstellungen, Messen, Feste) ankündigten, die dann wegen des Virus abgesagt oder auf unbestimmte Zeit verschoben werden mussten. Ein tristes Day-After-Szenario, um es mit einem Ausdruck aus der Zeit des Kalten Krieges zu verdeutlichen, gegen das man etwas unternehmen musste. «Idee und Ziel war es, die Stadt für die blockierten Bewohner „zu schmücken“ – fügt Di Corato hinzu. – Wir wollten etwas Trost spenden, aber auch eine Art Ausstellung unter freiem Himmel schaffen, zumal die Galerien und „klassischen“ Museen geschlossen waren: Keine Ausstellung aus Zeichen und Formen wie in der visuellen Kunst, sondern nur aus Worten und poetischen Bildern. Wir haben alles auf die darstellende Kraft des Wortes gesetzt, auf seine mäeutische Macht.»

Nach einer anfänglichen Perplexität haben die Bürger sehr wohlwollend reagiert. «Ja, wir haben ein ausserordentlich positives Feedback erhalten – bestätigt Di Corato. – Viele Menschen haben uns auch geschrieben, um sich zu bedanken oder um nach einer Mappe der Plakate zu fragen, weil sie befürchteten, nicht alle Phrasen lesen zu können... Das war wirklich toll: Das Projekt war für die Menschen gedacht, und von den Menschen kamen die Rückmeldungen.»

Aber haben die Worte wirklich eine so grosse Macht, auch in einer Zeit wie der unseren, in der die sozialen Medien und häufig auch der Missbrauch von Posts und Nachrichten dominieren? «Alles entspringt stets aus den Worten – antwortet Fabiano Alborghetti, Dichter, Schriftsteller, Gewinner des Schweizer Literaturpreises 2018. – Bereits seit der Antike ist die Poesie Ausdruck der Geschichte der Menschheit. Und die Worte in poetischer Form haben dank ihrer suggestiven Kraft weiterhin einen hohen Stellenwert: Sie helfen den Personen, die Wahrheit in sich selbst wiederzufinden und in sich hineinzuhören. Sie erzeugen einen Dialog zwischen der Sensibilität des Verfassers und der des Lesers. So findet der Leser auf den Seiten eines Romans oder beim „Antreffen“ eines Gedichts auf einem Plakat eine Ähnlichkeit; Und auch der Schwächste kann sagen: „Ich bin nicht allein“.» Für das Projekt «Parole che curano» hat Alborghetti eine der Hoffnung gewidmete Phrase gewählt: «La speranza, ho imparato,/ canta sempre sottovoce./ Ha un canto basso, in controluce./ Sembianze nitide e tenaci/ e guarda bene: non somiglia a tutti noi?» (dt. Die Hoffnung, das habe ich gelernt,/ singt immer leise./ Mit stillem Gesang, im Gegenlicht./ Klare und zielstrebige Erscheinungen/ und siehe da: Ähnelt sie nicht uns allen?). Eine Aufforderung, weiterzumachen, aus dem Horizont der Krise hinaus ins Morgen zu treten durch eine innere Kraft, die wir alle, wenn auch latent, besitzen. «Wir leben in dem am engsten verknüpften sozialen System der Welt – so Alborghetti weiter –, das aber in Wirklichkeit eine grosse Distanz zwischen den Menschen schafft, dem visuellen Aspekt, den Bildern einen zu grossen Stellenwert einräumt und dabei das abstrakte Denken zerstört. Wir müssen diese Form des Denkens um jeden Preis rekonstruieren: Wenn wir uns auf das beschränken, was wir sehen und keine Vorstellungskraft entwickeln, dann haben wir weder Zukunft noch Perspektive. Und hier sind wir wieder bei den heilsamen Worten und ihrer Macht.»

Für die violetten und orangefarbenen Plakaten hat Andrea Fazioli hingegen eine Phrase über den Wert des Zuhauses gewählt, die aus seinem letzten Erzählungsband stammt, aus «Il commissario e la badante», das vor kurzem beim Verlag Guanda erschienen ist: «Casa non è famiglia, non basta la famiglia, casa non è solo rifugio, sicurezza o figli da crescere. È un luogo ideale a cui appartenere; un territorio vasto, dove ci si può perdere, ma nel quale riconoscere i punti di riferimento dell’amicizia, della condivisione, della tenerezza» (dt. Zuhause ist nicht gleich Familie, die Familie genügt nicht, das Zuhause ist nicht nur Rückzugsort, Sicherheit oder Kindererziehung: Es ist ein idealer Ort, dem man angehört; ein weites Gebiet, in dem man sich verlieren kann, in dem man aber die Bezugspunkte Freundschaft, Gemeinsamkeit, Zärtlichkeit erkennt). Die Worte haben eine grosse Macht, müssen jedoch einen leichten Ton wahren, suggeriert Fazioli, um allen bis ins Herz vorzudringen. «Dem Übermass an Worten in den sozialen Medien – erklärt er – müssen wir mit Sorgfalt gewählte Worte entgegenhalten: Worte, die auf mehr Tiefe abzielen und nicht darauf, sich auf unbestimmte Weise zu verbreiten. Der Mensch braucht Geschichten, andernfalls bleibt er im „Hier und Jetzt“ stecken und an ausschliesslich primitive Bedürfnisse gebunden.» Aber konnten die kurzen Phrasen auf den Plakaten der Stadt Lugano die Menschen wirklich heilen? «Ja – antwortet Fazioli überzeugt – nach dem Wahrscheinlichkeitsgesetz. Die Worte wurden an ganz unterschiedlichen Orten verteilt und ihre Interaktion mit den Passanten erfolgte fast immer zufällig. Es haben sich also Treffen zwischen den Worten und den Lesern ergeben, die sonst nie zustande gekommen wären. Auch wenn diese Schnittpunkte manchmal „richtig“ waren und andere Male weniger passend (es gab so viele Kombinationen!), so ist der zufällige Kontakt dennoch sicher nicht effektlos geblieben, denn die Worte wirken mit der Zeit (sofern sie wirken). Wie die karstige Aktivität können sie Rost lösen und Melancholie trösten.»

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